Reden über die großen Fragen Europas

Manfred Nowak: „Wir sind nie verloren“

Demokratie und Menschenrechte geraten unter Druck. Populismus, Pandemie, Politikverdrossenheit: Wie geht es weiter? Teil 2 einer Serie zur Zukunft Europas.

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Klimawandel, Digitalisierung, künstliche Intelligenz, soziale Ungleichheit: Die eben angebrochenen 2020er-Jahre sind entscheidend, sagt der Menschenrechtler Manfred Nowak. Helfen neue Grundrechte bei der Bewältigung der aktuellen Krisen?

profil: Der Jurist und Schriftsteller Ferdinand von Schirach erfindet sechs neue Grundrechte, etwa auf eine gesunde Umwelt oder auf digitale Selbstbestimmung. Medien und Rechtsprofessoren überschlagen sich vor Begeisterung. Ist das ein großer Wurf?
Nowak: Die EU steckt in einer tiefen Krise. Es ist kühn, mit sechs zusätzlichen Artikeln für die europäische Grundrechtecharta die Probleme anzusprechen, die uns herausfordern. Aber es ist genau das, was wir jetzt brauchen, gerade in einer Zeit, in der Politiker nur bis zur nächsten Wahl denken.

profil: Die 2000 proklamierte „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ genügt nicht mehr?
Nowak: Wir müssen hier zwei Verträge auseinanderhalten: Die Europäische Menschenrechtskonvention ist 50 Jahre älter als die Grundrechtecharta, in der es gewisse soziale Grundrechte gibt, sogar eine Verpflichtung der Union, die Umwelt zu schützen. Aber das reicht nicht. Menschen, die sich gegen schädliche Umwelteinflüsse wehren wollen, haben sogar Beschwerden an den Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte erhoben. Dieser versucht dann jedes Mal krampfhaft, sich mit dem Recht auf Privatheit oder dem Recht auf Leben zu behelfen.

profil: Gibt es dieses Recht auf eine gesunde Umwelt irgendwo auf der Welt?
Nowak: Die Organisation der Afrikanischen Einheit (heute: Afrikanische Union) hat schon 1981 in der Afrikanischen Charta der Rechte der Menschen und Völker ein kollektives Recht aller Völker auf eine gesunde und lebenswerte Umwelt geschaffen. In Europa und in der UNO hat man abgewinkt, das sei utopisch  und nicht durchsetzbar. Als in Nigeria das Niger-Delta durch Shell und andere Ölfirmen verschmutzt und die indigene Bevölkerung vertrieben wurde, stellte man eine Verletzung dieses Rechts auf eine gesunde Umwelt fest. Nigeria wurde verurteilt. Man kann das also sehr wohl judizieren und durchsetzen.

profil: Wie soll das in Europa gelingen?
Nowak: Von Schirach will eine Bewegung in allen 27 EU-Mitgliedstaaten, die Druck auf die eigenen Regierungen ausübt. Deshalb sind die Grundrechte so einfach formuliert. Alle Menschen sollen sie verstehen. Wir müssen die junge, demokratiemüde Generation ansprechen. Viele gehen nicht mehr zu Wahlen, weil sie mit dem heutigen politischen System nichts anfangen können. Die Fridays-for-Future- oder Black-Lives-Matter-Bewegung aber zeigt, dass sich junge Menschen sehr wohl engagieren.

profil: Die vorgeschlagenen Rechte richten sich an Europäer, die in einer gesunden Umwelt leben und nachhaltig konsumieren wollen. Um Leiharbeiter, Roma oder Flüchtlinge geht es nicht. Sind die ausreichend geschützt?
Nowak: Nein, sicher nicht. Von Schirach ist glühender Europäer und setzt sich dafür ein, dass sich die EU ändert. Es ist trotzdem kein elitäres Projekt. Mit dem Artikel 5 zur Globalisierung etwa, der transnationale Unternehmen stärker an die Menschenrechte binden will, erhalten nicht nur ausgebeutete Menschen in Europa, sondern auch in der Lieferkette Rechte, die über die Europäische Grundrechtecharta umgesetzt werden sollen.

profil: Artikel 1 formuliert nun ein Recht auf eine gesunde Umwelt. Heißt das, jeder Baum muss bleiben und Kraftwerke dürfen nicht mehr gebaut werden?
Nowak: Nein, das heißt nicht, dass wir nichts mehr machen dürfen. Es gibt die Pariser Klimaziele, die Sustainable Development Goals, den Weltklimarat. Eine radikale Reduktion der -Emissionen erreichen wir nur mit einer grundlegenden Umgestaltung der Weltwirtschaft. Es gibt erste Klimaklagen.  Portugiesische Kinder haben nach den verheerenden Waldbränden gegen 33 Staaten beim EGMR eine Beschwerde eingebracht, die für zulässig erklärt wurde. Europa könnte der Kontinent sein, wo die Menschen auch in 30 Jahren noch eine halbwegs lebenswerte Umwelt haben werden.

profil: Ein weiteres Grundrecht betrifft die digitale Selbstbestimmung. Ist die Frage, wer über Daten verfügen darf, nicht ohnedies mit dem Datenschutz zu klären?
Nowak: Der entscheidende Satz lautet: „Die Ausforschung und Manipulation von Menschen ist verboten.“ Mit der Datenschutz-Grundverordnung hat die EU einen Schritt gesetzt. Aber es geht um viel mehr. Durch die Verknüpfung von Daten werden unsere Profile geschärft, um uns mit Angeboten zu manipulieren. Dem gilt es einen Riegel vorzuschieben.

profil: Gilt das nicht für jede personalisierte Werbung?
Nowak: Natürlich, aber es geht vor allem um Angebote und politische Werbung, die an flüchtige Gemütszustände wie Wut oder Trauer oder beim Adressaten vermutete Empfänglichkeiten anknüpfen und Gehirnaktivitäten beeinflussen. Das klingt utopisch, wird aber praktiziert.

profil: Sind wir Facebook, Google & Co nicht längst rettungslos ausgeliefert?
Nowak: Wir sind nie verloren. Die Menschenrechte haben immer auf Bedrohungen reagiert und bei dramatischen Entwicklungen eingegriffen. So haben wir
etwa eine Konvention für Biomedizin erlassen, um das reproduktive Klonen oder Geschäfte mit Organen zu verbieten, als das teilweise schon passierte. Der Österreicher Max Schrems hat mit einer Klage einige Forderungen gegenüber Facebook durchgesetzt. Ein Recht auf digitale Selbstbestimmung würde dabei helfen.

profil: Sollen Internet-User vor Google & Co geschützt werden oder darf auch die Polizei nicht mehr fahnden?
Nowak: Natürlich müssen auch Behörden darauf achten, welche Daten verarbeitet, verknüpft und weitergegeben werden. Das abschreckendste Beispiel ist China, wo unglaublich viele Daten für eine lückenlose Überwachung verknüpft werden.

profil: Das Arbeitsmarktservice setzt künstliche Intelligenz ein, um zu entscheiden, wer gefördert wird. Ist da nicht ohnedies der Programmierer zu belangen?
Nowak: Wir leben in einer Welt, wo viele selbststeuernde Systeme Entscheidungen treffen. Das gefährlichste Beispiel sind Kriegsroboter, wo nicht mehr ein Mensch im CIA-Hauptquartier auf den Knopf drückt, sondern aufgrund eingespeicherter Gefährdungsszenarien jemand abgeschossen wird. Künstliche Intelligenz ist in vielen Bereichen eine Hilfe, aber wir müssen einschreiten, wo Menschenrechte verletzt werden, und darauf pochen, dass wesentliche Entscheidungen ein Mensch trifft. In Algorithmen, die etwa entscheiden, wer die größten Chancen am Arbeitsmarkt hat, können Rassismen drin sein. Die Haftung des Programmierers kommt zu spät. Wir müssen beim Produkt und einem einklagbaren Recht ansetzen, dass solche Algorithmen nicht verwendet werden.

profil: Es soll auch ein Recht geben, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen (Artikel 4): Dürfen Politiker dann nicht mehr flunkern?
Nowak: Jeder kann sich irren. Wenn der amerikanische Ex-Präsident Trump allerdings behauptet, ihm sei die Wahl gestohlen worden, ist das eine glatte und gefährliche Lüge. Auf dieser Basis haben seine Fans das Kapitol gestürmt. Leider haben wir auch in Europa viele kleine Trumps. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sagt, George Soros sei schuld, dass so viele Migranten nach Europa kommen. Das ist schlicht falsch und könnte dann eingeklagt werden. Bürger und Bürgerinnen sollen darauf vertrauen können, dass ihnen Amtsträger der Verwaltung, der Regierung oder der Gerichtsbarkeit keine Lügen auftischen.

profil: Politiker werden abgestraft, indem sie nicht gewählt werden. Es ist Aufgabe von Medien, sie der Lüge zu überführen. Sollen das wirklich Gerichte übernehmen?
Nowak: Die Medien, die in Österreich faktenbasiert, objektiv und investigativ recherchieren, kann man leider an zwei Händen abzählen. In der gewaltenteilenden Demokratie war es immer eine wichtige Aufgabe der Gerichte, die Exekutive zu kontrollieren. Der Verfassungsgerichtshof könnte einen Minister jetzt schon absetzen, wenn er grob rechtswidrig und schuldhaft gehandelt hat.

profil: Gibt es auch gute Gründe zu lügen?
Nowak: Es gibt natürlich Staatsgeheimnisse. Aber es ist ein Unterschied, ob man eine Information nicht geben kann oder bewusst eine falsche gibt. Ich glaube nicht, dass eine Behauptung falscher Tatsachen durch Menschen, die ein öffentliches Amt ausüben, zu rechtfertigen ist.

profil: Dass Waren und Dienstleistungen nur unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden dürfen – Artikel fünf – klingt super …
Nowak: … ist auch super. Es sollen universelle Standards gelten. Die Menschenrechte wurden erfunden, als der Staat als größte Bedrohung gesehen wurde. Heute haben transnationale Unternehmen mehr Macht als Staaten. Und Menschenrechte werden dort verletzt, wo es Machtverhältnisse gibt.

profil: Wie kann man Konzerne an die Kandare nehmen?
Nowak: Die Vereinten Nationen arbeiten seit längerer Zeit an einem völkerrechtlichen Vertrag, durch den transnationale Konzerne direkt an die Menschenrechte gebunden werden sollen. Die USA, England, aber auch die EU stellen sich dagegen. Nicht einmal bei den privaten Militär- und Sicherheitsfirmen, die massiv Menschenrechte verletzen, konnte man sich einigen. Jetzt ist die EU immerhin so weit, ein Lieferkettengesetz zu entwickeln. Indem man europaweit regelt, dass ein T-Shirt nicht unter unwürdigsten Bedingungen hergestellt werden darf, verändert man auch die globale Ökonomie.

profil: Von Schirach schwebt vor, dass Verletzungen der Grundrechte eingeklagt werden können. Auch von einer pakistanischen Textilarbeiterin?
Nowak: Das hängt von der Umsetzung ab. Ich trete für einen Weltgerichtshof für Menschenrechte ein, und dafür, dass wir transnationale Unternehmen direkt klagen können. Diese neue Grundrechtsklage würde sich wieder nur gegen Staaten richten, diese müssten dann die Konzerne zwingen, unmenschliche Arbeitsbedingungen auch bei ihren Zulieferern in Pakistan abzustellen. Diese Klage könnte aber auch von einer pakistanischen Textilarbeiterin eingebracht werden.

profil: Die Pandemie wird die soziale Ungleichheit verstärken. Die vorgeschlagenen Grundrechte setzen dem nichts entgegen, obwohl darunter künftige Generationen leiden. Fehlt Ihnen das?
Nowak: Das ist eine Schwachstelle. Die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit ist eines der großen Probleme unserer Zeit und untergräbt die Grundfesten der Demokratie. Mit den bekannten Folgen – Populismus, Radikalisierung, Rufen nach illiberalen oder autoritären Systemen –, wie wir von Amerika und England über Ungarn bis nach Österreich sehen.

profil: Welche Anreize müsste man setzen, um die Ungleichheit zu verringern?
Nowak: In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Ungleichheit in etwa gleich geblieben, weil gegengesteuert wurde. Sogar in den Vereinigten Staaten wurden die höchsten Einkommen mit heute unvorstellbaren 90 Prozent versteuert. Am wichtigsten wäre wieder eine stärkere Progression bei der Einkommenssteuer, die berühmte Reichensteuer, außerdem Vermögens- und Erbschaftssteuern sowie Finanztransaktionssteuern.

profil: Nach der Pandemie müssen die Schulden zurückgezahlt werden. Dann droht ein Sozialstaatsabbau. Könnten Grundrechte hier Schranken setzen?
Nowak: Österreich ist an die Europäische Sozialcharta und den UNO-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte gebunden, hat aber im Unterschied zu vielen anderen europäischen Staaten kein Beschwerderecht  anerkannt. Die Kontrollen und Sanktionen sind schwach. Es ist jedoch eine Mär, dass  diese Rechte nicht durchsetzbar sind. Man muss die Möglichkeiten schaffen, wie etwa in Südafrika oder Indien, wo Menschen erfolgreich ein Recht auf eine Mindestmenge an kostenlosem Wasser pro Tag eingeklagt haben.

profil: Wir reden über neue Grundrechte. Ist die aktuell größte Gefahr nicht eher, dass immer mehr Staaten darauf pfeifen?
Nowak: Keine Frage, es gibt einen enormen Backlash. Je weniger demokratisch Staaten werden, desto mehr verletzen sie Menschenrechte. Das sieht man in Ungarn
oder Polen, natürlich auch in der Türkei, Russland und vielen anderen Staaten. Trotzdem darf man die Hoffnung nicht aufgeben. Dieses eben erst begonnene Jahrzehnt ist in so vielen Bereichen entscheidend. Das Bewusstsein, dass es höchste Zeit für ein echtes Umdenken ist, wenn wir die Erde in einem Zustand erhalten wollen, der auch für zukünftige Generationen lebenswert ist, wächst.

profil: Kritiker sagen, Menschenrechtler halten hehre Standards hoch. Was bringt das, wenn die Menschen nicht mehr mitgehen?
Nowak: Man darf diese Kritik nicht überziehen, aber es ist etwas dran. Es ist Aufgabe der Menschenrechte, benachteiligte und marginalisierte Gruppen besonders zu schützen. Dass weiße, vornehmlich männliche, durch die wirtschaftliche Entwicklung unter die Räder gekommene Bevölkerungsschichten deshalb das Gefühl haben, ihre Menschenrechte würden nicht ernst genommen werden, hat Trump zum Präsidenten gemacht. Auch in Österreich tut die FPÖ so, als würde sie sich um die Anliegen des sogenannten kleinen Mannes kümmern. Tatsächlich sind Menschenrechte universell. Sie gelten für alle gleich.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges