Getötete Zivilisten in Kramatorsk: Wie entschlossen ist der Westen?
Titelgeschichte

Können wir gewinnen? 6 Fragen zum Wirtschaftskrieg gegen Russland

Bisher sieht es nicht danach aus. Seit Beginn der Sanktionen hat Europa rund 35 Milliarden Euro für Energie-Importe an Russland überwiesen. Sind wir zu feig für den möglicherweise alles entscheidenden Schritt?

Drucken

Schriftgröße

Zwei Prozent der gesamten Exporte der EU gehen nach Russland. Hingegen exportiert Russland 37,8 Prozent seiner Ausfuhren in die EU. In einem Handelskrieg würde laut Berechnungen des Instituts für Weltwirtschaft Kiel (IfW Kiel) und des österreichischen Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo) Russland einen Rückgang von 9,7 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts erleiden. Österreich dagegen nur 0,28 Prozent, Deutschland 0,4 Prozent.

Am 26. Februar, zwei Tage nach der russischen Invasion in der Ukraine, brachte der Westen – die USA, die EU und ihre Verbündeten – seine Waffen in Stellung. Sie sollten nach den Worten von US-Präsident Joe Biden ihre „maximale Wirkung auf Russland“ entfalten. Doch der Oberbefehlshaber der größten Armee der Welt sprach nicht  von Raketensystemen, Kampfflugzeugen und schwerer Artillerie, sondern von: Wirtschaftssanktionen. Die Staaten der NATO und einige Verbündete – darunter Österreich – verzichten auf den Einsatz ihrer militärischen Feuerpower, um nicht einen Dritten Weltkrieg heraufzubeschwören. Aber sie wollen Russland besiegen, indem sie dessen Wirtschaft blockieren, sabotieren und so schwer schädigen, dass Russlands Präsident Wladimir Putin den Krieg beendet; und dass aufgrund dieser Erfahrung im Idealfall weder er noch ein anderer potenzieller Kriegstreiber noch einmal auf die Idee kommen, einen anderen Staat zu überfallen.

Das ist der Plan, der seit mehr als sechs Wochen in die Tat umgesetzt wird. Die westliche Allianz hält bei Sanktionswelle Nummer 5, die vergangene Woche verhängt wurde, und in einem Punkt sind sich ausnahmsweise das Weiße Haus und der Kreml einig: Es ist ein Wirtschaftskrieg, wie ihn die Welt noch nie gesehen hat. Einen „totalen Wirtschaftskrieg“ nennt ihn Russlands Außenminister Sergej Lawrow, und Joe Biden ist seinerseits stolz darauf, „die schärfsten Maßnahmen der Geschichte“ getroffen zu haben.

Russland, die elftgrößte Volkswirtschaft der Welt, soll innerhalb von wenigen Wochen von allen westlichen Volkswirtschaften isoliert werden. So etwas gab es tatsächlich noch nie. Bloß: Gemessen an ihrem Ziel – der Beendigung des Krieges – waren die Anstrengungen bisher erfolglos. Im Gegenteil, die Brutalität, mit der die russischen Streitkräfte in der Ukraine vorgehen, nimmt zu. Mutmaßliche schwere Kriegsverbrechen wie das Massaker in Butscha treten zutage.

Die bittere Zwischenbilanz lautet: Die bislang getroffenen Sanktionen reichen nicht aus. Die logische Konsequenz daraus wäre, noch härtere Maßnahmen zu setzen. Allerdings haben alle Sanktionen  den unerwünschten Nebeneffekt, dass sich die westlichen Staaten damit selbst schaden. Die große politische Frage lautet also: Wie weit wollen wir gehen? Was sind wir – als Volkswirtschaft, als Gesellschaft, als Wertegemeinschaft – bereit zu ertragen, um den Angriffskrieg Putins zu stoppen?

Um besser beurteilen zu können, was sinnvoll sein könnte, ist es notwendig, den bisherigen Verlauf des Wirtschaftskrieges zu verstehen. Welche Maßnahmen hatten den gewünschten Effekt? Was ist verpufft? Und schließlich kommt seit Wochen immer derselbe umstrittene Vorschlag: Russland den entscheidenden Schlag zu versetzen, indem Europa auf russisches Gas verzichtet. Ist dieser Schritt unausweichlich? Oder ist er unvernünftig?

Wie verläuft der größte Wirtschaftskrieg der Geschichte bisher?

Die militärische Taktik des „Shock and Awe“ („Schrecken und Furcht“) besteht darin, eine rasche Entscheidung im Krieg herbeizuführen und diesen zu beenden, bevor er richtig begonnen hat. Durch den Einsatz eines großen Arsenals soll dem Feind in kurzer Zeit maximaler Schaden zugefügt und ihm klargemacht werden, was ihm bei einer längeren Auseinandersetzung droht: die totale Zerstörung. Im besten Fall knickt der Gegner vor Furcht ein. 

Die Wirtschaftssanktionen des Westens folgten derselben Taktik. Die schiere Wucht der Maßnahmen und die Aussicht auf einen Zusammenbruch der russischen Wirtschaft sollten Wladimir Putin zum Einlenken bringen.

Schon nach der Besetzung der Krim 2014 hatte der Westen auf Restriktionen wie Exportverbote, Kapitalmarktbeschränkungen für russische Unternehmen, Einreiseverbote und Kontensperren gesetzt. Doch wie man heute weiß, schadete der damals fallende Ölpreis der russischen Wirtschaft mehr als alle Sanktionen zusammen. 

Nach dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar brachte der Westen daher schwerere Geschütze zum Einsatz. Die EU beschloss insgesamt fünf Sanktionspakete, das letzte vergangenen Donnerstag. Die USA setzten teilweise noch schärfere Maßnahmen. Ein Auszug:

Laut Berechnungen des französischen Rates für Wirtschaftsanalysen würde ein Gas-Embargo einen Rückgang des gesamteuropäischen BIP von 0,2 bis 0,3 Prozent jährlich mit sich bringen. Pro erwachsenem EU-Bürger wäre das ein Verlust von etwa 100 Euro. Für Deutschland berechnete eine Gruppe von Ökonomen einen BIP-Verlust von 0,5 bis 3 Prozent als Folge eines Energie-Embargos (Gas, Öl, Kohle).

  • Die EU ließ das Finanzvermögen von 900 Personen – darunter Mitglieder der russischen Regierung und Oligarchen – einfrieren, deren Immobilien und Yachten beschlagnahmen. Die Reisefreiheit wurde eingeschränkt. 
  • Russische Banken sind vom internationalen Zahlungsverkehr ausgeschlossen. 
  • Das Vermögen der russischen Zentralbank wurde eingefroren. Nach Schätzungen kann Russland damit nur mehr über die Hälfte des gesamten Fremdwährungsvermögens von 603 Milliarden Dollar verfügen.
  • Der Luftraum für russische Maschinen wurde gesperrt und dazu ein Verbot erlassen, Waren und Dienstleistungen für die Luft- und Raumfahrtindustrie nach Russland zu liefern, etwa Ersatzteile für die Airbus-Maschinen der Aeroflot.
  • Der Export von Hochtechnologie, darunter Mikroprozessoren, wurde verboten.
  • Importverbote in die EU-Staaten betreffen russische Waren wie Zement, Holz, Wodka oder Kaviar.

Unmittelbar sollen die Sanktionen dem Kreml die Finanzierung des Krieges erschweren, mittelfristig die russische Wirtschaft so schwächen, dass nur ein Ende des Krieges und Lockerungen der Sanktionen den Kollaps verhindern können.

Nach sechs Wochen lässt sich allerdings feststellen: Ein Krieg wird mit Wirtschaftssanktionen allein nicht gestoppt. McDonald’s, Ikea und Apple ziehen sich aus Moskau zurück, die russischen Truppen bleiben vor Charkow und Mariupol.  

Dass der „Shock and Awe“-Effekt verpuffte, zeigt der Kurs des Rubels. Kurz nach Beginn des Krieges fiel die russische Währung auf einen historischen Tiefstand, mittlerweile liegt der Rubel wieder auf dem Niveau vor der Invasion. Allerdings musste die Zentralbank gegensteuern. Ende Februar wurde der Leitzins auf 20 Prozent verdoppelt.

Mit einem Trick zwingt Putin die westlichen Öl- und Gas-Abnehmer dazu, bei der Stützung des Rubels mitzuwirken. Das Geld, das auf diese Weise in Form von Devisen nach Russland kommt, wird zu 100 Prozent in Rubel konvertiert, wodurch dessen Kurs stabil bleibt. 

Elisabeth Christen, Ökonomin des Wirtschaftsforschungsinstituts (WIFO), hält diese Form der Absicherung der russischen Währung für nachhaltig. Die Devisen, die Russland zur Rubel-Stützung umtauscht, fehlen allerdings, wenn Russland seine Schulden im Ausland tilgen will, so Christen.

Da der Zugang zu seinen Fremdwährungsreserven im Westen gesperrt wurde, konnte Russland vergangene Woche fällige Zahlungen an Investoren zweier Fremdwährungsanleihen in Höhe von 650 Millionen Dollar nicht begleichen. Derartige Zahlungsausfälle gelten auf den internationalen Finanzmärkten als Staatsbankrott. Kurzfristig hätte dies aber keine Konsequenzen für Russland. Zwar würde kein Finanzinstitut Russland mehr Geld borgen, doch derzeit könnte das Land aufgrund der Sanktionen ohnehin nichts im Westen kaufen. Erst mittelfristig würde die mangelnde Kreditwürdigkeit ein Problem werden.

Primäres Ziel der russischen Regierung ist es nun, die ausgefallenen Importe wichtiger Güter bestmöglich zu kompensieren. Vor allem China könnte einspringen. In manchen Bereichen ist Russland autonomer als allgemein angenommen. So verfügt es über eine eigene Pharma-Industrie, auch die Lebensmittelproduktion wurde nach der Krim-Invasion ausgebaut. 

Mit westlichen Nationalökonomien ist Russlands Hybridsystem aus Markt- und Staatswirtschaft kaum vergleichbar. Zudem herrscht ein eklatantes Wohlstandsgefälle. Die Städte und etwa ein Dutzend der 80 Regionen sind deutlich reicher als der Landesschnitt. Wirklich konkurrenzfähig auf internationalen Märkten ist die russische Waffenindustrie. 

Das Geschäftsmodell des Westens in den Außenhandelsbeziehungen zu Russland war bisher lukrativ: Russland liefert Rohstoffe; der Westen nutzt diese in der industriellen Fertigung; die daraus entstehenden Produkte werden wieder nach Russland exportiert.

Diese Globalisierung wurde jetzt gekappt. Für den Westen werden die Rohstoffe knapp, Russland wiederum bekommt keine Waren. 

Wie sehr schaden Sanktionen uns selbst? 

Selten waren Sanktionen so unumstritten wie im Fall Russlands. Die Argumentationslinie, die Wirtschaftskraft gegen den kriegswütigen Kreml zu nutzen, weil eine militärische Konfrontation unabsehbare Folgen hätte, leuchtet (fast) allen ein. Nur ein Vorbehalt taucht immer wieder auf: Die Sanktionen sollten vor allem Russland schaden – und nicht in ähnlichem Ausmaß uns selbst.

Allein schon der Vergleich der Größe der Volkswirtschaften, die einander gegenüberstehen, macht klar, dass Russland in dieser Auseinandersetzung der Schwächere ist. Russland als elftgrößte Volkswirtschaft der Welt wird von einer Allianz attackiert, in der sich acht der zehn größten Volkswirtschaften befinden, darunter mit den USA die größte.

Auch der Vergleich der Europäischen Union mit Russland zeigt, dass die EU-27 für Russland weit wichtiger sind als umgekehrt. Von allen EU-Exporten gehen bloß zwei Prozent nach Russland, umgekehrt liefert Russland 37,8 Prozent seiner Ausfuhren in die EU. Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel und das österreichische Wifo haben berechnet, wie sehr ein Handelskrieg beiden Seiten jeweils schaden würde. Ergebnis: Russland würde 9,7 Prozent seines BIP einbüßen, Österreich bloß 0,28 und Deutschland 0,4.

Der Westen leidet dennoch bereits jetzt unter schlechteren Wirtschaftsdaten, die zumindest zum Teil auf die Sanktionen zurückzuführen sind. Besonders die hohe Inflation sorgt für Wohlstandsverlust und soziale Probleme. Allerdings steigen auch da die westlichen Staaten deutlich besser aus als Russland. Während die Inflationsrate in Österreich 6,8 Prozent beträgt, sind es in Russland bereits 14 Prozent. Und die Prognose für die Jahresinflation der russischen Wirtschaft lautet nach Berechnungen von Brian Deese, dem Direktor des Wirtschaftsrates, der das Weiße Haus berät: 200 Prozent.

Problematisch für die westliche Wirtschaft ist der deutliche Preisanstieg bei Rohstoffen, die aus Russland kommen: Nickel, Titan, Aluminium und Kupfer. Dabei handelt es sich zudem um Metalle, die unter anderem für die Klimawende dringend notwendig sind.

Warum werden die wirtschaftlichen Schäden durch Sanktionen bei uns heftiger diskutiert als in Russland?

Die Fakten sind eindeutig: Wie schlimm auch immer die Sanktionen die westliche Wirtschaft  treffen mögen, Russland erwischt es deutlich härter. Dennoch wächst bei uns die Sorge, die Sanktionen seien in Wahrheit kontraproduktiv. Das liegt vor allem daran, dass es hierzulande freie Medien gibt, die laufend und in allen Details über wirtschaftliche Probleme in Verbindung mit den Sanktionen berichten. 

Die weitgehend gleichgeschalteten Medien in Russland erwähnen zwar die „unfreundlichen Maßnahmen gegen Russland“, konzentrieren sich aber darauf, die Gegenmaßnahmen der eigenen Regierung zu erläutern. 

Die Inflation in Österreich stieg im März auf 6,8 Prozent. Russland hält derzeit bei einer Inflation von 14 Prozent. Laut der Prognose des Chef-Ökonomen des Weißen Hauses Brian Deese werde die Jahresinflation in Russland astronomische 200 Prozent betragen.

So erfährt die westliche Öffentlichkeit, welcher Schaden ihr konkret aus den Sanktionen erwächst, die russische Öffentlichkeit hingegen nimmt zwar Verschlechterungen im Alltag wahr, wird aber nicht über die genauen Zusammenhänge mit den Sanktionen informiert. Da Zweifel an der Richtigkeit von Putins Politik in Russland unerwünscht sind, kann auch keine öffentliche Debatte über die Ursache der Sanktionen entstehen – und darüber, was Russland tun müsste, um sie wieder loszuwerden.

Was zählt mehr – Wohlstand oder Moral?

Doch plötzlich werden alle Überlegungen, Berechnungen, Prognosen und Einwände zu den Sanktionen über den Haufen geworfen. Bilder aus Butscha zeigen Leichen von Zivilisten, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, getötet durch Kopfschüsse. Oder vergangenen Freitag: Bei einem Raketenangriff auf den Bahnhof von Kramatorsk werden nach ersten Angaben mindestens 50 Menschen getötet und Dutzende weitere verletzt. Es handelt sich um Zivilisten, die mit dem Zug das Kriegsgebiet im Osten der Ukraine verlassen und sich in Sicherheit bringen wollten.

Angesichts solcher Kriegsverbrechen rückt die stärkste Waffe in den Mittelpunkt, über die der Westen in diesem Wirtschaftskrieg verfügt – und die er noch nicht eingesetzt hat: ein generelles Energie-Embargo, also ein Verbot, Öl und Gas aus Russland zu kaufen.

Andrij Melnyk, Ukraines Botschafter in Berlin, legt jegliche diplomatische Zurückhaltung ab, wenn er auf Twitter die EU und allen voran Deutschland dafür geißelt, dass es weiterhin ein Energie-Embargo ausschließt: „Und die deutsche Bundesregierung hält brav am russischen Öl und Gas fest“, postet er unter einen Artikel, in dem Vergewaltigungen ukrainischer Frauen durch russische Soldaten angeprangert werden. Melnyk: „Die deutsche Regierung muss ein weiteres Butscha verhindern.“

Donnerstag vergangener Woche sprach sich das EU-Parlament in einer Resolution für den Stopp der Gasimporte aus. Auch die EU-Spitze, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel, hielten fest, ein Embargo auf Öl und Gas könnte Teil des nächsten Sanktionspakets sein. 

Die Entscheidung liegt allerdings bei den Mitgliedstaaten. Das mächtigste EU-Land, Deutschland, lehnt ein Embargo strikt ab. „Ein Hals-über-Kopf-Ausstieg aus dem Gasbereich führt zu massivsten Einbrüchen der deutschen Wirtschaft, zu massivstem Verlust von Arbeitsplätzen“, warnt der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU). 

Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sagt, es gehe nicht um „individuelle Komforteinschränkungen“, sondern um „gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Schäden schwersten Ausmaßes“. Diese könnten auch die Beibehaltung anderer Sanktionen gegen Russland gefährden. 

Allerdings riskiert Deutschland damit einen veritablen Reputationsschaden. „Werte haben immer auch eine wirtschaftliche Dimension, und deshalb kann aus dem Prädikat „Made in Germany“ auch ein Makel werden“, schreibt das „Handelsblatt“. 

In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 17. März appellierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eindringlich an die deutschen Politiker von Kanzler Olaf Scholz abwärts, nicht nur an „Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft“ zu denken. Und er bedankte sich explizit bei „denjenigen deutschen Unternehmen, die Moral und Menschlichkeit über die Buchhaltung stellten. Über die Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft.“  

Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ warnt dagegen vor einem Gas-Embargo: „Hart kann aber nur sein, wer stark ist. Weder Deutschland noch die EU würden stärker werden, wenn die größte Volkswirtschaft des Kontinents sich selbst in eine Rezession stürzte. Viele andere europäische Länder hängen nicht nur am russischen Gas, sondern auch am deutschen Wirtschaftsmotor.“

Doch Deutschland fällt es zusehends schwerer, seinen Widerstand aufrecht zu erhalten. Polen fordert bereits einen Lieferstopp für Gas und Öl. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron schweigt noch. Italien ist zwar ähnlich abhängig von russischem Gas wie Deutschland. Spitzenpolitiker wie Außenminister Luigi Di Maio fordern aber bereits ein Embargo.

Ministerpräsident Mario Draghi hält sich noch zurück, stellte aber vergangenen Donnerstag die Optionen in den Raum, ob man „Frieden oder die laufende Klimaanlage“ bevorzuge – ohne sie zu beantworten. Suggestiver kann man eine Frage kaum stellen. 

Allerdings geht es in der Debatte um das Gas-Embargo nicht nur um Klimaanlagen, Warmwasser zum Duschen und behaglich geheizte Stuben. Der Chef des Fiskalrats und frühere Direktor des Wirtschaftsforschungsinstituts, Christoph Badelt, sprach vergangene Woche Klartext. Im Falle eines EU-Embargos auf russisches Gas „könnten wir vor einer Krise stehen, deren Ausmaß wir uns noch gar nicht vorstellen können“. In den vergangenen Wochen machten Vertreter der Wirtschaft massiven Druck auf die Regierung, sich auf EU-Ebene gegen einen Lieferstopp auszusprechen.

Tatsächlich könnten die Folgen eines Embargos verheerend sein. Die Wirtschaft ist auf Gas angewiesen. Vom Gesamtverbrauch von 8,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr entfallen rund drei Milliarden auf die Industrie. Die Reserven reichen geschätzt einen Monat. Dann könnte die voestalpine ihre Hochöfen auf Dauer nicht mehr am Laufen halten und ihre Abnehmer nicht mehr mit Stahl beliefern. 

Ohne Gas würden Schmelz- und Gießanlagen nicht nur stillgelegt, sondern beschädigt oder zerstört werden. Papier wäre plötzlich Mangelware. Es gäbe unter Umständen keine Zeitungen mehr und keine Kartons für die Amazon-Pakete. Die Petrochemie könnte keine Grundstoffe für Medikamente mehr liefern. Auch die Nahrungsmittelindustrie ist ein Großverbraucher von Erdgas. „Im Vergleich zu den möglichen katastrophalen Auswirkungen eines Gas-Embargos sind die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie vernachlässigbar“, meint ein Spitzenvertreter der Wirtschaft zu profil. Österreich könnte in eine Rezession mit Hunderttausenden zusätzlichen Arbeitslosen stürzen. 

Doch auch hier gilt: Russland trifft es härter. Erdöl und Erdgas bleiben die wichtigsten Einnahmequellen für den russischen Staat. Solange der Petro-Rubel rollt, kann der Krieg wohl ungehindert weitergehen, bis zur Kapitulation der ukrainischen Streitkräfte – oder einer russischen Niederlage. 

Ein Embargo auf russisches Öl und Gas – wie es die baltischen Staaten bereits exekutieren – wird Russland dagegen empfindlich schaden. Laut Wifo würde Russlands BIP allein durch ein Gas-Embargo um weitere 2,9 Prozent einbrechen, und außerdem fehlte dem Land mit einem Schlag das Geld zur Stützung des Rubels.

Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma?

Die Wahlmöglichkeit Moral oder Wohlstand ist gesellschaftlich heikel genug. Doch in Wahrheit stellt sich die Frage nach einem Energie-Embargo noch viel komplexer dar. 

Nehmen wir an, die EU beschließt einen generellen Öl- und Gasstopp aus Russland. Daraufhin stellen sich alle erwarteten Probleme und Verwerfungen ein – und vielleicht noch ein paar unerwartete –, woraufhin in den am meisten betroffenen Ländern Österreich und Deutschland Massenproteste entstehen und schließlich die Regierungen zum Rücktritt gezwungen sind. Ein anschließender Rechtsruck und eine neue Regierung, die russlandfreundlich agiert, wären kein besonders weit hergeholtes Szenario.

Befinden wir uns also in einem unauflöslichen Dilemma?

Einen möglichen Ausweg skizzieren die Politologen Matthew C. Klein und Jordan Schneider sowie der Ökonom David Talbot in einem Beitrag für das US-Magazin „Foreign Policy“. Sie plädieren für die Gründung einer „wirtschaftlichen NATO“ als Ergänzung zum gleichnamigen Militärbündnis. Diese Wirtschafts-NATO sollte einen Fonds gründen – plakativer Name: „Freedom Fund“ –, um westliche Staaten, die von den unerwünschten Nebeneffekten der Sanktionen besonders betroffen sind, zu unterstützen. 

Im konkreten Fall würde das bedeuten, Österreich, Deutschland und andere Länder würden Entschädigungszahlungen erhalten, weil sie der Ausfall von russischem Gas besonders hart trifft.
Die Idee klingt gut, fraglich bleibt allerdings, ob objektiv ärmere Staaten Geld in einen Fonds einzahlen, der damit reiche Länder wie Österreich und Deutschland entschädigt.

Moral hat in der Debatte meistens die besseren Argumente, aber die Realpolitik macht auch vor Sanktionen nicht halt. Es ist schier unmöglich, Sanktionen zu verhängen, wenn deren Boomerang-Effekte von der Bevölkerung nicht mitgetragen werden. 

Um diese darauf vorzubereiten, müsste die Politik allerdings die Verknüpfung der Gräueltaten zu den Öl- und Gaskäufen herstellen. Das tut sie jedoch nicht. Stattdessen erklären Nehammer, Scholz und Co in allen Interviews wortreich – und auch nicht ohne gute Argumente –, dass ein Energie-Embargo ganz einfach zu teuer sei.

Und so gibt die EU bis auf Weiteres pro Tag mehr als 700 Millionen Euro für russisches Öl und Gas aus. Oder in den Worten des ukrainischen Botschafters Melnyk: „Wohlstand. Wohlstand. Über alles. Moral? Anstand? Historische Verantwortung? Fehlanzeige.“

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur