Hans Platzgumer

Hans Platzgumers Lockdown-Logbuch: Sperrzonenleben (II)

Der Tiroler Schriftsteller, Musiker und Produzent Hans Platzgumer schreibt seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen an einem Lockdown-Logbuch. profil veröffentlicht Auszüge.

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In seinem früheren Leben war Hans Platzgumer, 51, eine internationale Rockgröße (H.P. Zinker, Die Goldenen Zitronen) und ein gefragter Produzent (Tocotronic, André Heller). Inzwischen mischt der Tiroler mit Romanen („Am Rand“, „Drei Sekunden Jetzt“) und Essays („Willkommen in meiner Wirklichkeit“) munter die Literatur auf. In seinem Roman „Der Elefantenfuß“, der zeitgleich zur Katastrophe von Fukushima in die Buchhandlung gelangte, thematisiert Platzgumer detailliert das Reaktorunglück von Tschernobyl anno 1986.

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April 2020

In seinen eigenen vier Wänden eingesperrt zu sitzen, dem Zusammenbruch und der umkämpften Neuordnung der Welt da draußen tatenlos zusehen und immer restriktivere Einschränkungen meiner persönlichen Freiheit hinnehmen zu müssen, ist eine emotionale Herausforderung. Ich begrüße die Taktik unserer Regierung nach wie vor, weil sie uns zu einem grundsätzlichen Überdenken unseres Lebensstils zwingt. Wie bisher hat es nicht weitergehen können, nun könnten endlich neue Perspektiven entstehen. Nach wie vor bin ich Dreamer – not the only one. Andererseits sagt der Vernunftmensch in mir, dass ich für die Entscheidung, Zehntausenden die Existenzgrundlage zu zerstören, um ein paar hundert Senioren zu schützen, nicht die Verantwortung übernehmen will. Zu sterben empfinde ich als etwas völlig Normales. Jeder tut es. In Armut, Perspektivlosigkeit, in Erniedrigung oder Unterdrückung zu leben, sollte hingegen niemandem zugemutet werden. Eine gewaltige Umwälzung ist in Gang getreten worden. Ich habe sie mit großem Optimismus willkommen geheißen. Allmählich aber beginnt mich die Situation an die DDR zu erinnern, wo ich in den 1980er-Jahren auf Tournee war. Erst vor Kurzem durfte ich die Stasi-Akte sichten, die der Geheimdienst damals von mir angelegt hatte.

Kennen Sie den Bestseller „Der Circle“ von Dave Eggers? Er beschreibt bildlich, wie eine Gesellschaft aus grundsätzlich edlen Motiven schrittweise in einen unmenschlichen Polizeistaat übergeht. Die Anfänge lesen sich wie Österreich im Frühjahr 2020.

Niemand weiß mehr, was das Richtige ist

„Wir tun es, weil es das Richtige ist“, sagt unser Bundespräsident, den ich als integre Persönlichkeit kennengelernt habe. Fakt aber ist, dass niemand mehr weiß, was das Richtige ist. Es gibt nur Vermutungen, Hypothesen. Wissenschaftliche Grundlagen fehlen, Forscher nennen weit auseinandergehende Zahlen, Experten widersprechen sich gegenseitig. Wir alle haben den Maßstab für Richtig und Falsch, für Gut und Böse verloren. Die Coronakrise, in der verlässliche Daten fehlen, ist eine Frage des Glaubens geworden. Erschreckend ist nicht das Virus selbst, dem hauptsächlich männliche Über-80-Jährige zum Opfer zu fallen scheinen, sondern das, was wir daraus machen. Wir: eine eingeschüchterte Informationsgesellschaft, dermaßen verunsichert, dass sie alles mit sich machen lässt. Wenn es heute heißt, Kontrolle und Macht über das Virus zu gewinnen und seine Ausbreitungskurve „gegen Null“ einzudämmen, dann heißt das, Kontrolle und Macht über uns Bürger zu gewinnen – und unsere Rechte und Freiheiten einzudämmen.

Verführung zum Machtmissbrauch

Als größte Gefahr dieses Virus entpuppt sich seine Verführung zum Machtmissbrauch. Corona ist nicht länger eine medizinische Krise (war es in Österreich zum Glück auch nie), sondern ein politisches Ereignis. Gestern wurden einige Schwererkrankte aus Frankreich in einem Salzburger Spital aufgenommen. Das ist eine schöne Geste und zeigt, wie wenig dramatisch die Situation bei uns ist, gleichzeitig ist es paradox, dass nur mehr Corona-Patienten Staatsgrenzen überschreiten dürfen. Für alle anderen sind die Grenzzäune auf unbestimmte Zeit hochgefahren. Strikt voneinander abgetrennte Regionen sind entstanden, innerhalb derer die Machthaber erproben, wie weit man gehen kann. Nicht länger hat die Stunde der Humanisten geschlagen, sondern die der Opportunisten. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán hat als Erster die Überrumpelungstaktik angewandt. Vielleicht sind manche Regierungen selbst von der Situation überrumpelt worden, wohl steckt bei dem einen oder anderen Machthaber Hilfslosigkeit dahinter, die sich in wildem Aktionismus niederschlägt, allmählich aber beginnt jeder, die Gunst der Stunde und die unlimitierten Möglichkeiten zu erkennen, die ihm Corona bietet. War in Prä-Corona-Zeiten eine Festung Europa entstanden, um Flüchtlinge fernzuhalten, entsteht nun eine kontinentale Ansammlung von Festungen, um alles Ausländische auszusperren. Dies geschieht nicht aufgrund einer tatsächlich greifbaren feindlichen Intervention, sondern wegen eines Virus, das sich nicht im Geringsten um Nationalgrenzen schert. Wollte man ihm gegenübertreten, müsste man gemeinschaftlich vorgehen, die Welt als eine Welt sehen. Das Gegenteil ist der Fall. […]

Irgendwie zufrieden, irgendwie irritiert

Ich sitze also, irgendwie zufrieden, irgendwie irritiert daheim. Gehe ich nach draußen um einzukaufen, gehe ich ohne Handy oder schalte Bluetooth und Ortungsdienste aus. Ich bin gezwungen, eine Gesichtsmaske überzuziehen, von der mir letzte Woche gesagt wurde, sie bringe keinen Schutz. Nun bringe sie wenigstens Fremdschutz, heißt es, wir sollen uns daran gewöhnen, es wird Teil der neuen Normalität sein. Derselbe Kanzler, der vor wenigen Jahren das Vermummungsverbot ausgerufen hat und Passanten bestrafen ließ, die sich den Schal bis über die Nase zogen, geht zur Maskenpflicht für alle über. Auch ich habe mir nun eine Maske genäht, die als Schutz zwar vollkommen lächerlich ist, mir aber, wenn schon keine Viren, so wenigstens die Polizei vom Leibe hält. Selbst wenn ein Politiker nicht freimütig die Demokratie aushebeln will, was macht es mit ihm, wenn er, der üblicherweise bei allem, was er sagt und tut, auf Widerstand stößt, nun plötzlich beliebig über sein Land verfügen kann? Welche Allmachtfantasien befördert das? Endlich kann der Kanzler König von Österreich sein. Was immer er befiehlt, wir führen es aus. Käme ihm aufgrund eines Expertenrates in den Sinn, dass wir ab nächster Woche nur mehr mit erhobenen Händen außer Haus gehen dürfen, wir müssten es tun. Und da sich das Virus nun scheinbar hauptsächlich zuhause verbreitet: Wann kommt ihm die Idee, unsere Wohnzimmer mit Überwachungskameras auszustatten? Noch scheint dies kaum vorstellbar. Doch alles, was momentan geschieht, war gestern noch nicht vorstellbar. Nichts ist länger auszuschließen. „Unser Weg hat erst begonnen“, steht auf einem verblichenen Wahlplakat unseres Kanzlers, das vorne an der Straßenecke noch immer hängt. Gerne würde ich ihn an seine Worte erinnern, die er nach Ibiza von sich gegeben hat: „Genug ist genug.“ Genug Verunsicherung, genug Zerstörung ist erreicht, die Stimmung in der Bevölkerung kippt. Empathie war gestern, heute herrscht Misstrauen. Jeder, wirklich jeder im Land, hat Angst. Die einen vor Ansteckung, die anderen vor wirtschaftlichem Ruin, die nächsten vor dem Abdriften in ein autoritäres Überwachungssystem. Alle haben Angst voreinander und Angst davor, dass dieser Zustand sich noch ewig so hinzieht und verschärft.

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