Ein Rohbericht des Rechnungshofs wirft Fragen zu Intransparenz und mangelnder Sparsamkeit im Gesundheitssystem auf. Die Ärztevertreter wehren sich gegen den Vorwurf der Blockade.
Ein Rezept per Anruf bestellen, statt lange in der Hausarztpraxis zu sitzen? Das ist auch nach dem Ende der Coronapandemie möglich. Denn Ärztinnen und Ärzte können ihre Leistung auch ohne gesteckte e-Card abrechnen. Manchmal dürften sie dabei zu großzügig gewesen sein: Schon 2023 erinnerte die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) in einem Brief ihre Vertragsärztinnen und -ärzte daran, dass eine Terminvereinbarung allein noch keine medizinische Leistung sei.
Nun kritisiert auch der Rechnungshof (RH) in einem Rohbericht, der ORF und profil exklusiv vorliegt, dass unklar sei, wie viele der Abrechnungen tatsächlich medizinische Leistungen waren – und warnt vor wachsender Intransparenz und steigenden Kosten. Die Datenlage zu abgerechneten Leistungen sei unzureichend, heißt es in dem Bericht: Der ÖGK würden „wesentliche Grundlagen zum Controlling der verrechneten Leistungen“ fehlen. Viele unterschiedliche Leistungen mit unterschiedlichen Tarifen je nach Bundesland. Die zentrale Empfehlung der Prüfer: Es braucht bundeseinheitliche Regelungen.
Seit Jahren streiten ÖGK und Ärztekammer um einen einheitlichen Gesamtvertrag, der die Honorare der größten Krankenkasse für den niedergelassenen Bereich in ganz Österreich regeln soll. Bisher ohne Erfolg. Der Rohbericht des Rechnungshofs und die Berichterstattung von ORF und profil bringen nun eine neue Dynamik in die Verhandlungen: Die ÖGK sieht sich in ihrer Verhandlungsposition gestärkt, die Ärztekammer baut mit einem Warnstreik in Kärnten eine Drohkulisse auf. Welche Lücken zeigt der Bericht auf? Und wo deuten sich Lösungen an?
Der RH empfiehlt drastische Maßnahmen, um eine baldige Einigung beim Gesamtvertrag zu erreichen: Das Gesundheitsministerium solle „eine Regierungsvorlage zur Änderung der Rahmenbedingungen vorbereiten, etwa mit dem Entfall der Zustimmung der einzelnen Landesärztekammern“. Das würde die Landesärztekammern massiv entmachten. Eine Einigung könnte dann nicht mehr an ihrem Veto scheitern.
Die Berichterstattung von ORF und profil hat überdies politische Folgen: Die zuständige Staatssekretärin für Gesundheit Ulrike Königsberger-Ludwig (SPÖ) will nun mit Verweis auf das Regierungsprogramm „auch in die Richtung diskutieren“, die Landesärztekammer zu entmachten. Rückenwind erhält die Sozialdemokratin von der Opposition. Ex-Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) sieht die Entmachtung als „Grundvoraussetzung, um dorthin zu kommen“. Die FPÖ signalisierte ebenfalls ihre Unterstützung.
Die Koalitionspartner ÖVP und Neos geraten unter Druck. „Im Rahmen der Reformpartnerschaft werden die Finanzierungs- und Abwicklungswege im Gesundheitssystem nun überarbeitet“, betont Neos-Gesundheitssprecherin Fiona Fiedler. Die Volkspartei wollte die Empfehlung des Rechnungshofs gegenüber profil nicht kommentieren. Stattdessen scheint man darauf zu setzen, dass sich Ärztekammer und Gesundheitskasse selbst einigen.
Eiszeit mit Brandgefahr
Die Ärztekammer sieht das Problem hingegen, wenig überraschend, nicht bei sich oder ihren Landesverbänden: Die Interpretation des Rechnungshofs sei „überhaupt nicht“ nachvollziehbar, sagte Edgar Wutscher, Obmann der Bundeskurie niedergelassener Ärztinnen und Ärzte. Sein Stellvertreter Dietmar Bayer pflichtete bei: „Auch bei der Sozialversicherungsanstalt der Selbstständigen und der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau haben die Landesärztekammern zugestimmt. Ich wüsste nicht, warum sie bei der ÖGK nicht zustimmen sollten.“
Wenn hier keine Lösung kommt, wird sich der Flächenbrand in Österreich ausbreiten.
Johannes Steinhart
Präsident der Österreichischen Ärztekammer
Davor müssten Ärztekammer und Gesundheitskasse aber erst einmal verhandeln. Die Positionen sind festgefahren: Bereits vor fünf Jahren hat die Ärzteschaft einen neuen Leistungskatalog vorgelegt, der Kasse sind die geforderten Honorare viel zu hoch. Vor zwei Jahren kühlte das Gesprächsklima so sehr ab, dass die Verhandlungen gänzlich einfroren, sagt Wutscher. Umso mehr freute sich der Tiroler Arzt Mitte August über ein aus seiner Sicht konstruktives Gespräch mit ÖGK-Obmann Andreas Huss, Gesundheitsministerin Korinna Schumann (SPÖ) und Staatssekretärin Königsberger-Ludwig.
Mit einem raschen Ergebnis rechnet die Ärztekammer dennoch nicht. Denn bevor über den einheitlichen Gesamtvertrag diskutiert werden könne, müsste die ÖGK Ärztinnen und Ärzten erst in allen Bundesländern eine Tarifanpassung der letzten zwei Jahre zugestehen, findet die Kammer. Das gleich im neuen Gesamtvertrag zu machen, gehe sich nicht aus: „Bis wir das System komplett umgestellt haben, würde ich mit fünf Jahren rechnen“, sagt Wutscher: „Die Inflationsabgeltung für die Ärzte brauchen wir jetzt.“ Ärztekammer-Präsident Johannes Steinhart warnt mit Blick auf den Mediziner-Streik in Kärnten: „Wenn hier keine Lösung kommt, wird sich der Flächenbrand in Österreich ausbreiten.“
Teure Unterschiede
Fest steht: Das Gesundheitssystem steht an der Kippe. Die Kosten und Honorare steigen, während die Kasseneinnahmen sinken. Eine alternde Bevölkerung benötigt eine hochwertige medizinische Versorgung. Doch die Aufwendungen der ÖGK stiegen laut Rechnungshof vor allem bei den 20- bis 49-Jährigen, die seit der Pandemie überproportional öfter den Arzt besuchen. Eigentlich ist das sogar gewollt: Patientinnen und Patienten sollen seltener ins Spital und öfter in den niedergelassenen Bereich, also zu Haus- und Fachärztinnen und -ärzten gehen. Da die ÖGK die Spitäler aber mit einem Pauschalbetrag finanziert, im niedergelassenen Bereich aber pro e-Card-Steckung zahlt, ist diese Verschiebung für die Kasse teuer.
Von 2018 bis 2023 hatte die Krankenkasse allein in Wien laut Rechnungshof Mehrausgaben von mehr als 100 Millionen Euro. Am zweithöchsten war dieser Aufwandsüberhang in Niederösterreich mit 40 Millionen Euro. Hintergrund war laut Rechnungshof, dass in Wien die Zahl der gesteckten e-Cards besonders stark anstieg und mehr sowie teurere Leistungen pro Konsultation verrechnet wurden: In Wien sorgte dieser „Mengeneffekt“ von 2019 bis 2023 für ein Kostenplus von 20,6 Prozent. Der Österreich-Schnitt lag nur bei 14,8 Prozent.
Schon 2018 schloss die damalige Wiener Gebietskrankenkasse einen Gesamtvertrag für drei Jahre ab. Der RH hält dazu fest, dass die prognostizierten Honorarsteigerungen schon damals deutlich über den erwarteten Einnahmen lagen. Finanziell begründet wurden die Tarifanpassungen durch eine Kofinanzierung des Landes Wien – die allerdings zeitlich befristet war. Der RH wies darauf hin, „dass die Honorarsteigerungen die nachhaltige Gebarung der ÖGK gefährden konnten“. Während in den Jahren 2019 und 2020 Zuzahlungen von rund 13 Millionen Euro vom Land Wien flossen, versiegten im Folgejahr die Zuschüsse. Die Kasse blieb auf dem Gros der Kosten sitzen.
Behandlung im Akkord
Der Rechnungshof nahm auch die Auslastungen im niedergelassenen Bereich genau unter die Lupe. Dabei stellte der RH ein breites Spektrum fest: So steckten in der kleinsten allgemeinmedizinischen Praxis im Jahr 2022 nur 165 Patientinnen und Patienten zum ersten Mal im Quartal ihre e-Card. Der durchschnittliche Median lag im selben Jahr bei 6461 Erstpatientinnen und -patienten, schreibt der Rechnungshof mit Bezug auf den Dachverband der Sozialversicherungsträger. Bei einer Mindestöffnungszeit von 20 Stunden pro Woche bleiben demnach einer Praxis rund zehn Minuten pro Patientin oder Patient.
Bei den extremsten Ausreißern wirkt selbst das wie ein unerreichbarer Luxus: Laut Statistik betreute eine einzelne allgemeinmedizinische Praxis 31.133 Erstpatientinnen und -patienten. Würde man auch hier nur zehn Minuten pro Behandlung ansetzen, müsste die Ordination an sieben Tagen die Woche jeweils zwölf Stunden geöffnet sein.
Wie das möglich ist? In der Statistik werden verschiedene Abrechnungseinheiten miteinander verglichen – von der klassischen Ordination über Gruppenpraxen, Primärversorgungseinheiten bis zu Ordinationen mit mehreren angestellten Ärztinnen und Ärzten, erklärt der Dachverband der Sozialversicherungsträger auf profil-Anfrage. Auch Labors könnten zu einer hohen Zahl an Erstquartalspatientinnen und -patienten führen. Einzelne Detailergebnisse will man derzeit aber nicht kommentieren, stattdessen werde man bis 4. Oktober eine Stellungnahme zum Rohbericht des Rechnungshofs abgeben.
Der Rechnungshof beobachtete nicht nur mehr e-Card-Steckungen, sondern auch eine auffällige Steigerung bestimmter Leistungen in Wien. So wurden etwa 2018 noch rund 15.000 oberflächliche Geschwülste in Wien entfernt. 2023 waren es mit 47.000 fast dreimal so viel. Und für die Muttermalkontrolle gab die ÖGK laut Rechnungshof in Wien 2023 22,75 Mal mehr pro Anspruchsberechtigtem aus als im Rest des Landes.
Die ÖGK will dazu erst in einer umfangreichen Stellungnahme an den Rechnungshof Auskunft geben.
Wie lange selbst kleine Reformen im Gesundheitssystem brauchen, zeigt ein Detail: 100 neue Kassenstellen hatten ÖVP und Grüne bis zum Ende des Jahres 2023 versprochen. Mit Ende Juli 2025 waren 75 davon auch besetzt (siehe Grafik Seite 31). Ein Viertel der Stellen ist immer noch unbesetzt, für sieben davon gibt es nicht einmal aktuelle Bewerbungen. Bei ihnen wird laut ÖGK eine Änderung des Fachgebiets oder eine Verlegung des Standortes geprüft.
Zeit heilt viele Wunden, aber nicht alle Versorgungslücken.
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Max Miller
ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und mag Grafiken. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.