Lebensmittelpreise: Die beinharten Verhandlungstricks der Food-Giganten

Von Marina Delcheva
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Im Juni 2024 steigen ein paar Mitarbeiter der heimischen Bundeswettbewerbsbehörde (BWB) ins Flugzeug nach Brüssel. Sie haben ein ziemlich großes Problem mit im Gepäck, das bis heute gänzlich ungelöst ist. Eben erst hatten die BWB-Mitarbeiter die größte Branchenuntersuchung seit Bestehen der Behörde abgeschlossen und akribisch nachgezeichnet, wieso die Lebensmittelpreise in Österreich ab Ende 2022 regelrecht explodiert sind.
Mit den Erkenntnissen aus ihrer 308 Seiten langen „Branchenuntersuchung Lebensmittel“ besuchten die Mitarbeiter die EU-Kommission in Brüssel, um dort mit ihren Fachkolleginnen aus dem Team der damaligen Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager über die massiven Lebensmittel-Preisunterschiede innerhalb der EU zu sprechen. Das war vor einem Jahr. Jetzt hat die Kommission wieder Post aus Österreich bekommen. Mitte August schrieben Wirtschaftsminister Wolfgang Hattmannsdorfer und die Chefin der BWB, Natalie Harsdorf, einen Brief, in dem sie ein schnelleres Vorgehen gegen territoriale Lieferbeschränkungen fordern, die eben zum viel diskutierten „Österreich-Aufschlag“ bei den Preisen führen. Dass die Debatte zwei Jahre nach der großen Branchenuntersuchung der BWB wieder politisch aufkocht, hat damit zu tun, dass die Lebensmittelpreise jetzt wieder stark steigen.
Die von großen Markenherstellern auferlegten Gebietsbeschränkungen für den Handel gehen seit vielen Jahren zulasten der Verbraucher und konterkarieren den EU-Binnenmarkt. Heimische Konsumenten und Konsumentinnen zahlen für einzelne Produkte deutlich mehr als deutsche. Und das hat unter anderem auch mit der Verhandlungsmacht und Dominanz globaler Lebensmittelkonzerne zu tun, die ihre Marktmacht vor allem in kleinen EU-Ländern beinhart ausspielen. profil sprach anonym mit Branchenvertretern – sie alle berichten von knallharten Verhandlungsteams, strengen Lieferverträgen und drakonischen Sanktionen, wenn man sich nicht an die Spielregeln der globalen Food-Giganten hält.
Die Bundesregierung hat sich aktuell dem Kampf gegen die stark steigenden Lebensmittelpreise verschrieben. Schon wieder. Eigentlich wollte die Politik das Problem schon 2023 in den Griff bekommen. Gelungen ist das nicht, wie ein Blick auf die aktuellen Inflationszahlen zeigt. Im Juli stieg die Inflation laut Statistik Austria im Jahresvergleich um 3,6 Prozent. Und am teuersten wurden neben Gastronomie und Hotellerie (plus 5,8 Prozent) und Energie (plus 5,7 Prozent) eben Lebensmittel. Nämlich um mehr als fünf Prozent.
Was unter der ehemaligen schwarz-grünen Bundesregierung ungelöst blieb, will jetzt die schwarz-rot-pinke Dreierkoalition in den Griff bekommen. Am 21. August ließ das Sozialministerium wissen: Der Verein für Konsumenteninformation (VKI) klagt im Auftrag des Ministeriums den heimischen Lebensmittelhandel auf Unterlassung. Den vier größten Supermarktketten wird vorgeworfen, Rabatte irreführend gekennzeichnet zu haben, und dass die ausgeschilderten Aktionspreise teils sogar höher waren als der Ursprungspreis. Grundlage für diese Klage ist ein Gesetz aus 2022, welches vorschreibt, dass Rabatte stets auf den niedrigsten Preis der vergangenen 30 Tage bezogen werden müssen.
Dass die Klage ausgerechnet fünf Tage vor dem „Sommergespräch“ von Vizekanzler und SPÖ-Chef Andreas Babler publik wurde, dürfte kein Zufall sein. Zumindest munkelt man das im Kreis der betroffenen Händler. Die Klage wurde den Supermarktketten noch gar nicht zugestellt, fand aber sehr schnell den Weg in die Medien. Dementsprechend will auch kein Handelsunternehmen offiziell etwas dazu sagen. Die SPÖ hat ihren Wählern den Kampf gegen die Teuerung versprochen. Und Babler, der auch Fan des Hamburger FC St. Pauli ist, brauchte einen aufgelegten Elfmeter für sein erstes „Sommergespräch“ als Vizekanzler.
Der Wirtschaftsminister schreibt Briefe an die Kommission, die Sozialministerin klagt auf Unterlassung. Die Message ist klar: Die Fehler der vergangenen zwei Jahre im Kampf gegen die Inflation dürfen sich nicht wiederholen. Allein, viele Probleme lassen sich nationalstaatlich gar nicht lösen.
Der Grund dafür sind die sogenannten Territorial Supply Constraints (TSCs). Das sind von den Herstellern auferlegte Gebietsbeschränkungen gegenüber Einzel- und Großhändlern. Im Grunde handelt es sich um eine Marktaufteilung nach Territorien, indem man bestimmte Warenlieferungen in andere Ländern mengenmäßig einschränkt oder eben den Weiterverkauf in andere EU-Mitgliedsländer verbietet. Laut EU-Kommission kostet das die Verbraucherinnen und Verbraucher EU-weit 14,1 Milliarden Euro. Würde man also diese TSCs aufheben, würden die Einkaufspreise im EU-Schnitt um 8,8 Prozent sinken und die Verbraucherpreise um 7,6 Prozent. Also um doppelt so viel wie die aktuelle Inflationsrate.
Mini-Markt
„Wir sind für die ganz Großen einfach ein Zwutschgerl-Markt. Sie brauchen uns nicht unbedingt. Das ist mit Deutschland anders“, fasst ein Insider, der bei einem großen heimischen Handelsunternehmen arbeitet, die massive Marktmacht von globalen Lebensmittelproduzenten wie Unilever, Coca-Cola oder Nestlé zusammen. Übersetzt heißt das: Die großen Konzerne können es sich leisten, auf einzelne Supermarktketten in kleinen EU-Ländern zu verzichten. Umgekehrt können die Händler nicht unbedingt auf Markenartikel verzichten, ohne Kunden zu verlieren.
„Wir sind für die ganz Großen einfach ein Zwutschgerl-Markt. Sie brauchen uns nicht unbedingt. Das ist mit Deutschland anders."
Brancheninsider
über die Verhandlungsmacht der großen Lebensmittelgiganten
Globale Unternehmen wie der Kosmetikhersteller Beiersdorf, Unilever und viele andere haben für jedes EU-Land eigene Preislisten, teils eigene Verhandlerteams und sehr strenge Verträge, was Lieferkonditionen, Mengen und die Gebietsaufteilung betrifft. „Wir haben sehr wenig Spielraum, zu verhandeln. Die sind da beinhart“, erklärt der Insider. Deutsche Supermarktketten versorgen zehn Mal so viele Kunden und sind dementsprechend viel wichtiger für die globale Lebensmittelindustrie. Und so kommt es, dass mache Produkte im deutschen Einzelhandel oft weniger kosten als im österreichischen Großhandel.
„Wir dürfen solche Produkte aber dann nicht in Deutschland einkaufen und hier verkaufen. Dann werden wir sofort gesperrt und nicht mehr beliefert“, erklärt der Insider. Ein anderer Branchenvertreter aus einer großen Drogeriekette erzählt, dass eine bekannte Haarspraymarke, die in den eigenen Filialen vertrieben wird, hier für die Händler im Großeinkauf um 60 Prozent teurer ist als im deutschen Einzelhandel. Warum dann nicht einfach auf das Haarspray verzichten? Zu beliebt bei den Kunden, und die Marke gehört zu einem großen Kosmetikkonzern mit vielen anderen Produkten, die hier verkauft und gekauft werden. Der heimische Lebensmittelhändler Rewe ist auf Nachfrage zurückhaltend: „Beispiele dafür waren immer wieder Teil der Medienberichterstattung. Bitte haben Sie Verständnis, dass wir unseren Lieferanten hier aktuell nichts medial ausrichten wollen und uns dazu nicht äußern wollen.“
Diese Dominanz und Verhandlungsmacht führt dazu, dass wir in Österreich für Lebensmittel und Produkte des täglichen Bedarfs im Schnitt um bis zu 15 Prozent höhere Preise als im benachbarten Deutschland zahlen, wie die BWB errechnet hat. Das gewerkschaftsnahe Momentum Institut hat zuletzt die Preise ausgewählter Artikel im deutschen Edeka mit jenen im österreichischen Spar verglichen. Coca-Cola Zero kostet dort um fast ein Viertel mehr. Cremissimo-Eis ist um die Hälfte teurer und so weiter.
Zu dieser Erkenntnis kam die EU-Kommission übrigens schon 2020. Passiert ist bisher nicht viel. Weder in Österreich, das die territorialen Lieferbeschränkungen erst jetzt auf die politische Agenda hebt. Noch auf EU-Ebene. Dabei gibt es eine Reihe guter Gründe, dagegen vorzugehen. Während Produzenten ihre Rohstoffe in jedem EU-Land frei beziehen können und Konsumentinnen überall einkaufen dürfen, gilt diese Freiheit des Binnenmarkts für den Groß- und Einzelhandel nur bedingt.
Um das zu ändern, müsste man die EU-Binnenmarktvorschriften ändern. Bisher greift die EU bei Verstößen auf das Kartellrecht zurück. Erst im Vorjahr musste der Food-Gigant Mondelez aus den USA – dazu gehören zahlreiche Marken wie Jacobs, Oreo, Philadelphia oder Suchard – 337,5 Millionen Euro Strafe zahlen. Konkret, weil das Unternehmen den Vertrieb von Schokolade, Kaffeeprodukten und Keksen zwischen den nationalen Märkten eingeschränkt hat, indem es Lieferungen verweigerte, Territorialklauseln in die Verträge schrieb oder sogar die Preise manipulierte, urteilte die EU-Kommission. Davon war auch Österreich betroffen, wo Mondelez gute 60 Prozent des Marktes für Schokoladentafeln beherrscht.
Gecancelt
„Wir machen bereits seit Jahren auf die territorialen Lieferbeschränkungen aufmerksam“, heißt es von Spar-Österreich auf Nachfrage. „Daher hoffen wir stark, dass sich die österreichische Politik nun dafür einsetzt, dass man bei dem Thema in der EU weiter vorankommt und den Binnenmarkt beschränkende Praktiken endlich abgestellt werden.“ Spar hat diese Marktmacht unter anderem 2014 zu spüren bekommen. Der Cerealien-Hersteller Kellogg’s hat damals den Packungsinhalt reduziert, aber weiterhin den gleichen Beschaffungspreis verlangt. Als der Supermarkt das nicht hinnehmen wollte, hat Kellogg’s, das jetzt übrigens Kellanova heißt, Spar einfach nicht mehr beliefert und auch die Lieferung aus anderen EU-Ländern untersagt.
Wer glaubt, dass die Lebensmittelinflation mit der Abschaffung der territorialen Lieferbeschränkungen gestoppt sei, irrt. Denn der Lebensmittelhandel hat noch eine Reihe anderer Baustellen, die bleiben und politisch schwer zu lösen sind. Da wäre einmal die österreichspezifische Marktdominanz der vier großen Lebensmittelhändler. Spar, Rewe, Hofer und Lidl beherrschen 91 Prozent des heimischen Lebensmittelhandels. Das macht sie gegenüber heimischen Bauern und Lieferanten übermächtig. Und je weniger Unternehmen um Kunden konkurrieren müssen, desto geringer ist auch der Anreiz, die Preise schnell zu senken.
Emfpehlungen
Die Chefin der Bundesdeswettbewerbsbehörde, Natalie Harsdorf, emfpahl schon 2023 ein Ende der territorialen Lieferbeschränkungen.
Um den Preiswettbewerb zu beleben, hat die BWB schon 2023 eine Transparenzplattform empfohlen. Das zuständige Wirtschaftsministerium unter dem damaligen Minister Martin Kocher versprach, die Umsetzung dafür legistisch vorzubereiten. Passiert ist seither nichts. „Es handelt sich dabei um ein Projekt der Vorgängerregierung“, sagt das Wirtschaftsministerium heute dazu. Die Umsetzung einer solchen Plattform sei zwar geprüft worden, aber offenbar steht das Projekt heute nicht mehr auf der politischen Agenda. Das Ministerium verweist auf bereits bestehende private Plattformen für Preisvergleiche.
Strompreis-Keule
„Der Einzelhandel ist nicht schuld an den aktuell steigenden Preisen. Die Gewinnmargen haben wir auch kein bisschen erhöht“, sagt Rainer Will vom Handelsverband. Da wäre noch die gänzlich ungelöste Energiefrage. Seit Jahresanfang sind laut Handelsverband die Stromkosten für den Handel um ein Drittel gestiegen. Die Stromkostenbremse ist ausgelaufen, die Elektrizitäts- und die Gasabgabe sind heuer wieder in voller Höhe zu entrichten, und der wegen der Energiekrise stark reduzierte Erneuerbaren-Förderbeitrag wird heuer wieder voll bezahlt. All das und der Umstand, dass die Strompreise in Österreich noch immer deutlich höher sind als vor der Inflationskrise, wird vom Handel in die Lebensmittelpreise eingepreist. Darauf machte die BWB schon 2023 in ihrer Branchenuntersuchung aufmerksam: Im Kern aller Preiserhöhungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette lagen die höheren Energiepreise. Wenn man diese nicht in den Griff bekommt, gibt es langfristig auch keine billigen Lebensmittel.
Und nicht zuletzt treibt der Klimawandel mit seinen Extremwetterereignissen die Preise an den heimischen Regalen in die Höhe. Dass Olivenöl derzeit fast doppelt so viel kostet wie vor einigen Monaten, liegt daran, dass die Waldbrände in Süd- und Südosteuropa auch viele Olivenhaine vernichtet haben. Und wenn Olivenplantagen in Griechenland, Italien oder Spanien brennen und Ernten vernichtet werden, zahlen wir hier höhere Preise. Das ist nur ein Beispiel von vielen. Kaffee, Kakao, Äpfel – weltweit kämpfen Bauern mit Ernteausfällen wegen Dürren, Bränden oder Überschwemmungen.
Nach der Kampfrhetorik der vergangenen zwei Wochen wird der Ton in der Bundesregierung auch deshalb wieder versöhnlicher. Handelsvertreter besuchten vor Kurzem Finanzminister Markus Marterbauer (SPÖ), um über die aktuelle Situation zu sprechen. Dem Vernehmen nach dürfte die von den Gewerkschaften geforderte Mehrwertsteuersenkung auf Lebensmittel vom Tisch sein. Diese würde Milliarden im Budget kosten und auch einkommensstarke Haushalte entlasten, die das gar nicht brauchen. Gabriel Felbermayr, Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts, hat deshalb vorgeschlagen, die Mehrwertsteuer auf Produkte des täglichen Bedarfs zu senken und sie aufkommensneutral bei anderen Gütern anzuheben.
Auch die viel diskutierten Preisdeckel dürften eher nicht kommen. Nicht nur, weil die Koalitionspartner ÖVP und Neos dagegen sind, sondern auch, weil der promovierte Volkswirt Marterbauer ganz genau weiß, dass solche Eingriffe in den Markt ungewollte Nebenwirkungen haben können. Man müsste sie zum Beispiel entlang der gesamten Wertschöpfungskette einführen, damit sie nachhaltig wirken. Als Ungarn die Preise für bestimmte Lebensmittel deckelte und die Supermärkte zu bestimmten Abnahmequoten verpflichtete, haben die Geschäfte die Preise einfach woanders erhöht und das Geld so wieder hereingeholt. Außerdem war die Nachfrage nach dem verbilligten Hühnerfleisch, nach Eiern und anderen gedeckelten Produkten dann so hoch, dass sie phasenweise gar nicht verfügbar waren. Die Inflation ist dadurch auch nicht gesunken.
Bei der Regierungsklausur kommende Woche wollen Schwarz-Rot-Pink Maßnahmen gegen die Inflation und ein Konjunkturpaket vorstellen. Bei den steigenden Lebensmittelpreisen müssen sie sich aber auf die EU-Kommission verlassen, die für das Land den „Österreich-Aufschlag“ wegverhandeln muss.

Marina Delcheva
leitet das Wirtschafts-Ressort. Davor war sie bei der "Wiener Zeitung".