Karl Nehammer: Von einem, der auszog, Kanzler zu lernen

Seit einem Jahr ist Karl Nehammer Bundeskanzler – und ein Getriebener. Statt Politik zu gestalten, muss er Krisen bewältigen. Er sei ein „Nachdenkender“, sagt Nehammer. Eine Deutung anhand von zehn Zitaten.

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Der echte Nehammer ist der lernende Nehammer.

Interview, „Kurier“

11. Dezember 2021

Plötzlich Regierungschef: Am 6. Dezember wurde der damalige Innenminister als Bundeskanzler angelobt. Sebastian Kurz hatte seinen Aufstieg generalstabsmäßig im „Projekt Ballhausplatz“ geplant, Karl Nehammer schlitterte nach Kurz und Alexander Schallenberg ins Amt. Die Kanzlerschaft sei eine Etage höher als ein Ministerjob, sagte er vor einem Jahr. Man müsse alles überblicken, nicht nur den eigenen Fachbereich. Als Innenminister war er der Mann, der den Corona-Lockdown überwachte. Als Kanzler musste er aus den Maßnahmen der Minister für Gesundheit, Wirtschaft, Bildung und Finanzen ein Pandemie-Krisenmanagement formen, ohne Einarbeitungsphase, bloß durch Learning-on-the-Job. „Man sollte Karl Nehammer nicht unterschätzen. Er hat noch in jeder Funktion rasch dazugelernt und sich weiterentwickelt“, hieß es im Dezember 2021 aus der erweiterten Parteiführung. Nun erzählt man, der Regierungschef sei im Herbst ob des Stresses ernstlich angeschlagen gewesen, habe sich aber wieder erholt. Karl Nehammer hält sich nicht für einen geborenen Bundeskanzler – schon allein das unterscheidet ihn von Sebastian Kurz.

Ich bin der Karl Nehammer, ich habe meinen eigenen Stil, ich habe meine eigene persönliche Geschichte, und alleine das ist schon die Unterscheidung zu demjenigen, mit dem man verglichen wird.

Interview ORF-Radio

8. Jänner 2022

Kein Inhaber einer Spitzenfunktion wird gern mit seinem Vorgänger verglichen, vor allem, wenn es sich bei diesem um einen vermeintlichen Wunderwuzzi handelte. Im Oktober feierte Karl Nehammer – im engsten Kreis mit ein paar Freunden – seinen 50. Geburtstag. Er ist um eine Generation älter als Sebastian Kurz, der mit 31 Jahren ins Kanzleramt einzog. Kurz war ÖVP-Obmann, Nehammer als Generalsekretär dessen wichtigster Dienstleister in der Partei – ohne zum innersten Kreis zu zählen. Diese relative Distanz schützte ihn davor, mit der türkisen Truppe mitgerissen zu werden. Im Gegensatz zu Kurz nimmt man Nehammer die behauptete Demut vor dem Amt durchaus ab. Inhalte sind wieder wichtiger als die Verpackung. Das ist im Vergleich zur Kurz-Kanzlerschaft nicht wenig. 

Wolfgang Schüssel hat einen ganz wichtigen Hinweis gegeben: Eine Linie ist eine Linie. So halte ich es. Ich funktioniere sehr gut im Team. Viele sind überrascht, wie viel Schwarmintelligenz ich um mich herum zulasse. Aber dann gibt es einen Punkt, an dem ich entscheide. Und diese Entscheidung durchsetze.

 Interview, profil

25. Jänner

Unter Kurz war das Kanzleramt eine Ich-AG, unter Nehammer ist es ein Wir-Betrieb. Statt Besserwissern sitzen dort nun Personen, die sich auch beraten lassen. Zu diesen Beratern zählt allerdings auch Nehammers Frau Katharina, die nach Auffassung so mancher in der ÖVP zu viel Einfluss auf den Kanzler hat. Nicht mehr zu den Nehammer-Beratern zählt bald die Berliner Kommunikationsagentur Story-Machine des früheren „Bild“-Chefredakteurs Kai Diekmann. Der Vertrag mit der ÖVP läuft mit Jahresende aus. Aus der Partei heißt es, die Agentur habe zur vollsten Zufriedenheit gearbeitet. Nun werde das Kommunikationskonzept neu überdacht. Diekmann dürfte dabei keine Rolle mehr spielen, aber umso mehr Gerald Fleischmann. Der einst mächtige Pressesprecher und Medienbeauftragte von Sebastian Kurz  wechselt vom Parlamentsklub als Leiter der Kommunikationsabteilung in die ÖVP. Der Hintergrund: Fleischmanns Vertrag mit dem Klub läuft aus. Der neue ÖVP-Generalsekretär, der Nationalratsabgeordnete Christian Stocker, suchte einen Kommunikationsprofi, fand aber weder einen im ÖVP-Umfeld noch am freien Markt, also fiel die Wahl auf Fleischmann. Stocker stammt aus den Reihen der einflussreichen niederösterreichischen ÖVP, die mehr denn je die Schwarmintelligenz der ÖVP ausmacht, sich vor der Landtagswahl im Jänner von der Bundespartei aber nur eines wünscht: Ruhe.

Das Gespräch war direkt, mitunter hart von beiden Seiten und mit keinerlei diplomatischer Rücksichtnahme geführt. Ich glaube, Putin ist total in seiner Kriegslogik angekommen.

Interview, „Kronen Zeitung“

17. April

Karl Nehammers Welt war die Partei- und Innenpolitik. Es kam daher ein wenig überraschend, dass er als Bundeskanzler auch die Außenpolitik für sich entdeckte. Anfang April fuhr er nach Kiew und nach Butscha, einem Vorort der ukrainischen Hauptstadt, in dem russische Truppen 400 Zivilisten ermordet hatten. Kurze Zeit darauf überraschte er mit der Ankündigung, den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu treffen. Es war der erste Besuch eines EU-Regierungschefs nach dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar.

Das Gespräch war kurz, wie erwartet ergebnislos und wurde innerhalb der EU eher als naiv beurteilt. Nehammer meinte, der Besuch sei „eine Pflicht aus der Verantwortung heraus“ gewesen, „nichts unversucht zu lassen, um eine Einstellung der Kampfhandlungen oder zumindest humanitäre Fortschritte für die notleidende Zivilbevölkerung in der Ukraine zu bewirken“. Über das außenpolitische Glaubensbekenntnis Österreichs will auch er nicht einmal diskutieren: „Österreich war neutral, Österreich ist neutral, Österreich wird auch neutral bleiben.“

Zufallsgewinne bei Unternehmen mit staatlicher Beteiligung gehören dem Volk und nicht den Unternehmen alleine. Da braucht es ein neues Reglement. Alle Wirtschaftsliberalen fallen jetzt gleich in Ohnmacht. Aber in Zeiten der Krise müssen wir zusammenhelfen.

Interview, „Tiroler Tageszeitung“

5. Mai

Nehammer stammt aus dem Arbeitnehmer-Bund der ÖVP, dem ÖAAB. Als Experte für Wirtschaftspolitik war er nie aufgefallen. Als er Kanzler wurde, begann man in Wirtschafts- und Industriekreisen daher zu zittern. Der ÖVP-Wirtschaftsbund setzte durch, dass mit Magnus Brunner ein Vertrauensmann Finanzminister wurde. Auch der konnte aber nicht verhindern, dass der Bundeskanzler im Mai öffentlich über eine Sondersteuer auf die Übergewinne von teilstaatlichen Unternehmen räsonierte. Die Aktie des Energiekonzerns Verbund sackte daraufhin ab. Die Industriellenvereinigung zeigte sich besorgt. Brunner erklärte, „keinen Markteingriff der Politik für notwendig“ zu halten. Doch am Ende setzten sich der Kanzler und die Grünen – mithilfe einer EU-Richtlinie – durch. Vorvergangene Woche einigte sich die Regierung auf ein Energiekrisenbeitragsgesetz, durch das Zufallsgewinne von Energieunternehmen abgeschöpft werden können. Dass die Politik doch in den Markt eingreift, rechtfertigte Finanzminister Brunner mit dem Hinweis auf „außergewöhnliche Zeiten“. Die reine Marktwirtschaft ist Nehammer ein geringeres Anliegen als seinen ÖVP-Kanzler-Vorgängern Sebastian Kurz und Wolfgang Schüssel.

So viele in so einem kleinen Raum heißt auch so viele Viren, aber jetzt kümmert es uns nicht mehr. Schön, dass ihr da seid!

Bundesparteitag

14. Mai, Graz

Ausgerechnet beim Bundesparteitag in Graz, der Nehammer formal zum ÖVP-Obmann wählte, vollzog er den Wechsel von der rigiden Corona-Politik, die die Bundesregierung seit Ausbruch der Pandemie im März 2020 betrieben hatte. Im Innenministerium wollte er die Infektionskette „mit der Flex“ durchtrennen. Als Regierungschef lässt er seinen grünen Gesundheitsminister Johannes Rauch gewähren, das Corona-Regime aufzuweichen. Im Juli wurde die Impfpflicht vom Nationalrat wieder aufgehoben – nur fünf Monate nach  Inkrafttreten. Beim Parteitag erreichte Nehammer 100 Prozent der Stimmen. Masseninfektionen unter den Delegierten gab es keine.

Wenn wir jetzt so weitermachen, gibt es für euch nur zwei Entscheidungen nachher: Alkohol oder Psychopharmaka!

Rede, Parteitag ÖVP-Tirol

9. Juli

Ganz passt die brachiale Formulierung nicht zur selbsterklärten Familienpartei. Nehammer wollte seinen Tiroler Parteifreunden damit drastisch verdeutlichen, was allein gegen die stark steigende Inflation Abhilfe schaffen könnte, sollte die Bundesregierung nicht entschlossen handeln. Wenige Tage danach gab er sich reuig: „Ich nehme mir mit, dass ich meine Ironie im Zaum halten muss.“ Ein gelernter Rhetoriktrainer wie Nehammer sollte wissen, was sagbar ist und was nicht. Nicht immer formuliert er einfach. Worte und Wendungen wie „Hoffnungsaspekt“, „Gravitas“ und „unbestimmte Zeitachse“ hätte Sebastian Kurz eher nicht verwendet. Sein politisches Denken legt Nehammer, wie er es nennt, „systemisch“ an. Ein Begriff aus der Beraterzunft, der bedeuten soll: ganzheitlich, Muster erkennend, vernetzend, nicht linear. „Systemisch“ will er die Migrationsfrage betrachtet wissen, die ÖVP-Krise und auch die notwendigen Strukturreformen – Pensionen, Budget, Pflege – im Land. 

So bin ich nicht, so sind wir nicht.

Rede im Nationalrat

2. November

Zum Korruptionsproblem der ÖVP lautete Nehammers Stehsatz: „Die ÖVP hat kein Korruptionsproblem.“ Zu einem klaren Bruch mit der Kurz-Ära konnte sich Nehammer in seinem ersten Kanzler-Jahr nicht durchringen. Wird ihm das vorgehalten, plädiert er für „ein differenziertes Vorgehen“. Ein „Pauschalurteil“ lehne er ab. Am Nächsten kam der ÖVP-Obmann einem Schuldeingeständnis in der Sondersitzung des Nationalrats am 2. November. Es sei zu verurteilen, wenn Steuergelder für parteipolitische Umfragen verwendet würden, und unerträglich, wenn der Eindruck entstünde, Reiche könnten es sich in Österreich richten. Korruption sei „Gift für die Demokratie“. Im Anschluss entschuldigte er sich nicht etwa für die ÖVP, sondern für das Bild, das „die Politik derzeit bietet“. Die Bürgerinnen und Bürgern sehen die Angelegenheit nicht differenziert. In Umfragen fiel die ÖVP auf den dritten Platz hinter SPÖ und ÖVP zurück. 

Warum kümmert sich die Kommission nicht endlich darum, dass EU-Recht andauernd gebrochen wird, wenn in einem Binnenland wie Österreich so viele 
irreguläre Migranten 
ankommen.

Interview, „Die Welt“

11. Oktober

Neben all den Krisen sah sich der Ex-Innenminister auch mit der Migrationsproblematik konfrontiert. 100.000 Asylanträge werden am Ende des Jahres in Österreich gestellt worden sein. Ob es sich um Flüchtlinge handelt, ist für Nehammer leicht beantwortbar: nein. Schließlich seien die Asylwerber zuvor durch mehrere EU-Länder und sichere Drittstaaten gezogen, ohne um Schutz anzusuchen – allerdings auch, ohne angehalten worden zu sein. Aus diesem Grund versuchte Nehammer auf seine Art, die Balkanroute zu schließen. Er bildete eine Anti-Migrations-Neigungsgruppe mit Serbiens Präsident Aleksandar Vučić und Ungarns Regierungschef Viktor Orbán, obwohl es gerade diese zwei sind, die Flüchtlinge nach Österreich durchwinken. Ohne seine Initiative, argumentiert Nehammer, wäre das Problem noch größer. Wer ankündigt, muss auch liefern. Sollte die Flüchtlingskrise sich weiter verschärfen, bekommt Nehammer ein Problem – und die FPÖ weiteren Aufwind.

Natürlich verändert einen das Amt.

Journalistengespräch im Kanzleramt

1. Dezember

Fragt man Karl Nehammer heute, was die Kanzlerschaft ausmacht, fallen Begriffe wie „Gravitas“, „Omnipräsenz“, „Heftigkeit“, „Wucht“. Vor allem bedeute Kanzler sein auch „entscheiden zu dürfen“. Mit den Grünen versuche man nicht nur die Krisen zu meistern, sondern habe auch „Monsterthemen zusammengebracht“ wie die Abschaffung der kalten Progression, die Pflegereform und die Erhöhung des Budgets für das Bundesheer. Dennoch schwindet das Vertrauen der Bevölkerung. Im Vergleich zum Beginn seiner Amtszeit wirkt Nehammer heute weniger hektisch, sondern fokussierter. Sein Politikstil ist amikal-brachial. Hat er manchmal Selbstzweifel? „Ich bin nach wie vor ein Nachdenkender“, sagt Nehammer.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.