Ex-Häftlinge erzählen: Wie schafft man es zurück in ein geregeltes Leben?

Von Iris Bonavida
Schriftgröße
Bei seinem allerersten Freigang nach elf Jahren Haft fährt Horst* in den Wald. Schon als kleiner Bub hat er gerne dort gespielt, und nach so langer Zeit musste er einfach hin. „Das wieder riechen zu dürfen“, sagt er, „war unglaublich. In diesem Moment habe ich gleich gespürt: Jeder harte Tag hat sich ausgezahlt.“
Heute kann Horst, 65, völlig frei entscheiden, wohin er zu welchem Zeitpunkt geht. An diesem Freitagnachmittag sitzt er entspannt im grünen T-Shirt im Garten der „Caritas Wege“ in Wels, in einer Laube mit Blick auf das Kräuterbeet. Direkt nach seiner Entlassung wurde er verpflichtet, für einige Zeit in einer der betreuten Wohnungen zu leben, nach insgesamt 13 Jahren Haft konnte er hier die ersten Schritte in ein geregeltes Leben setzen.
„Alles ist fremdbestimmt, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen!“
6262 Personen wurden im Vorjahr aus der Haft oder dem Maßnahmenvollzug, der Unterbringung für gefährliche Straftäter mit psychischer Erkrankung, entlassen. Staatspolitisches Ziel ist, dass sie damit nicht nur ihre Strafe abgebüßt haben, sondern auch resozialisiert werden, also in einen geregelten Alltag finden, ganz ohne Kriminalität. 18 Prozent der Menschen, die 2021 freikamen, landeten zwischenzeitlich wieder in einer Justizanstalt. Horst ist einer von denen, die es dauerhaft geschafft haben. Aber wie?
„Das Ärgste an der Haft ist: Alles ist fremdbestimmt, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen! Man verlernt das Leben. Das Essen kriegst du serviert, deine Wäsche wird abgeholt. Man kriegt mit, dass das nicht gesund ist.
Das Geheimnis, um die Haft durchzustehen, ist, alle Angebote zu nutzen. Meine Tage waren durchstrukturiert: Theater, Schreibwerkstatt, Seelsorge und Kirchengruppe. Am Samstag habe ich den Boden in der Beamtenküche auf Vordermann gebracht. Als Belohnung habe ich eine Jause aussuchen dürfen, das war wie Weihnachten für mich.
Ich hatte eine fixe Haftzeit. Wenn du dich nicht komplett gegen das System auflehnst, kannst du damit rechnen, dass ein Drittel der Strafe nachgelassen wird. Es war wichtig, dass ich in Haft etwas dazuverdienen konnte und dass das Wohnen in der ‚Caritas Wege‘ für mich nachher leistbar war. Ich bin zehn Monate lang hier geblieben. Es war eine total schöne Erfahrung, den Sozialarbeitern vertrauen zu können.
Wie viel sich in 13 Jahren getan hat, ist mir aufgefallen, als ich das erste Mal mit Bewährungshelfern einkaufen war. Da gab es plötzlich 50 Sorten Orangensaft, und ich wusste nicht, wie man an der Kassa bezahlt. Ich habe dann den Computerführerschein gemacht und mich bei einer Firma beworben. Ich habe ihnen erzählt, wo ich herkomme – ich saß wegen eines Gewaltdelikts. Die Firma wollten mir eine Chance geben, die habe ich genutzt. Ich bin bis heute dankbar dafür. Vom Verein Neustart habe ich eine Bewährungshelferin zur Verfügung gestellt bekommen, das habe ich immer als Hilfe angesehen. Vom ersten Tag an bin ich glücklich über mein neues Leben.“
„Ich wusste, ich habe nicht alles verloren, das ist meine Chance!“
Es ist der erste Tag nach Ahmads Urlaub, sein erster Urlaub überhaupt, und er hat sich schon seine Arbeitshandschuhe übergestreift, um im Lager loszulegen. Ein paar Wochen zuvor bat ihn sein Vorgesetzter ins Büro, nicht um ihn zu tadeln, sondern um ihn auf seinen Urlaubsanspruch hinzuweisen. Ahmad war völlig überrascht, sicherte sich mehrmals ab, dass er sich wirklich bezahlt freinehmen durfte. Für Ahmad, 29, ursprünglich aus Afghanistan, war Urlaubsanspruch völlig neu.
Es ist auch der erste Job, den Ahmad in Österreich hat. Seit zweieinhalb Jahren arbeitet er in dem riesigen Secondhand-Shop Carla Nord der Caritas in Wien-Floridsdorf. Dienstbeginn ist um 9 Uhr, Ahmad kommt aber jeden Tag freiwillig eine Stunde früher, um sicherzugehen, dass im Eingangsbereich alles hübsch hergerichtet ist.
Das ist sein Leben heute. Vor knapp zwei Jahren saß Ahmad noch in Haft, schon zum zweiten Mal.
„Ich bin mit 13 Jahren als unbegleiteter Minderjähriger nach Österreich gekommen. Drei Jahre lang war ich brav, aber dann habe ich angefangen, Scheiße zu bauen. Ich habe Drogen genommen und verkauft. Mit 18 wurde ich das erste Mal verhaftet, aber nur für eineinhalb Monate. Daraus habe ich nicht gelernt. 2020 wurde ich wieder verhaftet. Im Knast dachte ich, ich habe alles verloren. Aber dann hat mich meine Freundin angerufen und gesagt, dass ich wieder Vater bin, es ist mein drittes Kind. Ich wusste, ich habe nicht alles verloren, das ist meine Chance!
Ahmad, 29
Schon als Freigänger während der Haft begann AHmad in dem Second-Hand-Shop Carla Nord der Caritas zu arbeiten, mit Erfolg – heute ist er dort fix angestellt.
Ich habe eine Drogen- und Psychotherapie gemacht und durfte als Freigänger arbeiten. Weil ich in Afghanistan Schneidern und Teppichknüpfen gelernt habe, bin ich zu Carla Nord gekommen. Am Anfang war es sehr schwer für mich. Es gibt so viele Regeln, so viele verschiedene Menschen. Aber ich habe gemerkt, hier bekomme ich wirklich eine zweite Chance. Am Tag nach meiner Entlassung habe ich sofort weitergearbeitet. Ich wollte keine Pause dazwischen, sonst wäre ich vielleicht in mein altes Leben zurückgefallen. Zuerst war ich Transitarbeiter, ein Projekt für Langzeitarbeitslose beim AMS. Nach sechs Monaten haben sie hier zu mir gesagt: Sie kämpfen für mich, wenn ich brav bleibe. Und ich breche mein Wort nicht.
Ich wurde fix angestellt. Ich reinige Möbel, ich restauriere sie, ich achte darauf, dass die Ware geordnet ist. Ich mache eigentlich alles. Jetzt war ich das erste Mal in meinem Leben auf Urlaub. Das waren die schönsten Tage in meinem Leben, es hat sich wie eine Belohnung für mich angefühlt.
Was ich jemandem raten würde, der in einer Situation wie in meinem früheren Leben ist? Nur nicht aufgeben. Wenn es Carla nicht gegeben hätte, wüsste ich nicht, wo ich jetzt wäre. Ich habe mich zweimal wie ein Versager gefühlt, aber dann habe ich eine Chance bekommen und sie genutzt.“
„Planen ging für mich nicht“
Lisa Leeb ist Leiterin der „Caritas Wege“ in Wels, sie hat hier einige Männer kommen und gehen sehen, nicht nur Horst. Die Wohnbetreuung werde immer wichtiger: „Früher waren die Menschen durchschnittlich zwei, drei Jahre hier, mittlerweile sind es drei bis fünf Jahre.“ Das Ansparen für Kaution und Miete wird immer schwieriger. 190 Euro kostet ein Zimmer mit Küche, alles inklusive. „Viele schätzen hier auch die Sicherheit, die wir ihnen bieten, und dass sie nicht einsam sind.“ Hier bekommen alle eine Chance. So wie Horst hat auch Karl* sie erfolgreich genutzt. Mittlerweile ist er hier nur noch Gast.
„Ich hatte eine Strafe von 22 Monaten und bin am Ende zwölf, 13 Jahre im Maßnahmenvollzug gesessen. Erst sobald sie befinden, dass du nicht mehr gefährlich bist, kommst du raus. Einmal hat der Gutachter gesagt, meine Gefährlichkeit ist noch vorhanden, einmal der Richter, und so bin ich länger gesessen, als es meiner Meinung nach Sinn hatte. Planen ging für mich nicht. Jetzt haben sie den Maßnahmenvollzug zum Glück reformiert. Nach der Haft habe ich alle Unterstützung bekommen, die ich gebraucht habe. Ich hatte Glück, dass ich direkt hierherziehen konnte. Am Anfang war die Umstellung in den Alltag schwierig. Das technische Zeug ist nicht meins. Jetzt ist alles digitaler, auch die Jobbewerbungen. Zum Glück wurde mir hier geholfen.
Es ist nicht leicht am Jobmarkt. Du musst ja erklären, warum du so lange nicht gearbeitet hast. Mein jetziger Arbeitgeber sagt aber: Solange ich mich eingliedere und jetzt alles in Ordnung ist, interessiert ihn meine Vergangenheit nicht. Für mich war es wichtig, nicht in meinem Heimatort zu leben, wo mich alle kennen.
Ganz habe ich noch nicht meine Ruhe, circa alle sechs Wochen treffe ich meinen Bewährungshelfer. Aber ich habe einen Job und eine eigene Wohnung, es ist ein Neustart.“
„Der Tag nach der Entlassung? Hip Hip Hurra!“
Irgendwo in Oberösterreich öffnet ein Pensionist die Tür für profil und seine Betreuer von Neustart. Der Verein bietet Bewährungs- und Resozialisierungshilfe für Straffällige an, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begleiten ehemalige Häftlinge nach ihrer Entlassung. Der Mann bietet Wasser an, spricht mit seiner Bewährungshelferin über ihren nächsten Termin. Um seine Anonymität zu schützen, möchte er nur wenige Details zu seiner Person preisgeben. Er will aber erzählen, wie es ihm nach über einem Jahrzehnt hinter Gittern ging.
„Am besten beschäftigt man sich schon während der Haft damit, wie es nach der Entlassung weitergeht. Das hat mir am meisten geholfen. Verschiedene Dinge sind notwendig, um den Boden für danach aufzubereiten. Ich habe in der Haft immer viel gearbeitet. Man muss anerkennen, dass man am kürzeren Ast sitzt. Ich musste die Zeit halbwegs vernünftig für mich selbst nutzen, da ist dann der Selbsterhaltungstrieb aktiv geworden, sonst überlebt man das auch nicht!
Während meiner gesamten Haftzeit hatte ich eine sehr umfangreiche Korrespondenz mit vielen Studienkollegen und Freunden, die mich auch besucht haben. Wenn ich darüber nachdenke, wie schlecht ich bei der Gerichtsverhandlung und in den Monaten danach beinand war – da hat jeder Brief, jeder Besuch, den ich bekommen habe, dazu beigetragen, dass es mir besser ging.
Bei einem meiner Freigänge habe ich auf der Anschlagstafel der Gemeinde gesehen, dass Wohnungen zu vergeben sind. Ich wusste, zeitlich und finanziell geht es sich für mich aus, und habe darum angesucht. Ich hätte wirklich nie damit gerechnet, dass ich sie bekomme, umso schöner war es dann.
Wie der erste Tag nach der Entlassung war? Hipp, hipp, hurra! Ich konnte die Wohnung schon beziehen, auch wenn es an vielem gefehlt hat. Mithilfe von Freunden hab ich alles dafür hergerichtet, dass ich schlafen kann, dann sind wir ins Wirtshaus gegangen. Ich hätte es sicher nicht so leicht gehabt, wenn ich irgendwohin gezogen wäre, wo mich niemand kennt. Das wird sehr häufig gemacht und wurde mir auch von einigen empfohlen. Ab und zu stößt man auch auf Ablehnung. Kurzzeitig ist man enttäuscht, aber man muss erwarten, dass so etwas passiert. Dann erlebt man positive Überraschungen, dass zum Beispiel jemand in einem Lokal sagt: ‚Setz dich her.‘ Die vom Staat organisierte Hilfe ist notwendig, aber ich habe nicht nur meine Bewährungshelfer, ich hab 20 andere Leut’.“
*Namen von der Redaktion geändert

Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.