Niemand kann sagen, ob das Leben der Mittfünfzigerin, die am 14. Oktober im Klinikum Rohrbach gestorben ist, gerettet hätte werden können. Die zweifache Mutter erlitt einen Riss der Hauptschlagader; daraufhin wühlte sich das Blut durch ihren Körper. Die Folge eines solchen Bruchs ist eine eingeschränkte Blutversorgung, die zum Kreislaufschock führt. Die Betroffenen spüren in der Brust das, was Medizinerinnen und Mediziner als „Vernichtungsschmerz“ bezeichnen.
Der Versuch der Lebensrettung hat bei dieser Patientin nicht stattgefunden – und zwar wegen mangelnder Koordination.
Ernest Pichlbauer
Gesundheitsexperte
Es ist ungewiss, ob es diese Patientin selbst bei bester Versorgung geschafft hätte, jeder Fünfte überlebt die Operation nicht. Was jedoch gewiss ist: Die beste Versorgung wurde dieser Frau definitiv nicht zuteil. Zu dieser hochnotwendigen Behandlung, die die Oberösterreicherin akut gebraucht hätte, kam es gar nicht erst. „Die Chance auf so einen Eingriff hätte die Frau aber haben müssen“, sagt Michaela Wlattnig, Sprecherin der Patientenanwälte Österreichs. Ernest Pichlbauer, einer der führenden Gesundheitsexperten des Landes, drückt es noch klarer aus: „Der Versuch der Lebensrettung hat bei dieser Patientin nicht stattgefunden – und zwar wegen mangelnder Koordination.“
Der Tod der Frau wirft die Frage auf, wie es sein kann, dass eine Patientin mit einer derart dringlichen Diagnose nicht rechtzeitig versorgt wird. Ist ihr tragischer Tod ein Einzelfall oder offenbart er bedrohliche Abgründe in Österreichs Gesundheitssystem?
Anlass für Grundsatzdiskussion
Zum Hergang der Versorgung wurde bereits eine Untersuchung angekündigt, Gesundheitsministerin Korinna Schumann (SPÖ) hat für kommende Woche zu einem Treffen mit allen Gesundheitslandesräten geladen; es ist ein Termin, der ohnehin anberaumt war, bei dem der Fall von Rohrbach aber nun auf dem Tagesplan an erster Stelle stehen wird, wie es aus dem Ministerium heißt. Ob das reichen wird, um die Wogen zu glätten, ist fraglich. Bereits im Sommer wurde eine 40-jährige Frau, ein Vergewaltigungsopfer, vom Kepler Universitätsklinikum in Linz aus Kapazitätsgründen nicht versorgt und weggeschickt.
Wenige Tage, nachdem der aktuelle Fall aus Rohrbach bekannt geworden war, berichteten Boulevardmedien von mehreren Fällen, in denen der Notarzt zu spät kam oder Rettungsketten nicht funktioniert hätten. Unter anderem vom Sturz einer 63-jährigen bayerischen Wanderin am Traunstein, die sich lebensgefährlich verletzte; ins nächstgelegene Krankenhaus in Gmunden sei sie deshalb nicht gebracht worden, weil dort kein Platz gewesen sei – stattdessen kam sie nach Wels, wurde zunächst kritisiert. Auch hier seien die Kapazitäten nicht ausreichend gewesen, so der Boulevard – eine Skandalisierung, die Stefan Oberkalmsteiner, Ortsstellenleiter der Bergrettung und selbst am Rettungseinsatz beteiligt, nicht nachvollziehen kann. „Aus unserer Sicht ist der Abtransport gut abgelaufen, nach Gmunden kam die Frau deshalb nicht, weil bei Schädelverletzungen das Spital in Wels der richtige Ort ist.“
Aus unserer Sicht ist der Abtransport gut abgelaufen, nach Gmunden kam die Frau deshalb nicht, weil bei Schädelverletzungen das Spital in Wels der richtige Ort ist.
Stefan Oberkalmsteiner
Ortsstellenleiter der Bergrettung
Die Berichterstattung trifft einen Nerv und bietet Anlass für eine Grundsatzdiskussion über das Gesundheitswesen, von Kassenverträgen bis hin zum Wahlarztsystem. Anlass für Unmut liefern die nackten Daten, auch wenn es nicht um akute Notfälle geht: Im Klinikum Vöcklabruck beispielsweise wartet ein Kind auf eine Nasenpolypenoperation zwölf Wochen, in Wels sind es 41 Wochen; in Vöcklabruck vergehen 32 Wochen, bis man für einen Wirbelsäuleneingriff auf der Neurochirurgie drankommt, Kinder warten dort 41 Wochen auf eine Mandelentfernung.
Der Frust über das heimische Gesundheitssystem beschränkt sich aber längst nicht auf Oberösterreich. Eine landesweite Studie, die das Sozialforschungsinstitut IFES im Auftrag der Pharmafirma Sandoz kürzlich in einer repräsentativen Umfrage unter 1000 Menschen durchgeführt hat, ergab: Mehr als die Hälfte ist mit den Wartezeiten, beispielsweise für Operationen, unzufrieden; ebenso viele Menschen orten in Österreich eine Zwei-Klassen-Medizin. 81 Prozent der Befragten finden, im Gesundheitswesen braucht es mehr Personal.
Die „Kronen Zeitung“, durch die auch der Fall aus Rohrbach publik geworden war, appelliert dieser Tage gar an die Politik mit einer Art Forderungskatalog. „Menschen sterben und die Politik flüchtet sich von einem ‚Gipfel‘ in den nächsten“, heißt es darin, mit der Forderung: „Schluss mit dem Blabla: Ihr müsst jetzt handeln!“
In der Warteschleife
Es werde niemals möglich sein, das Gesundheitssystem „auf alle Eventualitäten auszurichten“, sagt Patientenanwältin Michaela Wlattnig. Doch der Fall der verstorbenen Patientin in Rohrbach, deren Tod Anstoß für die aktuelle Debatte ist, wirft ein Schlaglicht auf Abläufe, die Standard und nicht unproblematisch sind.
Es ist 18.48 Uhr, als die Mühlviertlerin im Klinikum Rohrbach eintrifft, sie ist „gehfähig und kreislaufstabil“, heißt es von der Oberösterreichischen Gesundheitsholding (OÖG), dem Krankenhausbetreiber. Es folgen Ersteinschätzung, Arztkontakt, Echokardiographie, Laborparameter und schließlich ein CT, das um 21.10 Uhr ein „hochakutes, lebensbedrohliches Krankheitsbild“ zeigt.
Unmittelbar darauf beginnt der Telefonmarathon in der Klinik Rohrbach, deren Mitarbeiter die herzchirurgischen Abteilungen in der Umgebung der 2600-Seelen-Gemeinde durchtelefonieren. Welche Einrichtung kann die Frau, die in akuter Lebensgefahr schwebt, übernehmen und behandeln? Ihre Diagnose erfordert die Behandlung durch hochspezialisiertes Personal und Gerät, über das Rohrbach nicht verfügt. Der erste Anruf geht ans Kepler Universitätsklinikum in Linz, dort jedoch ist das Herzteam zu diesem Zeitpunkt „mit einem hochkomplexen Notfalleingriff gebunden“. Es folgen Telefonanrufe in Passau, wo nichts frei ist, ebenso im Klinikum Wels-Grieskirchen. In Wels hätte es ein OP-Team gegeben, allerdings kein freies Intensivbett. Um 22.09 Uhr, also 59 Minuten nach dem CT, das das Krankheitsbild offenbarte, wird die Patientin instabil und erleidet einen Herzstillstand.
Die Klinik in Rohrbach telefoniert weiter durch: Universitätsklinikum Salzburg, Universitätsklinikum St. Pölten, Universitätsklinikum Graz, AKH Wien. „Um 22.42 Uhr erfolgte die Anforderung eines Notarzthubschraubers zur Verlegung der Patientin nach Salzburg.“ Drei Minuten später sagt Salzburg zu – doch zu diesem Zeitpunkt ist die Frau für einen Transport nicht mehr stabil genug. Die Frau stirbt, die Ärzte, die in Rohrbach – nach jetzigem Stand – rechtzeitig und richtig gehandelt haben, können ihr nur noch beim Sterben zusehen. Sie können nichts für sie tun.
Im Dickicht dieser Telefonliste stellt sich die Frage: Hat hier jemand versagt? Oder hatte die Frau tragisches Pech?
Wer mit Medizinerinnen und Medizinern spricht, hört vor allem eine Frage: Warum hat das freie Herzteam in Wels nicht operiert? Das Argument der fehlenden Intensivbetten sei keines, darum hätte man sich während der mehrstündigen OP, die die Frau wohl gebraucht hätte, kümmern können, sagt Gerhard Hochwarter, bis zum Jahr 2021 25 Jahre lang Oberarzt der Chirurgischen Abteilung am ehemaligen SMZ-Ost, der jetzigen Wiener Klinik Donaustadt. „Zum Beispiel durch die Verlegung eines Patienten, der bereits länger auf der Intensivstation liegt und stabil ist, auf eine andere Station oder notfalls in ein anderes Spital, mit Rettungsauto oder Hubschrauber.“
Ich weiß natürlich nicht, was konkret vor Ort war, aber für gewöhnlich lässt sich immer ein Intensivbett organisieren.
Barbara Friesenecker
Anästhesistin und Intensivmedizinerin
Ähnlich sieht es Barbara Friesenecker, Anästhesistin und Intensivmedizinerin in Innsbruck, sie ist auch Vorsitzende der Arge Ethik in Anästhesie und Intensivmedizin der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin. „Ich weiß natürlich nicht, was konkret vor Ort war, aber für gewöhnlich lässt sich immer ein Intensivbett organisieren.“
Die Erkrankung der Frau hätte eine „spezielle Art der Operation und in Folge eine unmittelbare, spezialisierte intensivmedizinische Therapie“ benötigt, heißt es aus der Klinik Wels. „Die OP kann nicht durchgeführt werden, ohne diese Nachsorge sicherzustellen. Eine Umschichtung war kurzfristig nicht möglich, da die Patienten diese adäquate spezialisierte intensivmedizinische Therapie benötigt haben.“
Digitales Dashboard
Dass Ärztinnen und Ärzte teilweise persönlich Spitäler durchtelefonieren, teilweise während Behandlungen, ja gar während sie operieren, sei Usus. Vielfach würde dadurch wertvolle Zeit verplempert. Die Idee, eine Art digitales Dashboard zu haben, das in Echtzeit die Kapazitäten der Spitäler anzeigt, damit man gezielter suchen kann, wäre durchaus sinnvoll, findet der Wiener Chirurg Hochwarter genauso wie die Intensivmedizinerin Friesenecker, seine Kollegin aus Innsbruck. „Das allerdings ist eine organisatorische Tätigkeit, die nicht von klinisch tätigen Ärzten gemacht werden sollte, diese müssen sich um die Patienten kümmern.
Neue Ideen bräuchte es nicht, die Politik müsste nur die bestehenden Beschlüsse umsetzen, etwa den Österreichischen Strukturplan Gesundheit (ÖSG), sagt Experte Ernest Pichlbauer. Im Jahr 2006 beschlossen, war er dazu gedacht, überregional Patientenströme zu managen, doch das sei in vielen Teilen Österreichs nie mit Leben erfüllt worden. Vielfach seien gar nicht die fehlenden Ressourcen das Problem, sondern ein Schrebergartendenken und falsche Verteilung. „Vielfach geht es mehr um Betten als um Patienten – und genau das ist das Koordinationsproblem.“