Einmal IS, immer IS: Wie erfolgreich ist Deradikalisierungsarbeit?
Von Natalia Anders und Daniela Breščaković
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Sie sind alle noch Teenager. Der 19-jährige Beran A., der im Juli zuerst einen Treueschwur auf den Islamischen Staat (IS) ablegte und einen Monat später mit seinem mutmaßlichen Komplizen, dem 17-jährigen Luca K., einen Terroranschlag auf eines der Taylor-Swift-Konzerte in Wien geplant haben soll. Die 14-jährige Lejla L., die nächste Woche in Graz vor Gericht steht, weil sie vorhatte, „Ungläubige“ am Jakominiplatz zu töten. Ermittler stellten in ihrem Kinderzimmer ein Beil und ein Messer sicher. Sie soll eine Anleitung zum Bombenbau und über 4000 IS-Hinrichtungsvideos auf ihrem Handy gespeichert haben. Und dann noch Emrah I. Der 18-jährige Schütze, der vergangene Woche vor dem NS-Dokumentationszentrum in München mit einem Repetiergewehr das Feuer auf Polizisten eröffnete und bei dem Schusswechsel ums Leben kam.
Taten wie diese häufen sich. Aber warum? Was muss mit Jugendlichen passieren, damit sie sich derart radikalisieren, dass sie Menschen auf solch brutale Weise töten wollen? Welche Videos haben sie gesehen, welche Nachrichten gelesen, mit wem haben sie gesprochen und was haben sie dabei gefühlt? Schnell ist die Rede von „TikTok-Terroristen“ und „Islamismus-Influencern“, die die sozialen Medien längst erobert haben. Die Jugendlichen sind in ihre Falle getappt. Und wer einmal drinnen ist, den lässt der Algorithmus nicht so schnell wieder los. Können Eltern, Freunde und Familie überhaupt rechtzeitig reagieren?
Eine "Gratwanderung" für die Familie
Der junge Flachgauer Emrah I. aus Neumarkt am Wallersee soll zumindest den Behörden immer wieder aufgefallen sein. In der Schule griff er andere Mitschüler an, soll sich für Bombenbau interessiert haben, wurde mit der Zeit religiöser. Im Frühjahr 2023 schritt der Staatsschutz ein. Ermittler untersuchten sein Zimmer, durchforsteten Handy und Computer. Sie fanden ein Computerspiel, wo der 18-Jährige islamistische Gewaltszenen nachstellte. Doch für die Staatsanwaltschaft Salzburg war das zu wenig, um Anklage gegen ihn zu erheben. Im April 2023 wurde das Verfahren eingestellt. Nach der Tat in München reagierte die Staatsanwaltschaft mit einer Presseaussendung. Darin heißt es, die damaligen Ermittlungen hätten ergeben, „dass es sich um einen Jugendlichen mit verhältnismäßig wenig sozialen Kontakten handelte“. Auch sein Vater hätte Emrah I. als psychisch auffällig erlebt und den Kontakt zu einer Psychologin gesucht.
„Für Eltern ist es immer eine Gratwanderung. Jugendliche wollen sich in der Pubertät von ihren Eltern lösen, brauchen aber gleichzeitig noch ihre Unterstützung“, sagt Verena Fabris, Leiterin der 2014 gegründeten Beratungsstelle Extremismus. Dort werden derzeit 37 junge Frauen und Männer betreut, bei denen ein Verdacht auf islamistischen Extremismus besteht und die einen Weg raus aus den Fängen von Salafisten und religiösen Fanatikern suchen.
Verena Fabris
Sie leitet die Beratungsstelle Extremismus und weiß, mit welchen Herausforderungen die Familien zu kämpfen haben, wenn das sich eigene Kind radikalisiert: „Für Eltern ist es immer eine Gratwanderung. Jugendliche wollen sich in der Pubertät von ihren Eltern lösen, brauchen aber gleichzeitig noch ihre Unterstützung.“
Generell zeigt sich in den Einrichtungen ein Anstieg bei der Zahl der radikalisierten Jugendlichen. Zum Verein Neustart kommen verurteilte Straftäter im Rahmen ihrer Bewährungsauflage. 80 sind es zurzeit in ganz Österreich, die Hälfte davon in Wien. Das entspricht dem Hoch aus dem Jahr 2018, wie Leiter Spiros Papadopoulos erklärt: „Bei uns zeigen sich die Zahlen immer etwas zeitversetzt, weil oftmals der langwierige Gerichtsprozess oder die Haft dazwischen liegen. Das bedeutet, die verurteilten IS-Rückkehrer mussten zuerst ihre Haft absitzen, danach begann die verstärkte Deradikalisierungsarbeit.“ In der Sozialarbeit spricht man von Tertiärprävention. Das sind Resozialisierungsmaßnahmen, wie Anti-Gewalt-Trainings oder Psychotherapie, die verhindern sollen, dass Straftäter erneut kriminell werden. „Gleichzeitig ist es die schwierigste Art der Prävention, weil es eigentlich keine Prävention mehr ist. Es geht darum, Jugendliche, die sich gewaltbereiten Netzwerken angeschlossen und mit der Gesellschaft, in der sie leben, abgeschlossen haben, wieder zurückzuholen. Die Haft kann für viele oft der Ort der Radikalisierung“, sagt Papadopoulos.
Spiro Papadopoulos
Ist Leiter beim Verein Neustart in Wien. Er nennt die Deradikalisierungsarbeit ein „schwieriges“ Prozedere. Erst recht, wenn sich jemand nicht von seinem extremistischen Gedankengut distanzieren möchte. Derzeit betreut der Verein österreichweit 80 Personen, die wegen islamistischem Extremismus verurteilt worden sind. Die Hälfte davon in Wien.
Das Gefängnis als Ort der Radikalisierung
Was passiert mit Beran A., Luca K. und Lejla L., sollten sie ins Gefängnis kommen? Können ihre festen Überzeugungen noch geändert werden oder bleiben sie tief in den Köpfen der Jugendlichen verwurzelt?
Sozialer Ausschluss, Perspektivlosigkeit oder Diskriminierungserfahrungen sind Faktoren, die oft dazu führen, dass sich Häftlinge hinter Gittern erst recht radikalisieren. Das prominenteste Beispiel dafür ist der gebürtige Tschetschene Ahmad Mitaev, der als Jugendlicher 2014 im Gefängnis radikalisiert wurde und nach seiner Freilassung für den IS in den Dschihad ziehen wollte. Seine Familie hat ihn im letzten Moment noch aufgehalten. Heute arbeitet er als Streetworker.
Am Mittwoch wurden in ganz Österreich Anti-Terror-Razzien bei 72 Personen durchgeführt, 52 davon waren bereits in Haft. Außerdem gab es 39 Haftraumdurchsuchungen. „Gefängnisse waren schon immer Orte, die eine Gefahr der Radikalisierung bergen oder diese sogar verstärken können“, sagt Mehmet Çelebi. Er ist Gefängnisseelsorger der Islamischen Glaubensgemeinschaft Österreich (IGGÖ). Zusammen mit 13 anderen Kollegen betreut er ehrenamtlich seit mehr als zehn Jahren mehrere Hundert Insassen. Finanzielle Unterstützung kommt vom Justizministerium.
„Die Erfolgsaussichten, jemanden während der Haft zu deradikalisieren, sind gering. Dies ist ein langwieriger Prozess, bei dem auch nach der Entlassung viele andere Faktoren eine entscheidende Rolle spielen.“ - Mehmet Çelebi, Islamischer Gefägnisseelsorger
Ein wichtiger Punkt sei, dass Jugendliche in der Haft nicht in die Opferrolle schlüpfen oder das Gefängnis als Bestrafung für ihre Religion sehen. Sie müssten verstehen, dass es ein Ort ist, an dem sie gelandet sind, weil sie kriminelle Handlungen umgesetzt haben. Doch es ist nicht einfach. Der Ausstieg bleibt ein langer Prozess – und vielen gelingt er nicht. Das weiß Seelsorger Çelebi: „Die Erfolgsaussichten, jemanden während der Haft zu deradikalisieren, sind gering. Dies ist ein langwieriger Prozess, bei dem auch nach der Entlassung viele andere Faktoren eine entscheidende Rolle spielen.“
Laut der Deradikalisierungsstelle Derad liegt die Rückfallquote bei rund fünf Prozent. Dort fordert man, die Betreuung von Menschen auch dann fortzusetzen, wenn die Bewährungszeit vorbei ist. Denn nur, weil jemand nicht kriminell ist, bedeutet das nicht, dass die Person deradikalisiert ist. Bei der Beratungsstelle Extremismus und dem Verein Neustart wird die Arbeit mit den Jugendlichen beendet, wenn der Radikalisierungsprozess zu weit fortgeschritten und eine Umkehr der jungen, radikalisierten Muslime nicht mehr möglich ist. Bei Neustart ist man zwar berichtspflichtig, doch trotzdem bleibe das Prozedere „schwierig“. Wenn sich jemand nicht von seinen extremistischen Ideologien distanzieren möchte, muss der Verein das ans Gericht melden. Das führt oft dazu, dass sich die Behörden einschalten und nach Ende der Bewährung weitere Auflagen erteilen. Zum Beispiel, dass sich der Jugendliche in regelmäßigen Abständen bei der Polizei melden muss. Nach Ende der Bewährung tragen die Einrichtungen aber keine Verantwortung mehr.
Julia Ebner
Für die Extremismusexpertin ist eine „emotionale Brücke“ der Schlüssel für eine erfolgreiche Deradikalisierung. Es geht darum, dass man auf „psychologischer Ebene oder auf emotionaler Ebene“ versteht, was passiert ist und so einen Zugang zu den Jugendlichen findet.
Wie kann die dauerhafte Umkehr trotzdem gelingen? Mit einer „emotionalen Brücke“, erklärt Extremismusexpertin Julia Ebner: „Oft geht es ja auch gar nicht um Fakten, sondern dass man durchschauen muss, was da auf psychologischer Ebene oder auf emotionaler Ebene passiert. Weil meistens radikale Ideologien und extreme Weltbilder auch einen psychologischen Zweck erfüllen.“ Bei Jugendlichen lassen sich die Gründe der Radikalisierung oft einfacher durchschauen als bei Erwachsenen. „Häufig sind es Dinge, die die eigene Identität betreffen, schnelle Veränderungen im eigenen Leben oder traumatische Erlebnisse“, sagt die Expertin. Auch Weltgeschehnisse wie der Krieg in Gaza werden von Islamisten instrumentalisiert. „Man sagt, der Westen, also die Länder, die Israel unterstützen, führt Krieg gegen den Islam“, erklärt Ebner. Außerdem teilen terroristische Gruppierungen wie der IS auf sozialen Netzwerken oder in Online-Gruppen emotional tiefgehende Bilder von Opfern in Gaza.
Feindbilder beseitigen
Jede radikalisierte Person ist anders – Islamisten sind keine homogene Gruppe. Umso wichtiger ist es, Deradikalisierungsarbeit an Person und Situation anzupassen. Ansätze gäbe es dafür neben der Seelsorge und religiösen Bildung von Mehmet Çelebi einige. Einer ist es, Feindbilder aufzubrechen. Da stimmt Ebner zu: „Ich habe in Gefängnissen schon mitbekommen, dass Anhänger rechtsextremer Gruppen begonnen haben, sich zu deradikalisieren, weil sie mit muslimischen Personen in Kontakt gekommen sind. Begegnungszonen mit den Feindbildern sind enorm wichtig.“
Die effektivste Art, Jugendliche davon abzuhalten, sich zu radikalisieren, ist die Prävention. Laut Çelebi fehlen dafür jedoch die Ressourcen: „Nach dem Terroranschlag in Wien und den glücklicherweise vereitelten Anschlagsversuchen wurde erneut öffentlich über die Notwendigkeit diskutiert, die Deradikalisierungs- und Präventionsarbeit auszubauen und zu fördern. Doch meist bleiben diese Debatten folgenlos. Die benötigten Ressourcen werden nicht bereitgestellt, wodurch unsere Arbeit und ihr Erfolg erheblich eingeschränkt bleiben“ sagt Çelebi. Die Realität ist anders, Ressourcen fehlen. Viele Betreuer arbeiten ehrenamtlich, das Budget für die Einrichtungen und Beratungsstellen ist befristet und hängt von Tagespolitik ab. Welche Partei ist bereit, wie viel Geld in die Präventionsarbeit zu stecken?
Ob Beran A., Luca K. und Lejla L. ins Gefängnis müssen, werden in den kommenden Wochen die Gerichte entscheiden. Worin sich alle Expertinnen und Experten einig
sind: Deradikalisierung funktioniert nicht immer. Es gibt Jugendliche, die rückfällig werden. Aber: Man dürfe sie nicht aufgeben.
Natalia Anders
ist Teil des Online-Ressorts und für Social Media zuständig.
Daniela Breščaković
ist seit April 2024 Redakteurin im Österreich-Ressort bei profil. War davor bei der "Kleinen Zeitung".