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Wie China an der Ablöse des Westens bastelt

China und Russland haben soeben die neue Weltordnung ausgerufen. Die Botschaft: Der Westen ist schwach, für Stabilität sorgen Peking und Moskau. China-Expertin Susanne Weigelin-Schwiedrzik erklärt, wie sich Peking die Zukunft vorstellt – und welche Rolle dabei Europa zukommt.

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Mittwochvormittag in Peking ist die Inszenierung perfekt. Über dem geschichtsträchtigen Tiananmen-Platz stahlt der Himmel in makellosem Blau, unten wehen die roten Flaggen der Volksrepublik, Zuschauer schwenken rote Fähnchen, und in der Mitte führt ein gigantischer roter Teppich über den Platz bis zum Denkmal für die Helden des Volkes.

Es ist die bisher größte Militärparade in der chinesischen Hauptstadt, und sie hat, neben der Feier zum 80. Jahrestag der Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg, vor allem einen Zeck: Die Volksrepublik will zeigen, was sie hat, und das ist mittlerweile ziemlich viel. In den vergangenen 20 Jahren hat China seine Rüstungsausgaben versiebenfacht, die Volksrepublik baut Raketen, Drohnen, Kampfjets und verfügt über die modernste Technologie. Mit der riesigen Truppenschau demonstriert die Führung militärische Stärke – und ihren Anspruch auf Macht in der Welt.

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Mehr als 50.000 Zuschauer sind auf dem Tiananmen-Platz versammelt, als prominenteste Gäste begrüßt Präsident Xi Jinping Kremlchef Wladimir Putin sowie den nordkoreanischen Diktator Kim Jong Un. Es ist das erste Mal, dass sich die drei gemeinsam in der Öffentlichkeit zeigen.

Für Putin ist es eine wahre Ehre. 

Im Herbst 2022 war Russlands Präsident beim Treffen der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) noch recht isoliert dagestanden, diese Woche war davon nichts mehr zu spüren, im Gegenteil. Beim Familienfoto nach der Militärshow stand er auf dem prominentesten Platz, direkt neben Xi. Und auch zuvor, beim Treffen der SOZ in der nordostchinesischen Millionenmetropole Tianjin, war er wie ein Star aufgetreten.

Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ)

wurde 2001 mit dem Ziel gegründet, „drei Übel“ zu bekämpfen: Terrorismus, Separatismus und religiösen Extremismus. Sicherheitspolitik liegt also im Fokus, wobei in den vergangenen Jahren auch Energie- und Wirtschaftsthemen dazukamen. Die SOZ hat zehn Mitglieder: China, Russland, Indien, Belarus, Kasachstan, Pakistan, Tadschikistan, Usbekistan, Kirgisistan und der Iran. 16 weitere Staaten, darunter die Türkei und einige Golfstaaten sowie die Vereinten Nationen, haben Beobachterstatus oder sind als „Dialogpartner“ vertreten. 

Mit Indiens Premierminister Narendra Modi sprach Putin eine Stunde lang unter vier Augen in seiner Limousine, und die Fotos von Xi mit seinem „alten Freund“ sprachen für sich: Putin und Xi händchenhaltend mit Modi, beim Anstoßen mit Champagner und im Gespräch an einem mit Blumen übersäten Tisch. 

China präsentierte sich als alternative Führungsmacht zum Westen, allen voran den USA. Mit der Ankündigung von 50-prozentigen Zöllen für Produkte aus Indien hat US-Präsident Donald Trump das bevölkerungsreichste Land der Welt China in die Arme getrieben. Die Probleme zwischen Indien und der Volksrepublik werden zwar nicht über Nacht verschwinden. Doch ist man mittlerweile offenbar überzeugt davon, dass Xi das geringere Übel ist als Trump, der die internationale Ordnung mit Handelskriegen und Annexionsfantasien ins Wanken bringt. 

Die Volksrepublik hat es derzeit leicht, sich als Hüter der globalen Stabilität zu inszenieren: Hier Trump, der alles über den Haufen wirft und keine stringente Strategie zu verfolgen scheint, dort China, das internationale Regeln achtet – eine Stimme der Vernunft, gerecht und zuverlässig.

Vereinbart haben Putin und Xi beim Treffen der SOZ mehr als 20 neue Kooperationsabkommen, doch in Wahrheit ging es um Symbolik. Die Botschaft: Der Westen ist schwach, für Stabilität sorgen künftig Peking und Moskau. In Tianjin riefen China und Russland nicht weniger aus als den Beginn einer neuen Weltordnung.

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Beim Treffen in Tianjin ging um nicht weniger als eine neue Weltordnung. Weg von der Hegemonie des Westens. Inwiefern ist das bereits gelungen?

Susanne Weigelin-Schwierdrzik

Man sollte dieses Treffen nicht überbewerten. Es ist nichts wirklich Großes passiert, mit einer Ausnahme: Modi kam das erste Mal seit sieben Jahren nach China. Die SZO hat drei Länder an ihrer Spitze: China, Russland und Indien. Russland hat Indien hineinreklamiert, China lehnte das zunächst ab – und bestand dann darauf, dass Indien nur Mitglied der SZO werden kann, wenn Pakistan auch Mitglied wird. Putin braucht die Inder, damit China nicht zu viel Einfluss auf die SZO hat. Die Organisation ist nicht komplett chinesisch gesteuert, wie das nach außen wirkt. Intern ziehen die Russen die Strippen.

Warum ziehen die Russen die Strippen, die ein Zwerg sind im Gegensatz zu China?

Susanne Weigelin-Schwierzik

Das hat damit zu tun, dass Russland eigentlich eine militärische Organisation aufbauen will. Der Kreml will die Mitglieder der SZO dazu bekommen, eine NATO-ähnliche Organisation zu bilden. Für die NATO wäre das ein sehr großes Problem, weil die SZO-Mitglieder zusammen eine sehr große militärische Kraft haben. Im militärischen Bereich waren bisher immer die Russen tonangebend, denn sie haben im Gegensatz zu China ein großes Nuklearwaffenarsenal. Doch Peking will keine militärische Allianz.

China hat in den vergangenen Jahren extrem aufgerüstet, das Heer ist mittlerweile auch zu großangelegten Angriffen fähig. Wozu diese Aufrüstung?

Susanne Weigelin-Schwierzik

Armeen werden auch zur Abschreckung aufgebaut. Sie sollen unseren potenziellen Feinden zeigen, dass wir über ein Waffenarsenal verfügen, das bei einem Angriff zum Einsatz kommen kann. Genau das ist die chinesische Logik.

Welches Szenario fürchtet Peking konkret?

Susanne Weigelin-Schwierzik

Man will die Amerikaner davon abhalten, China militärisch anzugreifen.

Peking hat wirklich Angst davor, dass die USA militärisch angreifen?

Susanne Weigelin-Schwierzik

Ja, und Peking hat auch aus dem Krieg in der Ukraine gelernt: Auseinandersetzungen, in diesem Fall mit Amerika, müssen nicht direkt stattfinden, sondern können auf einem dritten Territorium ausgetragen werden, in diesem Fall in der Ukraine. Stellvertreterkriege sind in dieser Logik in Zeiten nuklearer Bewaffnung notwendig, um zu verhindern, dass zwei Großmächte direkt gegeneinander Krieg führen und dadurch die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges stark steigt.

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Es geht also gar nicht darum, dass China selbst expandieren will?

Susanne Weigelin-Schwierzik

Nein. Es liegt nicht im Interesse Pekings, Länder in Zentralasien oder in Südostasien zu besetzen. Es sollen nur alle wissen, dass China so stark ist, dass man mit Peking gute wirtschaftliche Beziehungen haben und sich freundschaftlich verhalten muss. Und dafür braucht Peking natürlich auch den Beweis der Stärke und die Möglichkeit, wenn nötig Stellvertreterkriege zu führen. Ein solcher hat übrigens gerade zwischen Pakistan und Indien stattgefunden.

Im Frühjahr tötete eine pakistanische Terrorgruppe in Kaschmir Dutzende indische Touristen. Daraufhin bombardierte Indien die Camps der Terroristen, es kam zu Gegenangriffen und einer Eskalation, bis schließlich ein Waffenstillstand vereinbart wurde. Inwiefern war das ein Stellvertreterkrieg?

Susanne Weigelin-Schwierzik

Weil auf der pakistanischen Seite, als es zu einer Luftschlacht kam, chinesische Waffen eingesetzt wurden, und der Westen Material an Indien liefert. Die Inder haben zwei französische Flugzeuge verloren und zwei russische. Pakistan hatte keinerlei Verluste. Hier hat China zum ersten Mal sein Können im Bereich der Luftwaffe vorgeführt.

Das chinesische Militär hat eine Invasionsstrategie gegenüber Taiwan abgelehnt.

Geht es China nicht auch um die Vorbereitung einer möglichen Invasion Taiwans?

Susanne Weigelin-Schwierzik

Das chinesische Militär hat eine Invasionsstrategie gegenüber Taiwan abgelehnt. Das Unterfangen ist kaum erfolgreich durchzuführen. Deshalb ist China nach dem Besuch der damaligen Vorsitzenden des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi im August 2022 in Taiwan zu einer Blockadestrategie übergegangen. Immer wieder gibt es dazu Übungen, zuletzt am 1. und 2. April. Dabei hat China gezeigt, dass sie den wichtigsten Hafen Taiwans, den einzigen LNG-Hafen, komplett blockieren können. Taiwan verfügt über Gasreserven für gerade einmal zwei Wochen, danach ist Schluss.

Und welche Strategie verfolgt China im südchinesischen Meer?

Susanne Weigelin-Schwierzik

Die Situation um die Philippinen herum ist sehr zugespitzt. Dort hat China versucht, ein philippinisches Schiff abzudrängen. Rund um die Philippinen wird ständig gezündelt.

Sollten die USA gemeinsam mit Israel nochmal den Iran angreifen, dann werden die Chinesen im südchinesischen Meer etwas Größeres machen. 

Wieso?

Susanne Weigelin-Schwierzik

Das hat mit dem Iran zu tun. Sollten die USA gemeinsam mit Israel nochmal den Iran angreifen, dann werden die Chinesen im südchinesischen Meer etwas Größeres machen. Das ist meine Vorhersage.

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Susanne Weigelin-Schwiedrzik,

1955 geboren in Bonn, befasst sich seit Jahrzehnten mit China. Sie studierte Sinologie, Politikwissenschaft und Japanologie in Bonn, Peking und Bochum. Von 1989 bis 2002 war sie Universitätsprofessorin für Moderne Sinologie in Heidelberg, von 2002 bis 2020 unterrichtete sie an der Uni Wien. Aktuell ist sie Programmdirektorin für China im Thinktank „Zentrum für
strategische Analysen“.

Was könnte das sein?

Susanne Weigelin-Schwierzik

China wird dann wohl ein philippinisches Schiff aufbringen. Es gibt eines, das die ganze Zeit dort liegt und schon vollkommen verrostet ist. Die Philippinen lassen es dort, um ihren Anspruch an das Gewässer anzumelden. Ich könnte mir vorstellen, dass die Chinesen dieses Schiff entern. Dann müsste die philippinische Marine eingreifen und es käme zum Krieg.

Die USA würden dann aufseiten der Philippinen eingreifen und es käme zum Krieg mit China?

Susanne Weigelin-Schwierzik

Die USA könnten kaum eingreifen, weil sie im Nahen Osten tätig sind. Die Chinesen signalisieren, dass sie sich auf etwas Größeres vorbereiten, weil sie meinen, dass sie die USA so davon abhalten können, sich auf eine längere kriegerische Auseinandersetzung mit dem Iran einzulassen.

China zündelt im südchinesischen Meer, um den Iran zu schützen?

Susanne Weigelin-Schwierzik

Die Taiwan-Frage ist im chinesischen Kalkül keine rein innenpolitische Frage. Peking setzt Taiwan und andere potenzielle Konflikte ein, um weltpolitisch bestimmte Signale zu entsenden: Wenn die Amerikaner im Iran aktiv werden, dann werden die Chinesen in ihrer Umgebung aktiv.

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Amerika isolieren, Russland wieder auf der Weltbühne holen und Europa auf seine Seite ziehen – lässt sich der Plan Pekings so zusammenfassen?

Susanne Weigelin-Schwierzik

Wenn alles so liefe, wie es sich die Strategen in Peking erhoffen, dann wäre es genauso. Im strategischen Dreieck USA, Russland und China wären die USA isoliert, Russland und China arbeiten zusammen. Und damit die USA auch wirklich auf verlorenen Posten sind, holt Peking Europa ins Boot. Das ist umso wichtiger, weil in einer solchen Isolationsstrategie der amerikanische Markt verloren ginge. Umso mehr bräuchte China den europäischen Markt.

China will seine Vormachtstellung auch mit politisch-ökonomischen Mitteln erreichen. Peking strebt ein alternatives Zahlungssystem und langfristig auch eine gemeinsame Währung an, die den US-Dollar umgeht. Wie aussichtsreich ist dieses Vorhaben?

Susanne Weigelin-Schwierzik

Hier gibt es zwei Strategien. Russland will wie immer disruptiv vorgehen, die Chinesen hingegen schrittweise. Sobald der Dollar Schwäche zeigt, will Moskau ein alternatives Währungssystem aufbauen. Peking mahnt zur Vorsicht, es will nicht die ganze Weltwirtschaft infrage stellen. Nichts ist komplizierter, als ein Weltwirtschaftssystem zu dominieren, wie es bisher die Amerikaner taten. China will immer mehr Handelsbereiche und Länder, die am internationalen Handel teilnehmen, aus dem Dollarsystem partiell herauslösen. So würde der Anteil des Handels, der mit Dollar abgewickelt wird, über die Jahre immer kleiner, bis die USA ihn nicht mehr aufrechterhalten können. Als Vorbild dient die Ablösung des englischen Pfund durch den US-Dollar als Weltwirtschaftswährung Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Das ist auch schrittweise passiert: Je mehr das British Empire in seiner Weltherrschaft abstieg, umso weniger konnte das englische Pfund für sich beanspruchen, eine Weltwirtschaftswährung zu sein – und der Dollar wurde immer dominanter.

China will die USA nicht ersetzen, sondern gemeinsam mit Amerikanern und Russen das Weltgeschehen beherrschen.

Die multipolare Weltordnung, die China anstrebt, heißt nichts anderes, als die Hegemonie des Westens zu brechen. Was bedeutet der wachsende Einfluss Chinas für Europa?

Susanne Weigelin-Schwierzik

China will die USA nicht ersetzen, sondern gemeinsam mit Amerikanern und Russen das Weltgeschehen beherrschen. Amerikaner soll einer von mehreren Polen sein. Am Tisch dieser multipolaren Ordnung würden die Vertreter verschiedener Länder sitzen. An einem Ende Amerika und dessen Alliierte, am anderen Ende Russland und China sowie deren Verbündete, darunter der Iran und Länder aus jedem weiteren Kontinent. In der Mitte gäbe es noch ein paar freie Plätze, die müsste man unbedingt mit Ländern füllen, die sich nicht festlegen.

Wie die Türkei oder Indien?

Susanne Weigelin-Schwierzik

Die Türkei und Indien könnten zu dieser blockfreien Bewegung gehören. Die Türkei hat an der SZO-Sitzung teilgenommen, ist aber auch NATO-Mitglied, bereitet sich also darauf vor, eine mittlere Position einzunehmen. Die blockfreie Bewegung besteht aus Ländern, die in ihrer Loyalität hin und her schwanken. Man braucht sie, damit die Blöcke bei jeder Entscheidung genügend Länder für sich gewinnen müssen und die Balance stimmt.

Da würde auch Europa dazugehören?

Susanne Weigelin-Schwierzik

Das kommt darauf an, ob die Europäer eine geschickte Politik betreiben. Der westliche Block, das waren bisher vorrangig Europa, Amerika und Australien. China will sich nicht selbst zum Hegemon erklären, sondern eine Zwischenphase, die bestimmt 30, 40 Jahre dauern soll, in denen diese Multipolarität quasi den Übergang bildet.

Wie will China Europa auf seine Seite ziehen?

Susanne Weigelin-Schwierzik

Das ist sehr, sehr schwierig. Im Augenblick meint Europa, nur an der Seite Amerikas überleben zu können. Aus der Sicht Pekings sind die USA eine absteigende Weltmacht, die systematisch einen Fehler nach dem anderen machen. Absteigende Weltmächte kämpfen um ihr Überleben und können die Interessen ihrer Alliierten nicht mehr berücksichtigen. Deshalb kalkulieren die Chinesen, dass diese Alliierten früher oder später ihre Position gegenüber Amerika grundlegend verändern müssen und andere Machtkonstellationen suchen. Die Logik ist, dass es für Europa das Beste wäre, wieder die Zusammenarbeit mit Russland zu suchen – und mit China, damit der Zugang zum chinesischen Markt gesichert ist.

Das ist tatsächlich sehr schwer vorstellbar. Europa rüstet gegen Russland, das einen Angriffskrieg auf europäischem Boden führt. Wenn die Chinesen wirklich den Schulterschluss mit Europa suchen, warum tut Peking dann nicht mehr dafür, den Krieg in der Ukraine zu beenden?

Susanne Weigelin-Schwierzik

Die Chinesen sind Realisten. Sie halten den Krieg in der Ukraine auf diplomatischem Wege für unlösbar, es muss eine Macht über die andere siegen. Das Kalkül ist, dass die ukrainische Armee früher oder später zusammenbricht – und dann steigt China wie der Phoenix aus der Asche und vermittelt einen Friedensvertrag. Auf diesen Moment warten die Chinesen.

Für Russland ist China der wichtigste Partner, Moskau ist wirtschaftlich und technologisch von Peking abhängig. Aber was hat China von dieser „strategischen Partnerschaft“?

Susanne Weigelin-Schwierzik

Die Chinesen haben eine unheimliche Angst von der zu Kriegsanfang festgelegten, ursprünglichen NATO-Strategie. Der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sagte damals, wir müssten diesen Krieg gegen Russland so lange führen, bis das Land so ausgeblutet ist, dass es auseinanderfällt. Für China ist das ein Horrorszenario, denn dann könnten sich entlang der chinesisch-russischen Grenze neue Staaten bilden, die pro-amerikanisch wären. China wäre plötzlich umzingelt. Deshalb ist es im Interesse Chinas, dass Russland den Krieg nicht verliert und dass die Wirtschaft Russlands so gut läuft, dass die Bevölkerung sich nicht gegen das Kriegsregime erhebt. Bisher hat das funktioniert.

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Europa dachte lange, Russland durch Handel besänftigen und binden zu können. Sehen Sie nicht die Gefahr, dass das Gleiche mit China geschieht – und wir uns etwa in der Telekommunikationstechnologie komplett von China abhängig machen?

Susanne Weigelin-Schwierzik

Bisher bekamen wir die Innovationen aus Amerika, die Rohstoffe aus Russland und den Markt sowie die billige Produktion in der Zusammenarbeit mit China. Russland ist uns weggebrochen, und nun verlangen die USA, uns auch von China zu lösen. In der IT sind wir total von Amerika abhängig, wir haben keine Alternativen etwa zu Google aufgebaut. Dabei müssen wir uns gerade im Innovationsbereich unabhängig machen. Das bedeutet zum Beispiel, dass wir Batterien entwickeln müssen, die auf seltene Erden verzichten können. Damit würden wir durch Innovation plötzlich den Rest der Welt von uns abhängig machen. Doch dafür brauchen wir ein viel besseres Bildungssystem und gut finanzierte Forschung, die auch zu Ergebnissen kommt. Das ist meiner Meinung nach unsere einzige Chance.

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China und die Neuordnung der Welt

Susanne Weigelin-Schwiedrzik, Brandstätter Verlag 2023.  216 Seiten, EUR 22,–. 

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.