profil-Morgenpost: Wuhan an der Donau?

Während der öffentliche Raum langsam wiederbesiedelt wird, leert sich die politische No-Bullshit-Zone immer mehr.

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Guten Morgen!

Na, wie gehen Sie es an mit der Wiederbesiedlung des coronabedingt entvölkerten öffentlichen Raumes? Forsch wie ein Pionier im Wilden Westen, Motto: 40 Wagen west- respektive beislwärts? Selektiv wie ein Bundespräsident: Abstandsregel ja, Sperrstunde nein? Oder eher vorsichtig wie ein kaltwasserscheuer Badegast zu Saisonbeginn: Lieber nur eine Zehe ins Schwimmbecken bzw. ins Einzelhandelsgeschäft halten?

Wenn man gleichzeitig sowohl aus dem Ausnahme- in den neuen Normalzustand zurückkehrt, als auch vom Land in die Stadt, stellt sich diese Frage besonders eindringlich. Als ich Mitte Mai ein zwischenzeitlich familiär bedingt angetretenes Seuchenexil in einem Bundesland wieder Richtung Wien verließ, deutete die Nachrichtenlage ja gerade darauf hin, dass dort gerade ein Wuhan an der Donau im Entstehen war.

Welche Nachrichtenlage?, fragen Sie jetzt vielleicht. Naja, diejenige, die man aus den gramzerfurchten Gesichtern, den bebenden Stimmen und den sorgenvoll gerungenen Händen der ÖVP-Regierungsmannschaft ablesen konnte, deren Minister seit Wochen ein selbstloses Hilfsangebot nach dem anderen an die zum Untergang verdammte Bundeshauptstadt richten. Wer würde noch am Ernst der Lage zu zweifeln wagen, wenn Karl „Flex“ Nehammer glaubt, als Hilfskrankenschwester ranzumüssen?

Die Rückkehr in die Stadt war gar nicht notwendig, um folgendes festzustellen: Das ist Bullshit. Zwar wäre es unverantwortlich, im Hinblick auf das Coronavirus bereits Entwarnung zu geben. Es deutet derzeit aber auch nichts darauf hin, dass sich in Wien gerade eine zweite Infektionswelle auftürmt wie ein Tsunami nach dem Seebeben, und das die Stadt dieser Gefahr schutzlos ausgeliefert ist. In Öffis und Geschäften halten sich fast ausnahmslos alle an die Maskenpflicht, in Lokalen und Schulen werden die Abstandsregeln offenbar beachtet. Und auch der alarmierende Anstieg der Corona-Erkrankungen, der immer wieder insinuiert wurde, lässt sich nicht wirklich nachvollziehen. Seit Anfang Mai lag die Zahl der neuen Ansteckungen in der 1,9-Millionen-Einwohner-Stadt Wien bei durchschnittlich 24 pro Tag (Tendenz: sinkend), die meisten davon erfolgten innerhalb von Familien und an einem einzelnen Infektionsherd, dem Postverteilungszentrum Inzersdorf.

Man braucht kein Politologe zu sein, um in der Schwarzmalerei der Türkisen vor allem den (einigermaßen durchsichtigen) Versuch zu erkennen, dem roten Wien im Wahlkampf vergiftete Unterstützungsangebote zu machen, um den Verantwortlichen Hilflosigkeit und Inkompetenz bei der Corona-Vorsorge anzudichten.

Was das politisch bedeutet, können und sollen sich die Beteiligten am besten selbst ausmachen. Für alle anderen gilt jedoch: Wo immer Sie auch leben, am Land, in der Stadt oder da wie dort – lassen Sie es sich dadurch nicht vermiesen, den öffentlichen Raum neu zu erobern, und tun Sie das frohgemut, aber mit der Vorsicht des frühen Badegasts.

Forschen Pioniergeist braucht es ohnehin anderswo: Bei der Wiederbesiedelung der politischen No-Bullshit-Zone. Die war zwar immer recht schütter bewohnt. Aber mittlerweile steht sie fast völlig leer.

Haben Sie einen schönen Tag!

Martin Staudinger

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