Titelgeschichte

Pflegschaft: Mein Kind der anderen Eltern

Pflegeltern werden händeringend gesucht. Im Unterschied zu Adoptiveltern können sie ihr Kind wieder an die biologischen Eltern verlieren. Das schreckt viele ab. Die Praxis zeigt: Dazu kommt es fast nie.

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„Sie haben als Säuglinge aufgehört, in der Nacht zu schreien, weil sie gelernt haben, es kommt eh niemand. Sie haben strohige Haare, leere Blicke, blasse Wangen. Bei den Pflegeeltern fangen ihre Augen wieder an zu glänzen, die Wangen werden rot, sie schreien, wenn sie hungrig sind.“

Martina Reichl-Roßbacher erzählt von Babys und Kleinkindern, die ihren Eltern abgenommen und an Pflegeeltern übergeben wurden. Seit 25 Jahren leitet sie den Bereich Pflege und Adoption in der Wiener Kinder- und Jugendhilfe MA11. Sie ist so etwas wie die Ober-Pflegemama der Stadt. Nächstes Jahr geht sie in Pension. „Ich wollte nie etwas anderes machen. Es ist für mich das Schönste, zu sehen, wenn Kinder wieder Kinder werden.“ In den Vorbereitungskursen der MA 11 wird angehenden Pflegeeltern mit Vorher-Nachher-Bildern vor Augen geführt, wie chronisch unterversorgte Kinder wieder zu neuem Leben erwachen. Nicht selten fließen dabei Tränen. Die Vorbereitungskurse für Pflegeeltern sind intensiv und dauern neun Monate – so lange wie eine Schwangerschaft.

Martina Reichl-Roßbacher leitet in der Stadt Wien den Bereich Pflege und Adoption. Die "Oberpflegemama" sucht für Kinder ein neues Zuhause.

Zu vielen Babys und Kleinkindern bleibt das Aufblühen in einer neuen Familie verwehrt. In Wien stehen fünf Pflegepersonen auf der Warteliste, ein Vielfaches an Kindern wurde Eltern in jüngster Zeit abgenommen. Für jene, die übrig bleiben, wurden vier Kleinkinder-Wohngemeinschaften für jeweils sieben Kinder eingerichtet. In anderen Bundesländern ist der Engpass nicht ganz so groß, einen konstanten Bedarf melden aber auch sie.

Auf der anderen Seite stehen Eltern, die adoptieren wollen. Sie warten aktuell rund drei Jahre auf ein Kind. Auf Pflegekinder müssen Eltern nicht warten, die Pflegekinder warten auf sie. „In meiner Zeit kamen auf ein Adoptionskind 80 Bewerber. Als Alleinerzieherin hätte ich null Chance gegen eine klassische Vater-Mutter-Familie gehabt“, erinnert sich eine Alleinerzieherin, die stattdessen Pflegemutter wurde. Warum trauen sich nicht mehr Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch drüber?

Thorsten und Stephan Auer-Stüger: „Die biologische Mutter sieht uns nicht als Konkurrenz“

Als das schwule Paar vor 15 Jahren zusammen kam, war die Vorstellung eines gemeinsamen Kindes weit weg. Zuerst kam Pflegesohn Alexander, später seine Schwester Sarah. Ihre Geschichte lesen Sie hier.

Was viele abschreckt, ist die Aussicht, das Kind – im Unterschied zur Adoption – nie ganz zu „besitzen“; es womöglich wieder an die biologischen Eltern zu verlieren, wenn sich diese körperlich und geistig erfangen. „Pflegeeltern übernehmen für unbestimmte Zeit die Aufgabe der leiblichen Eltern“, heißt es auf den Informationsseiten der Kinder- und Jugendhilfen. Und dieses „unbestimmt“ ist vielen zu ungewiss. Doch in der Realität ist Pflegeelternschaft längst ein alternatives Familienmodell wie Adoption oder Patchwork geworden (siehe Porträts).

Kein „Point of no return“

„Ganz grob gesprochen gehen drei bis vier Prozent der Kinder wieder zurück“, weiß Reichl-Roßbacher aus Erfahrung. Eine belastbare Statistik fehlt. Stellen biologische Eltern doch einen Antrag auf Rückgabe des Kindes, muss das Familiengericht zwischen ihren Elternrechten und dem Kindeswohl abwägen.

Dass ein Kind nach Jahren aus seiner Pflegefamilie rausgerissen wird, kommt selten vor, ist aber nicht ausgeschlossen. Einen „Point-of-no-return“, also eine Anzahl an Jahren, nachdem eine Adoption automatisch möglich ist, gibt es in Österreich nicht. Reichl-Robacher zitiert einen aktuellen Fall, bei dem einer Mutter ihr Kind nach vier Jahren wieder zugesprochen wurde.

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Es war ihr abgenommen worden, weil sie ihr Partner ständig schlug und die Gewalt der Kindespsyche nicht mehr zumutbar war. Die Frau verließ den Gewalttäter, machte eine Therapie, fand einen Job und kämpfte dazwischen wie eine Löwin um ihr Kind. „Ihr konnte man die Rückgabe des Kindes nicht verwehren. Doch in den allermeisten Fällen können die biologischen Mütter – Väter sind selten im Spiel – nicht einmal für sich selbst gut sorgen.“ Es sind Teenager aus schwierigen Verhältnissen, die ihrer Schwangerschaft erst spät entdecken, Eltern, die an einer psychischen Erkrankung leiden oder Drogenabhängige. „Viele unserer leiblichen Eltern sterben früh“, sagt Reichl-Roßbacher.

Kein unbeschriebenes Blatt

Adoptionskinder sind wie ein weißes Blatt Papier, wenn ihre Biografie im neuen Elternhaus beginnt. Ein Pflegekind bringt seine Vorgeschichte mit - in Gestalt seiner leiblichen Eltern. Damit müssen Pflegeeltern erst einmal umgehen lernen. Sie sind oft gut situiert und kommen zum ersten Mal im Leben mit dem untersten Rand der Gesellschaft in Berührung.

Bis der Staat Eltern ihre Kinder abnimmt, muss schon viel passieren. 2022 rückte das Jugendamt alleine in Wien 12.000 Mal aus, um mögliche Gefährdungen abzuklären. 903 Kinder mussten dann tatsächlich in Krisenzentren, 136 zu Krisenpflegeeltern. In mehr als der Hälfte aller Fälle schreiten die Behörden nicht wegen körperlicher, psychischer oder sexueller Gewalt ein, sondern wegen „chronischer Vernachlässigung“.

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Journalistin Eva Zelechowski wünschte sich ein Kind so sehr, dass es weh tat, andere Eltern mit Kindern zu sehen. Dann kam Moritz in das Leben der Alleinerzieherin. Wie es ihnen geht, lesen Sie hier.

Die Szenen, die Polizisten und Sozialarbeiter bei Hausbesuchen erleben, sind nichts für schwache Nerven: Urindurchtränktes Kinderbettzeug, das über Wochen nicht gewechselt wurde, verschmierter Hundekot im Kinderzimmer, Kinder, die Müll essen. Es wird von einem zweijährigen Kind erzählt, dass sein kleines Geschwisterl gewickelt und mit Milchbrei gefüttert hat, weil die Mutter zu depressiv war, aufzustehen.

Mütter mit Drogenproblemen oder psychischen Krankheiten geraten in einen Teufelskreis. Je hungriger die Kinder, desto mehr schreien diese, desto überforderter die Mutter. Manche Kinder sind den ganzen Tag im Kinderwagen festgezurrt oder bekommen nur Süßes zu Essen. Das lässt die Zähne verfaulen.

Ein ganz spezielles Phänomen sind Frauen, die immer wieder Kinder bekommen, obwohl sie unfähig zur Obsorge sind. Sie hoffen, durch die Kraft der Geburt sich selbst zu heilen. In diesen Fällen versucht das Jugendamt, es erst gar nicht zu einer Vernachlässigung kommen zu lassen. Solche Kinder werden Pflegeeltern mitunter noch im Spital übergeben.

Nicht ohne seine Eltern

Vor der Übernahme des Kindes müssen die Pflegeeltern die biologischen Eltern treffen. Danach sind Kontakttreffen an neutralen Orten alle vier bis sechs Wochen obligatorisch, sofern die leiblichen Eltern das wollen und kooperieren. Manche finden bis ins Erwachsenenalter des Kindes statt, oft versanden sie nach zwei, drei Kontakten.

Pflegeeltern kann der Kontakt zu den biologischen Eltern helfen, zu verstehen, welches „Packerl“ die Kinder mitbringen. Am Anfang sind vernachlässigte Kinder in der neuen Umgebung oft seltsam ruhig, fast apathisch. Sie warten ab, was passiert. Wenn sie langsam ankommen, leben manche eine Wut aus, die eigentlich den verlorenen Bezugspersonen gilt. „Kinder, die nach der Geburt schlecht gesättigt waren, tendiere dazu, alles an sich zu raffen. Sie müssen erst lernen, zu teilen“, sagt Reichl-Roßbacher. Einen Teil des Packerls können Pflegeeltern ihren Kindern mit Fürsorge, Liebe aber auch Therapien abnehmen. Manche Narben heilen vielleicht nie.

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90 Prozent der abgenommenen Kinder- und Jugendlichen werden laut Reichl-Roßbacher in Pflegefamilien groß. Bei den restlichen Prozent ist nicht die Rückkehr zur leiblichen Familie Hauptgrundgrund für den Abbruch, sondern eine psychische Auffälligkeit in der Pubertät. Wenn Pflegeeltern einfach nicht mehr können, wechseln die Kinder in eine WG.

2022 lebten in Österreich 13.000 Kinder und Jugendliche in der Obhut des Staates. 60 Prozent wurden in Heimen oder Wohngemeinschaften betreut, in 40 Prozent der Fälle übertrug der Staat die Erziehung an Pflegeeltern. Ob Krisenkinder in eine Familie oder eine WG kommen, hängt oft davon ab, wie stark sie körperlich oder geistig beeinträchtigt sind.

Manche Kinder mussten nach der Geburt auf Entzug von Alkohol oder Drogen. In den Kursen haben die Kandidaten gelernt, abzuschätzen, wie klein oder groß die tatsächlichen Folgeschäden sein können. Kinder mit schweren Behinderungen schließen die meisten Pflegeeltern im Vorfeld für sich aus.

Die Auswahl des Pflegekindes

Anwärter auf ein Pflegekind müssen nicht jedes Kind nehmen. Sie können definieren, welches sie sich zutrauen und welches nicht. Was nach Selektion klingt, wird von den Behörden aktiv eingefordert. So soll vermieden werden, dass sich Pflegeeltern aus Empathie übernehmen und es später zum Bruch kommt.

In der finalen Phase der Vorbereitung gehen Pflegeeltern mit ihren Betreuern eine Art Ausschluss-Katalog durch: Unter der Frage: „Was trauen Sie sich als Pflegeeltern zu?“ steht unter anderem: „Frühgeburt, Entwicklungsrückstände, schwere Vernachlässigung, Drogenentzug, HIV, Hepatitis C, Herzfehler, Klumpfuß, Gaumenspalte, Fetales Alkohol Syndrom, körperliche oder sexuelle Gewalt am Kind.“ Die Kandidaten können bei „empfundene Belastung“ angeben: „Gering“ oder „hoch“. Früher stand dort noch „Ja“ oder „Nein“, doch das erwies sich als zu starre Selektion.

In der zweiten Rubrik wird abgefragt, welchen Hintergrund der Eltern man sich zutraut. Unter „Kulturkreis“ steht „z.B.: Hautfarbe.“ Geben Kandidaten dabei „hoch empfundene Belastung“ an, können sie im Gespräch mit der Betreuerin zum Beispiel schwarze Kinder ausschließen. Das machen zum Beispiel Frauen, die sich kein Pflegekind vorstellen können, das auch sichtbar nicht das eigene ist. Oder weil sie Angst vor Rassismus haben. Schwarze Kinder sind in Krisenzentren überproportional vertreten. Im Unterschied zu etwa türkischen Krisen-Kindern, die kaum Pflegeeltern suchen, fehlt ihnen in Österreich ein familiäres Netzwerk, das sie auffängt.

Beim Punkt „Religionszugehörigkeit“ schließen manche Kandidaten den Islam aus, wenn ihnen etwa wichtig ist, dass ihr Kind getauft wird. Das Religionsbekenntnis können nur die biologischen Eltern ändern. „Aggressive Eltern“ schließen oft alleinerziehende Frauen aus, die Angst haben, von leiblichen Vätern abgepasst zu werden.

Automatische Adoption nach drei Jahren?

Je kleiner der Kreis an potenziellen Pflegeeltern, desto schwerer haben es nicht ganz gesunde Kinder. Würde Interessierten die Angst genommen, ein Pflegekind auch nach vielen Jahren noch an die leiblichen Eltern zu verlieren, würden sich deutlich mehr melden, ist Marion Zeillinger überzeugt. Sie arbeitet seit 21 Jahren für den Verein „Eltern für Kinder Österreich“, der Pflegeltern geringfügig anstellt – sofern sie sonst nicht über 30 Stunden arbeiten. Amerika und einige EU-Länder würden Pflegeeltern die Adoption nach zwei bis drei Jahren von Staatswegen ermöglichen. Für einen solch starken Eingriff in die Elternrechte ist Österreich nicht bereit. Ob das angesichts der vielen Pflegekinder noch im Sinne des Kindeswohles ist, steht auf einem anderen Blatt.

 

Fotos: Sophie Salfinger

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.