Wiener-Städtische-Chef Müller: „Wir finanzieren die Pensionen über neue Schulden“
Ralph Müller, Chef der Wiener Städtischen, über Wunsch und Wirklichkeit bei den Pensionen, den vergessenen Klimawandel und warum er froh ist, keine Wahlen gewinnen zu müssen.
Und haben Sie eine private Gesundheitsversicherung?
Müller
Selbstverständlich habe ich auch eine private Gesundheitsversicherung.
Haben Sie eigentlich jede Versicherung, die Sie anbieten?
Müller
Natürlich nicht. Aber alle, die für mich und meine Familie relevant sind: Schutz vor Unfällen, Altersvorsorge, Krankenversicherung, Schutz des Eigenheims.
Haben Sie kein Vertrauen in das öffentliche Gesundheitssystem?
Müller
Doch, ich habe hohes Vertrauen in das öffentliche System, insbesondere im Bereich der Akuthilfe. Aber es gibt sehr viele Menschen, die darüber hinaus im Bereich der Ärzteschaft eine freie Arztwahl haben wollen, die auch eine gewisse Komfortkomponente in der Krankenversicherung möchten, und für die ist das Thema Krankenzusatzversicherung wichtig.
Wie viele Menschen bekommen bei Ihnen keine Zusatzversicherung, weil sie eine Vorerkrankung haben?
Müller
Das ist relativ selten, weil Menschen mit schweren Vorerkrankungen entweder selbst bereits wissen, dass die Wahrscheinlichkeit, aufgenommen zu werden, gering ist, oder im Erstgespräch mit ihren Betreuerinnen, Betreuern darüber aufgeklärt werden.
Sollte es Ihrer Meinung nach ein Recht auf Vergessen geben? Also dass man nach einer geheilten Krebserkrankung doch ein Recht auf eine private Gesundheitsversicherung hat.
Müller
Es gibt momentan eine breite Debatte darüber, vor allem in Zusammenhang mit Risikoablebensversicherungen. Viele Menschen brauchen das ja auch, wenn Sie einen Kredit für ein Eigenheim abschließen. In diesen speziellen Fällen bin ich dafür, dass man als Versicherungsbranche das Recht auf Vergessen anwendet.
Dem öffentlichen Gesundheitssystem, das alle versichern muss, galoppieren die Kosten davon. Wie kann man das besser finanzieren, ohne Leistungen zu kürzen?
Müller
Ich bin kein Experte für das öffentliche Gesundheitssystem. Natürlich ist auch hier die demografische Entwicklung eine, die zu Mehrkosten führt. Man sollte auch die privaten Krankenzusatzversicherungen nicht verteufeln. Wir zahlen immerhin knapp drei Milliarden in das System mit ein.
Leistet die private Vorsorge wirklich das, was sie verspricht? Bei den betrieblichen Pensionen gab es zuletzt Kürzungen, die Performance hat in weiten Teilen nicht die Inflation abgedeckt.
Müller
Die Produkte sind nicht perfekt. Aber sie sind unter der möglichen Auswahl aller Varianten das relativ Beste. Es ist im Bereich der sicheren Altersvorsorge praktisch unmöglich, die Inflationsentwicklung zu schlagen. Das geht einfach nicht. Man kann leider nicht über 30 Jahre ansparen, das Geld absolut sicher veranlagen und gewaltige Wertzuwächse haben. Unsere sicheren Altersvorsorgeprodukte schlagen die Inflation nicht, sie bieten aber Kapitalstöcke mit höchster Sicherheit. Unsere sportlichen Varianten im Bereich der fondsgebundenen Lebensversicherung haben sehr wohl die Möglichkeit, einen deutlichen Mehrertrag über der Inflation anzubieten, bedeuten aber auch mehr Teilnahme am Kapitalmarkt und mehr Risiko.
Man kann leider nicht über 30 Jahre ansparen, das Geld absolut sicher veranlagen und gewaltige Wertzuwächse haben.
Ralph Müller
über die teils mickrige Performance von privaten Pensionsversicherungen
Sie haben viel in der Immobilienwirtschaft und in der Industrie investiert. In beiden Branchen lief es zuletzt schlecht. Hat da nicht die Performance, also die Rendite Ihrer Produkte gelitten?
Müller
In der Veranlagung hat das keine Auswirkungen. Wir sind aber insofern betroffen, weil unser Prämienwachstum, gerade in der Industrieversicherung, sich häufig an den Umsatzgrößen der Industriebetriebe orientiert.
Haben viele Kundinnen und Kunden in der Teuerungskrise ihre privaten Lebens- und Krankenversicherungen gekündigt, weil das Geld vielleicht knapper geworden ist?
Müller
Offen gestanden hätte ich mehr erwartet. Interessanterweise ist der Versicherungsschutz offensichtlich gerade in unsicheren Zeiten etwas, das gut hält. Die Menschen sparen dort nicht zuallererst.
Ralph Müller im Interview mit profil-Wirtschaftschefin Marina Delcheva und Chefredakteurin Anna Thalhammer
Ist die gestiegene Sparquote der letzten Jahre also zu Ihnen geflossen?
Müller
Also wenn man davon ausgeht, dass Lebensversicherungen dort gekauft wurden, wo das Haushaltseinkommen etwas höher ist, dann ist das sicher auch eine Erklärung, warum diese Prämien sehr stabil weiter bezahlt worden sind.
Gestiegen ist auf jeden Fall das Interesse an privaten Pensionsvorsorgen. Ist unser öffentliches Pensionssystem nachhaltig finanzierbar?
Müller
Der Pfad war ja schon vorher klar und vorgezeichnet, dass die Zuschüsse aus dem Budget für die Pensionen steigen. Aber es gibt noch immer zu wenig Verständnis dafür, was ein Umlagesystem eigentlich können soll und wofür es da ist. Unser Umlagesystem ist so gebaut, dass wir aus den Sozialversicherungsbeiträgen mit einem gewissen Zuschlag aus dem Steuertopf die Pensionen finanzieren können. Und das ist an sich ein gutes System, wenn wir innerhalb der Maastricht-Kriterien bleiben, also die Verschuldung dadurch nicht steigt. Aber in Wahrheit finanzieren wir heute die Pensionen über neue Schulden, und das ist doppelt schlimm. Weil wir jetzt junge Menschen in die Situation bringen, dass sie später zu zweit oder zu dritt als Arbeitnehmer eine Pension finanzieren müssen. Und zusätzlich die Schulden, die jetzt entstehen, bezahlen müssen. Das ist eine Generationenungerechtigkeit.
Wenn Sie Minister wären, was würden Sie jetzt tun?
Müller
Wir haben nur drei Schrauben, an denen wir drehen können: Wir können die Beiträge erhöhen, aber das ist im Zuge der Debatte über Lohnnebenkosten keine Option. Man könnte die Pensionen kürzen, was jetzt in homöopathischen Dosen zumindest bei den höheren Pensionen gemacht wird. Das Dritte ist, das Verhältnis zwischen denen, die einzahlen, und denen, die die Pensionen erhalten, zu drehen. Und wenn man daran nicht drehen möchte, dann wird es auf Dauer natürlich schwierig. Ich tue mir leicht mit Ratschlägen, weil ich nicht darauf angewiesen bin, die nächste Wahl zu gewinnen. Aber es führt eigentlich kein Weg vorbei an einer Erhöhung des Antrittsalters. Und zwar ohne, dass die Arbeitenden zusätzliche Pensionsansprüche daraus erwerben. Man müsste auch das ganze Umlagesystem durch eine Kapitalentdeckungskomponente anreichern.
Also zusätzliche Erträge für Pensionen über Veranlagungen am Kapitalmarkt.
Müller
Man könnte in Form eines Staatsfonds über Jahrzehnte Gelder ansammeln, um dann diese demografisch schwierigen Jahre und Jahrzehnte abzufedern, mit den Leistungen aus diesen Kapitalanlagen. Norwegen hat einen solchen Staatsfonds, wobei dieser sich vor allem mit den Einkünften aus dem Ölverkauf speist. Aber auch Österreich hätte in den wirtschaftlich guten Jahren etwas auf die Seite legen können. Ich fürchte nur, dass man das vor 20 oder 30 Jahren hätte tun sollen und es heute zu spät ist.
Aber es führt eigentlich kein Weg vorbei an einer Erhöhung des Antrittsalters. Und zwar ohne, dass die Arbeitenden zusätzliche Pensionsansprüche daraus erwerben.
Ralph Müller
zu der frage, was er tun würde, wenn er Minister wäre
Das Gegenargument wäre, dass das veranlagte Geld in einer Finanzkrise auch schmelzen kann.
Müller
Wenn man die Grundhaltung hat, dass Kapitalmärkte langfristig nicht funktionieren, dann heißt das ja, dass langfristig die Wirtschaft nicht funktioniert. Das würde auch bedeuten, dass wir keine Steuereinnahmen haben, keine Arbeitsplätze und dass das Umlagesystem nicht funktioniert. Das alles basiert ja auf einem funktionierenden Wirtschaftssystem.
Ab wann ist man zu alt für eine private Pensionsvorsorge? Zahlt sich das ab 40 noch aus?
Müller
Das hängt immer von der persönlichen Einkommensperspektive ab. Aber wenn man noch 20 oder 25 Jahre Ansparprozess vor sich hat, lohnt sich das. Und das muss nicht einmal eine Versicherung sein. Das kann auch ein Sparplan mit Wertpapieren oder eine andere Form der Vorsorge sein.
Was wäre denn ein angemessenes Pensionsantrittsalter?
Müller
Wichtig ist, dass die Menschen sich auf eine Verlängerung der Arbeitszeit einstellen können. Das heißt Übergangsfristen von zehn Jahren und mehr. Und dann geht es darum, einen vernünftigen, schrittweisen Anstieg im Bereich von zwei bis fünf Monaten pro Jahr ins Auge zu fassen. Die Lebenserwartung stieg zuletzt pro zehn Jahre im Schnitt um zwei Jahre. Solange das so weitergeht, kann man das Antrittsalter anheben. Wichtig wäre aber auch ein Kulturwandel, dass zu arbeiten eigentlich lebenserfüllend sein sollte. Wir haben in der Wiener Städtischen aktuell 384 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die bereits ihr gesetzliches Pensionsantrittsalter erreicht haben und dennoch bei uns weiter tätig sind. Das sind zehn Prozent der Belegschaft, und darauf sind wir stolz, weil damit auch Know-how im Unternehmen bleibt.
Nun ist es so, dass Sie als Vorstand oder wir ruhig bis 70 arbeiten könnten. Die Herren, die gerade die Außenfassade reinigen, tun sich da schon schwerer.
Müller
Ja, deshalb muss man ein anderes System finden, in dem Menschen mit hoher körperlicher oder psychischer Belastung selbstverständlich früher in Pension gehen können. Aber dort, wo es möglich ist, sollte man auch länger arbeiten.
US-Investor Warren Buffett warnt davor, dass der Klimawandel mit allen Extremwetterereignissen eine neue Finanzkrise auslösen könnte. Teilen Sie seine Sorge?
Müller
Die Schäden aus Naturgefahren sind sehr stark gestiegen, und ich sehe das schon als eindeutigen Trend. Allerdings ist das eine sehr schleichende Entwicklung. Also kein Thema, das wie ein Einmal-Event einschlägt und dann auf einem höheren Niveau bleibt. Das entwickelt sich über Jahre und Jahrzehnte. Deswegen kann sich die Versicherungswirtschaft auch gut an diese Entwicklungen anpassen.
Wie viel kosten uns Naturkatastrophen derzeit pro Jahr, und was sagen Ihre Modelle voraus?
Müller
Das Hochwasser im Vorjahr war ein Ausreißer, aber 2024 wurden in Österreich Schäden von über zwei Milliarden Euro verursacht, weil wir auch das Hochwasser in Niederösterreich hatten. Allein die Wiener Städtische hat im Vorjahr 230 Millionen Euro bezahlt. Unsere Modelle für Österreich rechnen im Extremfall mit sechs bis acht Milliarden Euro in einem Jahr. Und auch hier muss man sagen: Hätten wir vor ein paar Jahren ein gemeinsames Modell mit der öffentlichen Hand entwickelt, hätten wir über die Jahre hinweg Reserven bilden können, und dann wäre das auch finanzierbar und leistbar. Ich glaube, dieses Zeitfenster hat sich weitgehend geschlossen.
Haben Sie eine Lieblingsversicherung, und welche braucht man überhaupt nicht?
Müller
Berufsunfähigkeitsversicherung ist eigentlich eine der wichtigsten Versicherungen, die aber leider noch relativ unbeliebt ist. Wenn man einen Neuwagen kauft, dann versichert man den sofort Vollkasko. Aber niemand kommt auf die Idee, seine Lebensarbeitskraft, die in die Millionen gehen kann, für den Fall zu versichern, dass man krank wird oder aus anderen gesundheitlichen Gründen seiner Arbeit nicht mehr nachgehen kann. Und ob man seine Gartenmöbel oder seine Brille versichern muss – na ja.
Setzen Sie eigentlich Detektive ein, um Versicherungsbetrug aufzuspüren?
Müller
Nein, das kann ich ausschließen. Dafür haben wir eine eigene Abteilung, die sich um Auffälligkeiten kümmert.. Und denen fallen allerhand Dinge auf. Zum Beispiel, dass kurz nachdem neue Handys auf den Markt kommen, plötzlich ganz viele Handys kaputt werden.
Sie sind nicht nur Versicherer, sondern auch Vermieter. Wie betrifft Sie die gesetzliche Bremse bei der Inflationsanpassung für Mieten?
Müller
Vorerst gar nicht, weil die Inflation noch nicht so hoch ist, dass die Mietpreisbremse wirkt. Wenn man aber bei höheren Inflationswerten die Mieten nicht entsprechend anpassen darf, dann hat das Auswirkungen auf die Bewertung der Immobilie. Wir haben rund 6000 Wohnungen im Bestand, die vermietet werden, und haben sicherlich 2000 davon in den letzten zwei Jahren erworben. Aber wir sind momentan on hold und stellen neue Investitionen zumindest intern auf den Prüfstand. Mietpreisbremsen führen immer zu einer Verknappung. Das ist eine Entwicklung, die man jedes Mal nach Eingriffen gesehen hat.
Haben Sie einen Wunsch an die Politik?
Müller
Neben der dritten Säule der Pensionsabsicherung wäre die Erhöhung des Freibetrages für die betriebliche Altersvorsorge gut, der liegt seit Jahrzehnten bei 300 Euro im Jahr. Ich habe aber verstanden, dass das budgetär momentan keine Option ist. Wir müssen uns sanieren, und wir alle müssen das solidarisch mittragen. Und dann würde ich mir wünschen, dass man unpopuläre Maßnahmen in Angriff nimmt, weil sie langfristig wichtig sind. Auch wenn sie kurzfristig Wählerstimmen kosten.
ist seit März 2023 Chefredakteurin des profil und seit 2025 auch Herausgeberin des Magazins. Davor war sie Chefreporterin bei der Tageszeitung „Die Presse“.