Karl Nehammer: Ruhestifter in unruhigen Zeiten?

Die neuen Regierungsmitglieder beweisen, dass die ÖVP wieder ganz die alte ist. Die schwarzen Länder zeigen ihrem Obmann, wo es lang geht. Kann sich Karl Nehammer aus diesen Zwängen lösen?

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Ein bisschen musste Karl Nehammer selber grinsen. Dienstmittag trat der Kanzler und designierte ÖVP-Obmann vor die Presse, um nach dem Rücktritt der Ministerinnen Elisabeth Köstinger und Margarete Schramböck sein neues Regierungsteam vorzustellen. Eine Frage der Berichterstatter lautete: Ob Nehammer den von Sebastian Kurz initiierten Passus im ÖVP-Statut genutzt hätte, der dem Obmann freie Hand bei der Personalauswahl garantiere? Nehammer antwortete lächelnd: Wer ein Statut benötige, habe schon verloren. Soll heißen: Ein starker Anführer schafft Fakten, ohne sich um die Regeln zu kümmern. Nehammers Nachsatz: Weil es aber guter ÖVP-Brauch sei, habe er für sein Personalpaket einen Rundlaufbeschluss im Parteivorstand herbeigeführt.

Die Frage, wer stärker ist, der ÖVP-Obmann oder die ÖVP, ist vorerst geklärt. Die neue Volkspartei unter Karl Nehammer ist wieder ganz die alte: Länder und Teilorganisationen üben die Befehlsgewalt aus. Tirol verliert eine Wirtschaftsministerin (Margarete Schramböck) – und erhält prompt den Landwirtschaftsminister (Norbert Totschnig) und einen Staatsekretär für Digitales (Florian Tursky) im Finanzministerium. Über Totschnig freut sich auch der Bauernbund, dessen Direktor der neue Minister jahrelang war. Der ÖVP-Wirtschaftsbund wurde mit einer Staatssekretärin für Tourismus (Susanne Kraus-Winkler) zufriedengestellt.

Und doch konnte Nehammer auch einen eigenen Akzent setzen, indem er Martin Kocher zum Superminister für Arbeit und Wirtschaft macht. Indem er die zwei Ressorts fusioniert, verzichtet Nehammer freiwillig darauf, ein Bundesland mit einem Ministerjob zu bedenken und damit innerparteilich Punkte zu sammeln. Und noch dazu ist der Megaminister der erklärten Wirtschaftspartei ÖVP kein Parteimitglied. So tollkühn war nicht einmal Sebastian Kurz. Auch der gefallene ÖVP-Star holte sich Parteifreie in sein Regierungsteam, allerdings ohne sie mit so viel Macht auszustatten.

Der gelernte Nationalökonom Kocher ist ab sofort nicht nur als Sachpolitiker gefordert, sondern auch als Taktiker. Das Lobbying von Wirtschaftskammer und Industrie wird enorm sein. Und Arbeiterkammer und ÖGB werden genau darauf achten, ob der Minister für Wirtschaft die Arbeitsagenden vernachlässigt.

Köstingers Überraschungsei

Der Rücktritt von Elisabeth Köstinger am Montag war keine Überraschung. Als enge Vertraute von Sebastian Kurz war sie seit dessen Rücktritt sichtlich angeschlagen. Unerwartet war nur der Zeitpunkt ihres Ausscheidens. Eigentlich war damit erst nach dem ÖVP-Parteitag in Graz kommenden Samstag gerechnet worden. Doch offenbar wollte Köstinger ihren Abgang selber gestalten, nachdem sich Gerüchte darüber immer mehr verdichteten. Margarete Schramböck wurde von Köstinger gleichsam mitgerissen. Mit dem Rücktritt der einen war auch jener der anderen besiegelt.

Die Vorbereitungen für den Parteitag, an dem Nehammer offiziell zum 18. Bundesobmann der ÖVP gewählt wird, litten durch die Vorgänge am Chaos-Montag. Statt an der Grundsatzrede zu arbeiten, musste das Kanzlerbüro Krisenmanagement betreiben. Die Regie für den Parteitag steht aber schon fest: Sebastian Kurz hält keine Rede. Der abtretende ÖVP-Chef wird auf der Bühne der Helmut-List-Halle bloß interviewt. Mit Ovationen der Funktionäre ist zwar zu rechnen. Aber Kurz wird wissen, dass er nur das Vorprogramm bestreitet. Hauptact ist der Auftritt des neuen Chefs.

Parteitage sollen doppelt wirken, nach außen und innen. Für die Öffentlichkeit wird Nehammer eine Kanzlerrede zu den vorhersehbaren Krisenthemen halten: Krieg in der Ukraine, Pandemie, Teuerung. Vielleicht erwähnt er auch den Klimawandel. Im anderen Teil seiner Rede wendet sich der ÖVP-Obmann an seine Partei. Auch diese befindet sich in einer Krise: noch immer erschüttert nach dem Kurz-Abgang und demoralisiert von den – auch staatsanwaltlich untersuchten – Vorwürfen, eine Korruptionspartei zu sein.

Dennoch soll der Parteitag in Graz nicht der moralischen Konsolidierung der ÖVP dienen. Auch ein Schlussstrich unter die Ära Kurz wird nicht gezogen. In erster Linie geht es darum, „dass sich unsere Leute wieder spüren“, wie es einer aus der Führungsriege formuliert. Und Nehammers Aufgabe nach der Regierungsumbildung besteht darin, wieder Ruhe in seine verunsicherte Partei zu bringen – auch angesichts der Umfragen, in denen die ÖVP auf 24 Prozent abgesunken ist. Die SPÖ liegt stabil voran.

Sebastian Kurz hatte im Mai 2017 einen Blitzstart hingelegt. Schon wenige Monate nach der Übernahme der Parteiführung feierte er einen fulminanten Wahlerfolg und eroberte für die „Neue ÖVP“, wie sie nun hieß, das Kanzleramt. Kurz war ein Stimmen-Bringer auf allen Ebenen. Nach der Nationalratswahl folgte eine beispiellose ÖVP-Siegesserie bei Landtagswahlen. Wer seiner Partei Mehrheiten beschert, kann mit ihr machen, was er will. Kurz sicherte sich ein Durchgriffsrecht auf Wahllisten, freie Hand bei Koalitionsentscheidungen und das Exklusivrecht auf Postenvergaben.

Siegertyp?

Karl Nehammer muss die Partei erst davon überzeuge, dass er ein Siegertyp sein kann. Regulär finden die nächsten Nationalratswahlen im Herbst 2024 statt. Doch bis dahin ist mit Rückschlägen für die ÖVP zu rechnen. Im nächsten Jahr stehen Landtagswahlen in Niederösterreich, Tirol, Salzburg und Kärnten an. Schmerzhafte Verluste würden auch den Bundesparteiobmann beschädigen

Wie Kurz übernahm Nehammer die Partei in einer Notsituation. Der Unterschied: Kurz hatte den Abgang seines Vorgängers, Reinhold Mitterlehner, aktiv betrieben. Auf die Obmannschaft – und das Kanzleramt – war er generalstabsmäßig vorbereitet. Karl Nehammer strebte weder das eine noch das andere an. Umso schwerer wiegt das Erbe. Von Kurz übernimmt er eine entkernte Bundespartei, die nur noch als Servicestelle für Bürger und Funktionäre dient. Als er ÖVP-Obmann wurde, hielt Kurz Parteien im Grunde für überholt. Er träumte von einer großen politischen Bewegung nach dem Vorbild des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Doch daraus wurde nichts.

Im Gegensatz zu Kurz, der vor seinem Aufstieg nur die Junge ÖVP kannte, ist Nehammer in der Volkspartei tief verwurzelt. Er lernte die Parteiarbeit von der Pike auf, war Referent in der Bundespartei, in der Parteiakademie, Mitarbeiter in der niederösterreichischen Landespartei, Generalsekretär im ÖVP-Arbeitnehmerbund ÖAAB, Bezirksparteiobmann in Wien Hietzing, ÖAAB-Landesobmann in Wien. 2018 machte ihn Kurz zum ÖVP-Generalsekretär. In der Funktion verantwortete er den erfolgreichen Wahlkampf 2019 und wurde mit dem Amt des Innenministers in der türkis-grünen Koalition belohnt.

Bemerkenswert ist: So ruppig es in Parteien auch zugeht, machte sich Nehammer im Lauf der Jahre dennoch keine Feinde. Im Gegenteil: Kaum ein ÖVP-Spitzenvertreter ist intern so beliebt wie er. Daher war Nehammer die logische Wahl für die Kurz-Nachfolge in Partei und Kanzleramt. Wie jeder frische Obmann baute er seine Regierungsmannschaft um, allerdings war sein Gestaltungspielraum –wie auch diese Woche nach dem Köstinger-Rücktritt – begrenzt. Der Wirtschaftsbund setzte die Beförderung von Staatssekretär Magnus Brunner zum Finanzminister durch. Die Steirer wünschten sich wieder einen eigenen Minister und erhielten ihn in Person von Bildungsminister Martin Polaschek. Die Niederösterreicher beharrten darauf, dass ein zentrales Ressort wie das Innenministerium einem Niederösterreicher, Gerhard Karner, zustehe.

Die Dominanz von Kurz brachte es mit sich, dass jeder in der ÖVP sich auf den Parteiobmann verließ. Zu viel Eigeninitiative galt auch nicht als erwünscht. Darunter leidet nun Karl Nehammer. Die Auseinandersetzung mit dem SPÖ-Bundesgeschäftsführer oder dem FPÖ-Generalsekretär muss der Kanzler bisweilen höchstpersönlich führen. Der einzige ÖVP-Spitzenpolitiker, der sich offensiv mit den Gegnern anlegt, ist Wolfgang Sobotka – obwohl er als Nationalratspräsident eigentlich zur Neutralität angehalten ist.

Störmanöver

Für die alltäglichen Scharmützel wäre die Generalsekretärin der Partei, Laura Sachslehner, verantwortlich. Die Wiener Abgeordnete wurde von Nehammer engagiert, soll aber noch ein Personalwunsch von Kurz gewesen sein. Vor allem in der niederösterreichischen Landespartei gilt Sachslehner als zu unerfahren. So erklären sich auch die jüngsten Spekulationen, es werde bald einen zweiten Generalsekretär in der Parteizentrale in der Wiener Lichtenfelsgasse geben.

Sebastian Kurz war es gelungen, Störmanöver aus den eigenen Reihen abzustellen. Karl Nehammer hat seine Partei weniger fest im Griff. Auch die Landeshauptleute verselbstständigen sich wieder. In der Vorwoche gefiel sich der Tiroler Günther Platter darin, ohne Absprache mit Kanzleramt und Finanzministerium die Abschaffung der kalten Progression zu fordern. Unter Kurz wären solche Disziplinlosigkeiten eher undenkbar gewesen.

Kurz nannten sie intern „den Chef“, Nehammer ist für alle „der Karl“. Beide kommunizieren innerparteilich viel – mit dem Unterschied, dass Nehammer auch auf andere hört. Der neue Obmann gilt als bodenständiger als sein Vorgänger mit dem Popstar-Appeal. Kurz achtete in der Inszenierung auf jedes Detail, Nehammer setzt sich bei Parteiveranstaltungen an den erstbesten Tisch. Kurz richtete seine Politik nach Umfragen aus, Nehammer interessiert sich auch für Programme. Kurz war Kalkül, Nehammer ist Instinkt. Insgesamt gilt der Neue als verbindlicher. Manche in der Partei nennen ihn den „Konsens-Karl“. Kurz war ein Sozi-Fresser, Nehammer ist auch großkoalitionär gesinnt. Mit einzelnen prominenten Sozialdemokraten wie dem Wiener Finanzstadtrat Peter Hanke ist er sogar befreundet.

Erkundigt man sich in den verschiedenen Landes- und Teilorganisationen der ÖVP über Nehammers Führungsqualitäten, findet sich kaum jemand, der ihm die Eignung zur Nummer 1 absprechen würden. Aus Kreisen der Wirtschaft und der Bauernvertreter ist freilich zu vernehmen, dass der Arbeitgeber-Bund ÖAAB bevorzugt Zugang zum Kanzler habe. Als enge Nehammer-Vertraute gelten Nationalratspräsident Sobotka (bis Ende 2020 Landesobmann des ÖAAB Niederösterreich) und Klubobmann August Wöginger (ÖAAB-Bundesobmann), dessen Generalsekretär Nehammer einst war. Wöginger ist es auch, der für seinen Parteiobmann die Kommunikation mit den Landesorganisationen führt. Für Befremden sorgt bei manchen Parteifreunden die Rolle von Nehammers Ehefrau Katharina. Dass ein Parteichef sich mit seiner in Medienfragen versierten Partnerin berät, ist naheliegend. Das Ausmaß des Engagements von Katharina Nehammer überrascht aber doch. Unlängst nahm die Kanzler-Gattin sogar an einer Sitzung des ÖVP-Parlamentsklubs teil.

Molterer ohne Amtsbonus?

In der Geschichte der ÖVP gab es bereits einmal eine ähnliche Konstellation wie derzeit. Im Jahr 2006 hatte Bundeskanzler Wolfgang Schüssel überraschend die Nationalratswahl verloren und den ÖVP-Parteivorsitz zurückgelegt. Zu seinem Nachfolger erkor er den damaligen Klubobmann Wilhelm Molterer, der Vizekanzler in einer großen Koalition unter Bundeskanzler Alfred Gusenbauer wurde. Auch Molterer war nicht zur Nummer 1 geboren und stand im Schatten seines Vorgängers, der sich erst an die Macht gepokert und 2002 einen glänzenden Wahlsieg erzielt hatte. Molterer blieb ein Übergangsparteichef, nach zwei Jahren riskierte er Neuwahlen, die er krachend verlor.

Ist Nehammer bloß ein Molterer mit Kanzlerbonus? Parteikenner beschreiben Nehammer als stimmigere Persönlichkeit, der mehr Wählerinnen und Wähler ansprechen könne als der eher bürokratistische Molterer. Überdies stand 2008 mit Landwirtschaftsminister Josef Pröll bereits ein logischer Nachfolger parat. Aktuell gibt es in der ÖVP kaum personelle Reserven. Maximal EU-Ministerin Karoline Edtstadler wäre eine denkbare Alternative als Parteichefin oder Spitzenkandidatin bei der nächsten Nationalratswahl.

Bei den ÖVP-Basisfunktionären ist Kurz noch immer beliebt. An der Spitze der Länder und Teilorganisationen gewöhnte man sich dagegen rasch an den neuen Chef. Der Mittelbau der Partei hat ebenfalls einen pragmatischen Zugang: Wichtiger als einzelne Obmänner ist noch immer der Machterhalt. Potenzielle ÖVP-Wähler bevorzugen mittlerweile Karl Nehammer als Parteichef. Nur noch 27 Prozent würden laut dem Meinungsforscher Peter Hajek lieber Kurz an der ÖVP-Spitze sehen. Allerdings: Dessen Ergebnisse bei den Wahlen 2017 (31,5 Prozent) und 2019 (37,5 Prozent) wird Nehammer wohl niemals erreichen.

Beim vergangenen Parteitag in St. Pölten im August 2021 erhielt Kurz, damals schon durch Chat- und Korruptionsaffären unter Druck, über 99 Prozent der Stimmen. Viel weniger wird es bei Nehammer kommende Woche in Graz auch nicht sein. Schließlich ist „der Karl““ in der Partei sehr beliebt.

Diese heißt in Zukunft nur noch „Volkspartei“, wie früher. Das Beiwort „neue“ ist Geschichte.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.