Katharina Stemberger: „Die liberalen, gemäßigten Kräfte haben die Hosen voll“
Frau Stemberger, dieser Tage erinnert man sich vielerorts an das Jahr 2015. Vor ziemlich genau zehn Jahren brachen Flüchtlinge vom Budapester Bahnhof Keleti auf und schufen damit kurzfristig sichere Fluchtrouten. Welche Erinnerungen verbinden Sie mit dieser Zeit?
Katharina Stemberger
Ich war damals in Salzburg beim Jedermann und habe diese Bewegungen großer Menschenmassen gesehen. Das waren die ersten Septembertage, wo Viktor Orbán gesagt hat, die Flüchtlinge, die in Budapest sind, dürfen in Züge nach Deutschland steigen – sie sollten dann aber nach wenigen Kilometern in Lager gebracht werden. Und da hat es mich dermaßen gerissen, weil ich mir gedacht habe, das hatten wir schon mal: Dass Leuten gesagt wird, wir bringen euch wohin, wo es euch gut geht. Ich dachte mir: Ich kann da nicht tatenlos zusehen. Anfang September 2015 war ich in Budapest und habe Geflüchteten geholfen nach Österreich zu kommen. Wir sind mit fünf privaten Autos gefahren, um Familien von Keleti nach Österreich zu bringen.
Sie waren also das, was in der damaligen ungarischen Diktion ein „Menschenschlepper“ ist. Jeder, der damals in Ungarn Flüchtlingen half, machte sich strafbar.
Stemberger
Ja, die Warnung kam, als wir schon in unseren Autos Richtung Ungarn unterwegs waren. Es hieß, es drohen drei Jahre Gefängnis, wenn man in Ungarn mit einem Geflüchteten im Auto erwischt wird und in Österreich eine Verwaltungsstrafe von 1000 Euro pro Geflüchteten. Wir wollten aber nicht umdrehen. Wir hatten die Autos voll mit Windeln, Essen und Trinken. Und haben die Autos mit allen Kindersitzen bestückt, die wir auftreiben konnten. Wir sind durch dieses wunderschöne Budapest gefahren, das beleuchtet war, bis wir schließlich zum Bahnhof kamen. Das Bild, das sich uns bot, war entsetzlich. Ich hatte das Gefühl, ich bin in einem Dritte-Welt-Land. Mein Vater, ein Tropenmediziner, war auch dabei. Er war in der ganzen Welt unterwegs, und selbst er war wirklich entsetzt, in was für einer Verfassung manche dieser Menschen waren. Wir haben gesagt, wir nehmen ganze Familien mit. In fünf Autos haben wir 22 Personen auf Schleichwegen über die grüne Grenze bei abgedrehtem Licht nach Österreich gebracht. Ich bin mir vorgekommen wie in einem Film.
Vor zehn Jahren gab es eine überwältigende Welle an Solidarität, die heute nahezu komplett abgeebbt ist. Mit Ihrer Initiative Courage haben Sie vor fünf Jahren nach den Bränden im griechischen Lager Moria dafür lobbyiert, dass Österreich Kinder aufnimmt, was nicht geschehen ist. Nun wollen Sie Ihre Initiative wieder erneuern. Warum ausgerechnet jetzt, wo das Thema Flüchtlingshilfe kaum jemanden interessiert?
Stemberger
Das Problem ist, dass die gemäßigten, liberalen Kräfte der Mitte – und ich spreche von der Mitte und nicht von links – derart die Hosen voll haben, sich diesem Thema zuzuwenden. Unsere kleine Initiative, die ich da seit 2020 anführe, in der sich Persönlichkeiten wie Christian Konrad, Cathrin Kahlweit, Cornelius Obonya, Manfred Nowak und Irmgard Griss engagieren, bemüht sich dennoch um Sichtbarkeit und auch um eine Versachlichung der Debatte. Österreich ist in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg immer wieder dafür gestanden: Wenn Not ist, wird geholfen. Ob das bei den Ungarn war oder während der Balkankriege. Ich habe die Österreicher auf der einen Seite immer tendenziell fremdenfeindlich wahrgenommen und auf der anderen Seite auch offenherzig: Wenn es brennt, hilft man. Die Lehre von 2015 ist schon: Wenn genug Menschen beschließen, sich der Herzlosigkeit entgegenzustellen, dann ziehen sich die anderen Kräfte auch irgendwann zurück.
Das, was Sie sagen, hat keine politische Mehrheit in Österreich. In den vergangenen zehn Jahren ist einiges passiert, die FPÖ, die von der Festung Österreich spricht, ist die stimmenstärkste Partei des Landes.
Stemberger
Die Frage, die ich als viel wichtiger erachte ist: Wozu sind wir fähig? Meine Wahrnehmung war, dass sehr viele Menschen Sebastian Kurz gefolgt sind und seine Ansagen von der Schließung der Balkanroute übernommen haben. Jene, die sich hilfsbereit gezeigt haben und geholfen haben, wurden lächerlich gemacht. Das waren die dummen Willkommensklatscher. Und gleichzeitig hat man genau diesen Menschen, eben der Zivilgesellschaft, ganz viele Aufgaben überantwortet. Kurz betrieb damals ein doppeltes Spiel, indem man keine Unterstützung oder wenig Unterstützung gab und gleichzeitig die Leute, die helfen, als naiv abtat. Das führt dazu, dass sich viele Helfer zurückgezogen haben.
Oder hatte Kurz recht und wir haben uns an die hässlichen Bilder gewöhnt?
Stemberger
Ich nicht. Und ich kenne ganz viele, die sich auch nicht daran gewöhnt wollen. Trotzdem ist dieser Satz Gift. Und wenn dieses Gift regelmäßig geträufelt wird, werden die Leute unempfindlich. Ich glaube nicht, dass die Menschen wirklich immun geworden sind gegen das Leid auf der Welt. Aber es wird ihnen aber auch eingeredet, dass es sie nichts angeht.
Trotz des Rechtsrucks hat Österreich die höchste Asylquote der EU.
Stemberger
Es ist gar keine Frage, dass in diesen zehn Jahren sehr viel gelungen ist und vieles aber auch nicht. Wir brauchen eine Versachlichung der Debatte, genau dafür will unsere Initiative Bewusstsein schaffen.
Waren es zu viele Flüchtlinge, die gekommen sind?
Stemberger
Ich bin keine Migrationsforscherin. Aber natürlich ergeben sich auch soziale Probleme. Vieles ist auch nicht gelungen, vielfach auch deshalb, weil sich Geflüchtete vornehmlich in Ballungszentren niedergelassen haben, weil es keine gerechte Aufteilung innerhalb des Landes gab.
Waren die Helfer damals zu naiv?
Stemberger
Um Ihnen etwas Persönliches zu erzählen: Ich war im Februar in Villach, als das Messer-Attentat passierte. Ich hatte eine Theatervorstellung an diesem Tag in Villach. Zwei Stunden vor dem Attentat bin ich genau an dem Platz gestanden. Das macht was mit einem.
Was macht das mit einem?
Stemberger
Es war Irrsinn, anders ist das nicht zu beschreiben. Ich habe mir dann das Buch von Salman Rushdie gekauft, in dem er das Attentat auf ihn beschreibt. Es sind die Fanatiker von allen Seiten, die unsere Gesellschaften kaputt machen wollen. Dagegen müssen wir uns wehren, und das können wir auch.
Haben diese Erlebnisse Sie jemals an Ihrem Engagement für Flüchtlinge zweifeln lassen?
Stemberger
Nein, ich habe mich ja nicht dafür eingesetzt, dass Terroristen kommen. Und auch nicht dafür, dass islamistische Parallelstrukturen entstehen. Ja, auch das gibt es und genau da müssen wir besonders hinschauen. Das alles ist zu ahnden, aber es ändert nichts an der Notwendigkeit, den Menschen in Not zu helfen.
Und dennoch waren auch unter den Geflüchteten Menschen, die sich beispielsweise an Terror beteiligt haben oder anders straffällig geworden sind.
Stemberger
Ich bin die Erste, die wissen will, wer in unserem Land ist, wo er herkommt, und was für Absichten er hat. Das Botschaftsasyl ist abgeschafft worden. Menschen, die flüchten, haben gar keine andere Wahl als illegal ins Land zu kommen. Genau deshalb braucht es legale Fluchtrouten, wo unsere Gesellschaften die Schutzbedürftigen gezielt ins Land holen. Das ist alles erprobt, es ist möglich – man muss es nur machen.
Sie sind seit vielen Jahren im Flüchtlingsbereich engagiert, auch davor im Integrationshaus. Woher rührt dieses Engagement?
Stemberger
Ich war 13 oder 14 Jahre alt, als ich eine sehr prägende Unterhaltung mit meiner Großmutter hatte, sie war Jahrgang 1907. Ich werde es niemals vergessen – ich habe sie gefragt: Omi, was habt ihr im Krieg eigentlich gemacht? Und meine Großmutter, die ich über alles geliebt habe und die mit mir über alles geredet hat, wurde plötzlich stumm. Und es sind ihr Tränen in den Augen gestanden und sie konnte nicht antworten. Später hat sie mir gesagt, dass sie es ja nicht gewusst haben, was passiert. Ich aber werde das niemals sagen können, weil ich weiß, was passiert.