John und Matthias, beide 9, im Summer City Camp.

Was können die österreichischen Sommerschulen?

Der Blick nach Deutschland oder in die USA zeigt: Um benachteiligten Kindern wirklich zu helfen, müssen sie besser werden.

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Mohammed, 16, hat neuerdings ein Selfie mit Bildungsminister Heinz Faßmann auf seinem Handy. Seine Schwester Lana, 15, telefoniert mit der Mutter, um ihr von der Aufregung zu berichten. Der hohe Besuch wirbelte die Abläufe im Lerncafé der Diakonie im 15. Wiener Gemeindebezirk vergangenen Donnerstag gehörig durcheinander. Das kurdische Mädchen Simav durfte zuerst „Memory“ spielen, erst dann kam das Lernen dran. Normalerweise ist es umgekehrt. Warum sind sie hier? Mohammed sagt, er spreche Arabisch, sei vor sechs Jahren nach Österreich gekommen und finde das Gymnasium „urschwer“: „Da brauche ich Hilfe.“ Die neunjährige Simav wirkt ein bisschen schüchtern, was daran liegen könnte, dass sie ihre Sprachkenntnisse für „na ja“ hält. „Ich mag keine Fehler“, sagt sie.

Die Schere zwischen Bildungsgewinnern und -verlierern wird weiter aufgehen 

Simina Melwisch-Biraescu leitet im Diakonie Flüchtlingsdienst die Bildungssparte. Kinder wie Lana, Mohammed oder Simav kommen über Beratungsstellen oder durch Mundpropaganda in eines der ihr unterstehenden Lerncafés. Drei davon gibt es in Wien, weitere in Tirol, Salzburg, Niederösterreich und im Burgenland. Über den Sommer kümmern sich hier Lehrerinnen, Freizeitpädagogen, Sozialarbeiter und Trainerinnen für „Deutsch als Fremdsprache“ um insgesamt 500 bis 700 Schülerinnen und Schüler, deren Eltern sich keine Nachhilfe leisten können. „Im Lockdown mussten wir auf Online-Lernen umstellen, was für unsere Zielgruppe extrem schwierig war“, sagt Melwisch-Biraescu. Es fehlte an Laptops, Internet-Zugängen und oft schlicht an einem Tisch. Noch ist das Ausmaß der pandemiebedingten Rückschläge gar nicht erhoben, aber es zeigt sich bereits, dass es die Schwächsten am härtesten trifft. So gut wie alle Experten rechnen damit, dass die Schere zwischen Bildungsgewinnern und -verlierern weiter aufgehen wird.

Um der Ungleichheit Einhalt zu gebieten, rief das Bildungsministerium im Vorjahr eine Sommerschule ins Leben und packte sie in verheißungsvolle Überschriften. Nun geht das Vorhaben in die zweite Runde. Laut einem „Workbook“ für das pädagogische Personal soll sie „drohenden Bildungsnachteilen entgegenzuwirken“, einen „selbstbewussten Umgang mit der Unterrichtssprache fördern“, Lücken in Deutsch, Mathematik und im Sachunterricht – bei den Jüngeren – sowie in der Allgemeinbildung – bei den Älteren – wettmachen. Die Ziele sind hochgesteckt. Werden sie eingelöst? 

Die Sommerschulen seien kein Kind der Covid-Krise, erfährt man von Birgit Ponath, Projektleiterin im Bildungsministerium: „Sie waren im Regierungsprogramm bereits abgebildet, durch Corona hat sich ein vorzeitiger Handlungsbedarf ergeben.“ Die Sommerschulen seien „gekommen, um zu bleiben“, erklärte Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) vor Wochen. Die gesetzliche Basis dafür wird gerade ausgearbeitet. Werden sie zur fixen Einrichtung, ergänzen sie künftig jene Palette an Lern-Camps, Sportwochen und freizeitpädagogischer Betreuung, die  meist nur für viel Geld zu haben war. 

Neu erfinden musste die Regierung das Rad nicht. In den USA, Großbritannien und Deutschland gibt es Sommerschulen seit Jahrzehnten, nebst hitzigen Debatten über das Für und Wider der „großen Ferien“. Fast überall stehen benachteiligte Kinder im Zentrum, viele von ihnen haben Migrationserfahrung. Sie sind es vor allem, die Studien zufolge nach der Sommerpause, die hierzulande neun Wochen, in Amerika bis zu zwölf Wochen dauert, schwer in den schulischen Alltag zurückfinden und Gelerntes vergessen haben. Viele Sommerschulen werden von Stiftungen gesponsert, die mit Argusaugen darüber wachen, dass sich ihre Investitionen lohnen. Wie nachhaltig sie wirken, wird penibel dokumentiert und überprüft.

Die Evaluierung steht bis dato aus

Wie gut sind die österreichischen Sommerschulen, die heuer zum zweiten Mal aufsperren? Die Antwort ist: Besser als nichts zweifellos, wie wirksam sie sind, weiß allerdings niemand. Eine ordentliche Evaluierung – eine unabhängige Überprüfung, ob das, was man erreichen wollte, tatsächlich erreicht wurde – steht bis dato aus. Sehr zum Ärger und Erstaunen der Fachwelt. Als vergebene Chance wertet dies Christiane Spiel, Bildungsforscherin und Evaluierungsexpertin an der Universität Wien: „Das sollte man im Sinne der Steuerzahler dringend nachholen, jede Maßnahme wird besser, wenn sie wissenschaftlich begleitet und evaluiert wird.“

Wer wissen will, von welchen „Aufholprogrammen“ Bildungsverlierer am meisten haben, muss über die Grenzen blicken, sagt Barbara Herzog-Punzenberger, Professorin am Institut für Schulforschung an der Universität Innsbruck. Die österreichische Sommerschule komme im Lichte auswärtiger Befunde nicht gut weg: „In der aktuellen Ausgestaltung ist sie für Kinder vor allem eine Ferienbeschäftigung, die nichts kostet, und für Lehramtsstudierende eine gute Möglichkeit, sich in der Praxis zu bewähren. Man sollte nicht hoffen, dass sich damit Lernrückstände aufholen lassen. Dazu wissen wir zu gut, was es dafür braucht.“

Vier Stunden zehn Tage lang sind ein Minimalprogramm. Das Gros der internationalen Sommercamps ist ganztägig und zieht sich über mehrere Wochen. Auch das Personal ist entscheidend. Das Bildungsministerium setzt auf Studierende, die damit gelockt werden, dass ein Sommerschulen-Einsatz als Praxis für das Studium angerechnet wird. Anderswo arbeiten angehende Pädagoginnen an der Seite von Kollegen, die am Terrain kultureller Vielfalt ausgebildet sind. Das ist hierzulande selbst angesichts von 30 Prozent Kindern mit Migrationserfahrung in den Klassen (in Wien sind es 50 Prozent) keineswegs selbstverständlich, wie ein Anruf bei Beatrice Müller und Hannes Schweiger, die sich am Institut für Germanistik der Uni Wien auf „Deutsch als Zweitsprache“ spezialisiert haben, bestätigt: „Studierende im vierten Semester sind dafür nicht ausgebildet. Zu bewältigen wäre die Aufgabe nur im Tandem mit erfahrenen Lehrkräften, darauf wird jedoch keine Rücksicht genommen.“ 

„Die Sommerschule ist gekommen, um zu bleiben.“

Heinz Faßmann, ÖVP-Bildungsminister

Im Bildungsministerium verweist man auf teils hymnische Rückmeldungen aus einer Online-Befragung unter Studierenden, die im Vorjahr in der Sommerschule unterrichteten. Der Tenor, so Projektleiterin Ponath: „Man bekommt eine Gruppe anvertraut, formt sie und verabschiedet sie. Das ist wie ein Mini-Schuljahr im Schnelldurchlauf.“ Als eher „mittelmäßig“ empfanden die Befragten hingegen die Vorbereitung auf ihren Praxiseinsatz. Soll die Abbrecherquote gering und der Lernfortschritt groß gehalten werden, gilt Diagnostik freilich als unverzichtbar: Wo stehen die Kinder? Welche Probleme haben sie? Wie muss der Unterricht ausschauen? „Kopf, Hand, Herz, so lautet die pädagogische Regel. Wird alles angesprochen, ist die Wirkung am höchsten“, sagt Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie. Daran hat sich das Konzept der heimischen Sommerschule zwar gehalten. So ist vorgesehen, dass die Kinder am Ende ein Theaterstück, ein Video oder ein Kochbuch „zum Herzeigen“ haben. Die grüne Bildungssprecherin Sibylle Hamann, die sich für die Sommerschule politisch ins Zeug legte, schmerzt es deshalb, wenn sie als Paukkurs oder gar Boot-Camp missverstanden wird: „Im Zentrum steht, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der Unterrichtssprache Deutsch und in mathematischen Grundkompetenzen zu stärken. Die Selbstermächtigung  ist aber genauso wichtig.“

„Man sollte nicht hoffen, dass sich damit Lernrückstände aufholen lassen. Dazu wissen wir zu gut, was es dafür braucht.“

Barbara Herzog-Punzenberger, Bildungsforscherin

Diesen Anspruch löst die österreichische Sommerschule nur bedingt ein. Ganztägige Modelle würden vor allem sozial Schwächeren nützen, scheitern aber an der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern. Das Ministerium ist für die vier Vormittagsstunden zuständig. Die Gestaltung des Nachmittags obliegt den Ländern. „Verschränkungen von Unterricht und Freizeit und multiprofessionelle Teams sind in diesem Setting kaum möglich“, bedauert Sonja Lenz, Bildungsforscherin der Universität Linz. Psychologinnen, Sozialarbeiter und Freizeitpädagoginnen, die an der Seite von erfahrenen Pädagogen arbeiten, gibt es derzeit nur in den von der Stadt Wien ausgerichteten „Summer City Camps“. Geht es nach Heidemarie Schrodt, ehemalige AHS-Direktorin und Initiatorin des Vereins „Bildung grenzenlos“ „müssen sich die Sommerschulen des Ministeriums jedenfalls in diese Richtung bewegen“.

"Ich weiß nicht, wo ich sonst hingehen soll"

Sophie, 9, war schon im Vorjahr da. „Meine Eltern arbeiten jeden Tag. Ich weiß nicht, wo ich sonst hingehen soll.“ Für Emily, 9, ist es das erste Mal. Die Mädchen landeten im Summer City Camp in Wien-Hernals und freundeten sich an. Sophie geht in den Mathe-Kurs, Emily in Deutsch, beim Spielen aber sind sie unzertrennlich. Heute haben sie schon „Stille Post“ gespielt, sind auf dem Skateboard gestanden, haben addiert und multipliziert und vor dem Mittagessen ein achtseitiges „profil“ gebastelt, um die Journalistin damit zu empfangen. Matthias und John, beide ebenfalls 9, beide mit Knie- und Ellbogenschützern, unterbrechen ihren Sportworkshop für ein Interview. Er sei hier, weil „Papa mich glücklich machen und zum Lernen bringen will“, erklärt John. Der erste Teil der Übung scheint gelungen. Er habe einen Freund gefunden, sagt John, und legt den Arm um Matthias. Und „Spaß“ habe er auch schon reichlich gehabt. 

Mario Rieder ist Geschäftsführer von „Bildung im Mittelpunkt“, einer Plattform für die freizeitpädagogischen Programme der Stadt Wien. Vor drei Jahren entwickelte er die Summer City Camps mit. Sie sollten inklusiv und leistbar sein. Nur 50 Euro kostet die Woche pro Nase, ab dem zweiten Kind reduziert sich der Beitrag auf die Hälfte. Um die 35 Standorte in Wien zu bespielen, arbeitet seine Organisation mit Trägern wie „Hi Jump“ zusammen. Hi-Jump-Geschäftsführer Stefan Neugeboren: „Es zieht sich durch unser Konzept, dass auch Kinder ins Museum kommen oder Schwimmen lernen, denen diese Möglichkeiten sonst fehlen. Wir wissen aus vielen Gesprächen, dass sie zu Hause oft nur vor dem Fernseher sitzen und nichts mit ihnen passiert.“ In der Corona-Krise wurde die Lernschiene auf Volksschüler ausgedehnt. Die Erwartungen sind allseits so hoch, dass Rieder sie sogleich dämpft: „Die Defizite der Pandemie können wir nicht in wenigen Wochen kompensieren. Wenn wir es schaffen, dass Kinder nicht weiter zurückfallen, ist das schon viel.“

Sommer, Sonne, Lernen

Rund 40.000 Schülerinnen und Schüler widmen die letzten beiden Ferienwochen dem Besuch der Sommerschule. Das sind um 17.500 mehr als im Vorjahr.
Gelernt wird in Gruppen von acht bis maximal 15 Kindern an 852 Standorten (740 in Volksschulen und Unterstufen, 112 in der Oberstufe). Den Unterricht bestreiten – neben regulären Lehrkräften – rund 1900 Lehramtsstudierende. Ihnen gehen Oberstufenschüler zur Hand, über 700 haben sich als „Buddies“ gemeldet. Das Peer-to-Peer-Lernen wird vom Bildungsministerium mit EU-Geldern und gemeinsam mit NGOs wie Diakonie, Caritas oder Jugendrotkreuz forciert. Um die Folgen des monatelangen Fernunterrichts zu mildern, eiste Bildungsminister Faßmann zudem 200 Millionen Euro los. Damit sollen sich durchschnittlich zwei Wochenstunden zusätzliche Förderung pro Klasse ausgehen.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges