„Wir reproduzieren Ungleichheit“ – über Deutschförderklassen und Sommerschule
Frau Schwab, was bedeutet für Sie Diskriminierung im Bildungssystem?
Schwab
Wenn ein System es nicht nur nicht schafft, bestehende Ungleichheiten auszugleichen – sondern sie aktiv reproduziert. Ja, wir werden nie gleiche Ausgangslagen haben: Manche Kinder sprechen die Unterrichtssprache nicht gut, bringen weniger kulturelles Kapital mit. Aber wenn das System diese Unterschiede nicht abfedert, sondern verstärkt, dann ist das für mich Diskriminierung.
Wo zeigt sich das konkret?
Schwab
Ein aktuelles Beispiel sind die Deutschförderklassen – und wie Kinder da hineingelangen. Das beginnt mit dem MIKA-D-Test (Anmerkung: Der MIKA-D-Test ist das verpflichtend anzuwendende Messinstrument zur Kompetenzanalyse – Deutsch und das Mittel der Feststellung der (außer-)ordentlichen Status). Der ist standardisiert, aber wer überhaupt getestet wird, entscheidet die Schulleitung. Das heißt, schon der Zugang zum Test ist nicht objektiv geregelt.
Und was passiert nach dem Test?
Schwab
Wer nicht besteht, erhält den Status „außerordentliche:r Schüler:in“ (AOS-Status) – und wird in eine separate Deutschförderklasse versetzt. Dort verbringt das Kind in der Primarstufe (Volksschule) bis zu 15 Stunden pro Woche außerhalb der Regelklasse. Das bedeutet, es ist maßgeblich ausgeschlossen – oft vom sozialen Umfeld, von Freund:innen, vom gemeinschaftlichen Lernen.
Wie lange bleibt ein Kind in dieser Situation?
Schwab
Wenn der MIKA-D im nächsten Schuljahr wieder nicht bestanden wird: weiter in der Deutschförderklasse. Und dann wieder mit neuen Klassenkamerad:innen. Es entsteht kein sozialer Anschluss, keine Kontinuität – sondern Isolation.
Was bedeutet der sogenannte MIKA-D-Test als Selektionsmechanismus für die Kinder?
Schwab
Ein Kind kommt in die Schule – und lernt als erstes, dass es scheitert. Das Screening-Instrument ist eine Hürde, die Stress, Druck und Ausschluss erzeugt. Und der MIKA-D ist psychometrisch nicht abgesichert. Wir wissen nicht einmal, ob er misst, was er messen soll.
Was heißt das langfristig?
Schwab
Wir produzieren uns selbst Schüler:innen, die überaltert in der ersten Klasse sitzen. Acht-, neunjährige Kinder in einer regulären Volksschul-Erstklassengruppe. Und das wissen wir aus der Forschung: Klassenzurückstellungen hängen mit Schulabbrüchen zusammen.
Zur Person
Susanne Schwab ist Bildungswissenschaftlerin an der Universität Wien. Sie forscht unter anderem zu inklusiver Schulentwicklung und leitete die wissenschaftliche Einrichtung einer Versuchsschule an der Laborschule Bielefeld.
Was hat sich hier verändert?
Schwab
Früher war der AOS-Status ein Schutz: Kinder konnten trotz Sprachdefiziten ins nächste Schuljahr aufsteigen. Heute ist der Status ein Ausschlusskriterium. Das ist ein klarer Bruch mit dem, was pädagogisch sinnvoll wäre.
Warum wird in der Bildungspolitik dieser Weg gegangen?
Schwab
Es heißt oft: Wir haben bei PISA große Leistungsunterschiede zwischen Schüler:innen mit und ohne Migrationsbiografie. Und das stimmt. Aber anstatt mit evidenzbasierten Strategien zu reagieren, erleben wir Symbolpolitik. Die Folge: Die Schere wird noch größer.
Sehen Sie das als bewusste Entscheidung?
Schwab
Ich sehe jedenfalls, dass wir nicht bereit sind, das Potenzial von Kindern auszuschöpfen, wenn sie nicht in unsere Norm passen. Und das hat gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen. Wer zwei Mal sitzen bleibt, verliert oft völlig den Anschluss. Wir riskieren, dass junge Menschen keinen Pflichtschulabschluss machen – und das aus strukturellen Gründen.
Was müsste sich ändern?
Schwab
Wir brauchen ein System, das früher fördert – nicht erst mit Eintritt in die Volksschule. Warum haben wir Kinder mit Deutschunterstützungsbedarf nicht im Kindergarten besser begleitet? Warum bauen wir kein stabiles Fundament, bevor sie in die Schule kommen?
Wäre ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr sinnvoll?
Schwab
In Wien geht die Mehrheit der Kinder geht ohnehin schon zwei Jahre in den Kindergarten. Das greift also nicht effektiv. Entscheidend ist: Qualität, nicht nur Quantität. Und: Die Angebote müssen alle Kinder einbeziehen – nicht nur bestimmte Gruppen.
Was halten Sie von den Sommerschulen?
Schwab
Sommerschulen sollen nicht abgeschafft werden, aber sie sollten viel durchdachter sein, bräuchten klarerere Regeln und Qualitätssicherung. Es soll ja kein Straflager für Schüler:inne sein, die den MIKA-D nicht bestanden haben. Es fehlt die Verzahnung mit dem Regelunterricht. Wer dort unterrichtet, ist häufig noch in Ausbildung, teilweise ohne viel Erfahrung. Gute Sprachförderung braucht mehr als zwei Wochen. Und wenn Kinder das als Strafe empfinden, löst das Stress und Demotivation aus. Es braucht eine freiwillige Teilnahme, eine positive Konnotation und eine Einbettung in eine größere Förderstrategie, offen für alle Kinder – nicht nur für eine vermeintlich „defizitäre“ Gruppe.
Bildungsminister Christoph Wiederkehr in der Sommerschule
Wiederkehr will mehr Deutschförderung, die Sommerschule soll Pflicht werden. Mit dem neuen Schuljahr sollen auch Orientierungsklassen für geflüchtete Kinder ohne schulische Vorerfahrung geben – eine weitere nicht-integrative Maßnahme.
Wie ist die Situation für Kinder mit Behinderungen in Österreich? Diese wird ja auch von den Vereinten Nationen (UNO) regelmäßig kritisiert.
Schwab
Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf erleben ähnliche Exklusionsmechanismen, nur unter anderen Vorzeichen. Auch hier fehlt eine echte strukturelle Inklusion. Statt gemeinsames Lernen zu ermöglichen, wird sehr früh in separate Systeme überführt – Sonderschule, Stützlehrer:innen, Rückstellungen. Das ist nicht nur ein organisatorisches Problem, sondern ein grundsätzliches pädagogisches Versagen.
Welche Folgen hat das?
Schwab
Kinder mit Behinderung haben nach wie vor deutlich niedrigere Bildungsabschlüsse, schlechtere Chancen auf Berufsausbildung und Teilhabe. Das liegt nicht an den Kindern – sondern an der Art, wie das System mit ihnen umgeht. Inklusion heißt: Die Schule passt sich dem Kind an, nicht umgekehrt. Davon sind wir in Österreich weit entfernt.
Was sind die Folgen eines Schulsystems, das segregiert?
Schwab
Die größten Schäden werden zeitversetzt sichtbar. Wir sehen heute Kinder in Deutschförderklassen – und merken erst Jahre später, dass sie den Anschluss verloren haben. Dann ist es zu spät.
Warum ist das nicht nur ein pädagogisches, sondern auch ein wirtschaftliches Problem?
Schwab
Weil wir ganze Gruppen von Kindern durch das System fallen lassen. Das bedeutet: verlorene Abschlüsse, verlorene Talente, verlorene Produktivität. Wir sprechen hier nicht nur von Schicksalen – sondern von langfristigen wirtschaftlichen Schäden.