Ursula von der Leyen und Wolodymyr Selenskyj vor dem Logo der EU-Kommission
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Europas rote Linien im Ukrainekrieg

Die Friedensgespräche scheinen wieder einmal im Sand zu verlaufen. Europa würde gerne mitbestimmen, sitzt bei den aktuellen Verhandlungen aber nicht mit am Tisch. Was sind die roten Linien der EU – gibt es sie überhaupt?

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Gebietsabtretungen an Russland, eine Halbierung der ukrainischen Armee und Straffreiheit für Kriegsverbrecher – der Ende November veröffentlichte amerikanisch-russische Vorschlag für Frieden in der Ukraine war ganz im Sinne Moskaus. 

Prompt schaltete sich Europa dazu, vergangene Woche wurde weiter über ein Friedensabkommen verhandelt. Unterhändler aus Frankreich, Deutschland und Großbritannien einigten sich mit den USA und der Ukraine auf eine neue Version. Und diese Woche nahmen der Sondergesandte von US-Präsident Donald Trump Steve Witkoff und sein Schwiegersohn Jared Kushner die Gespräche mit Russlands Präsident Wladimir Putin wieder auf. Parallel verhandeln die USA mit Vertretern der Ukraine. Die Gesandten Trumps sind nicht nur komplett unerfahren, was Diplomatie und Außenpolitik betrifft. Sie scheinen sich auch von Moskau um den Finger wickeln zu lassen. 

An einem Kriegsende schein Putin nicht interessiert zu sein. Zwar empfängt er Trumps Unterhändler in Moskau, doch das liegt wohl daran, dass er zumindest Gesprächsbereitschaft signalisieren muss. Von seinen Maximalforderungen ist der Kreml keinen Zentimeter abgerückt.

Und Europa? 

Bei den aktuellen Verhandlungen sitzt die EU nicht am Tisch. Europa würde das Schicksal des Kontinents gerne mitbestimmen. Wo liegen die Roten Linien der EU, wenn es um ein Friedensabkommen geht?

Bereits Ende November nannte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen drei Schlüsselkriterien: Keine gewaltsame Verschiebung von Grenzen in der Ukraine (Gebietsabtretungen an Russland), keine Reduktion der Armee, die Russland weitere Angriffe ermöglichen würde, und drittens: „Die Ukraine muss frei sein, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen. Sie hat Europa gewählt.“ 

Sind das die roten Linien der EU in den Friedensverhandlungen? Oder können sich diese Forderungen noch ändern? Auf profil-Nachfrage bei der Europäischen Kommission heißt es, man könne über laufende Verhandlungen nicht spekulieren, und über rote Linien werde man schon gar nicht sprechen. 

Keine Amnestie für Kriegsverbrecher

Justizkommissar Michael McGrath sieht das offenbar anders. In einem Interview mit dem Nachrichtenportal „politico“ sagte der Ire Anfang der Woche, dass es keine Straffreiheit für russische Kriegsverbrecher geben dürfe. Im ursprünglichen, russisch-amerikanischen Vorschlag für ein Friedensabkommen war von einer „kompletten Amnestie für im Krieg begangene Taten“ die Rede. Im Angriffskrieg gegen die Ukraine bombardiert Russland Wohngebäude und die zivile Infrastruktur, und wegen der Deportation ukrainischer Kinder nach Russland hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Haftbefehl gegen Putin erlassen. „Ich glaube nicht, dass die Geschichte Bemühungen, die russischen Verbrechen in der Ukraine unter den Teppich zu kehren, wohlwollend beurteilen wird“, sagte McGrath. Moskau müsse „für diese Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, und das wird auch die Haltung der Europäischen Union in all diesen Diskussionen sein“.

Zwei Männer reichen einander die Hände
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Die Ermittlungen des IStGH zu stoppen, wäre ohnehin nicht einfach. Zwar könnte sich die Ukraine verpflichten, keine nationalen Verfahren durchzuführen und keine Fälle an das Sondertribunal für das Verbrechen der Aggression weiterzuleiten. Doch der Weltstrafgerichtshof agiert nicht auf Zuruf, der Ankläger entscheidet unabhängig über Ermittlungen. 

Temporär auf Eis gelegt werden kann ein Verfahren nur durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN), erklärt Astrid Reisinger Coracini, Völkerrechtsexpertin an der Universität Salzburg. Gelten würde der Stopp für ein Jahr – mit der Option auf Verlängerung. Dafür braucht es allerdings die Mehrheit der Mitglieder des Sicherheitsrates, und dessen ständigen Mitglieder könnten das Vorhaben durch ein Veto stoppen, so die Expertin. Frankreich und das Vereinigte Königreich müssten also auch an Bord sein – ein unwahrscheinliches Szenario. 

Die EU bestimmt selbst, was mit dem beschlagnahmten russischen Vermögen geschieht

Der ursprüngliche Vorschlag der USA und Russland war ein Schock für Europa: Geplant war, einen Teil des in der EU eingefrorenen russischen Vermögens für den Wiederaufbau in der Ukraine zu nutzen. Die USA würden die Hälfte der Gewinne kassieren, und Russland müsste keine weiteren Reparationszahlungen leisten. 

Nicht mit uns, hieß es dazu aus Brüssel. 

Die EU will 140 Milliarden Euro aus dem russischen Vermögen nutzen, um der Ukraine im Krieg gegen Russland zu helfen. Die EU-Kommission schlägt vor, die Mittel als Kredit an Kyiv auszuzahlen, der später aus russischen Reparationszahlungen beglichen werden soll.

Doch eine Einigung mit allen Mitgliedstaaten ist bisher nicht gelungen. Der Großteil der Gelder liegt bei der Abwicklungsgesellschaft Euroclear in Belgien, und die dortige Regierung fürchtet, von Russland haftbar gemacht zu werden. Für den (laut Experten unwahrscheinlichen) Fall, dass Moskau vor Gericht recht bekäme, verlangt Belgien Garantien von den anderen Mitgliedstaaten, doch einige weigern sich. In Brüssel wird derzeit über eine Lösung des Problems verhandelt.

Sollte Belgien der Freigabe der russischen Gelder zustimmen, braucht es noch die Zustimmung der Mitgliedstaaten, damit das Geld als Kredit an die Ukraine fließen kann. Nötig wäre dafür nicht Einstimmigkeit, sondern eine qualifizierte Mehrheit. Aus der EU-Kommission in Brüssel heißt es, der Entwurf sei so formuliert worden, damit Ungarn den Plan nicht blockieren kann. 

Keine Aufgabe von Gebieten, die Russland nicht erobert hat

In Abstimmung mit Moskau hatten die USA großzügige Gebietsabtretungen an Russland vorgeschlagen: Die Ukraine sollte auch Land aufgeben, das Russland gar nicht erobert hat – für Europa völlig inakzeptabel. Im von Frankreich, Großbritannien und Deutschland vorgelegten Plan heißt es: „Die Ukraine verpflichtet sich, ihr besetztes Hoheitsgebiet nicht mit militärischen Mitteln zurückzuerobern. Die Verhandlungen über Gebietsabtretungen werden an der Kontaktlinie beginnen.“

Was davon nach einer weiteren Woche an Gesprächen zwischen Moskau und Trumps Unterhändlern übrig ist, ist nicht bekannt. Auch der Sicht Europas können Verhandlungen über Gebiete erst nach einem Waffenstillstand beginnen. Russland werde die Verhandlungen in die Länge ziehen und großzügige Zugeständnisse von der Ukraine verlangen, heißt es dazu aus Brüssel. „Wir teilen die Sorge der Ukrainer, dass Moskau immer mehr verlangt, sobald einmal Zugeständnisse auf dem Tisch liegen.“ 

Die Ukraine braucht belastbare Sicherheitsgarantien, damit Russland nicht wieder angreift

Russland zieht sich nach einem Friedensabkommen zurück, rüstet nach und greift wieder an – so sieht das Horrorszenario Europas aus. Ein Kompromiss mit Moskau muss sicherstellen, dass Russland seine Expansionspläne nicht auf einen späteren Zeitpunkt verschiebt, und dafür braucht es belastbare Sicherheitsgarantien. Im ursprünglichen, US-russischen Plan heißt es lediglich: „Es wird erwartet, dass Russland nicht in seine Nachbarländer einmarschiert und die NATO nicht weiter expandiert.“ Diesen Punkt haben die Europäer, die bereits Erfahrungen mit der (mangelnden) Handschlagqualität Moskaus gemacht haben, gestrichen. Gefordert werden „robuste Sicherheitsgarantien“: Sollte Russland die Ukraine noch einmal angreifen, sind die USA verpflichtet, ihr zur Hilfe zu kommen. Vorbild ist die Beistandsverpflichtung in Artikel 5 der NATO-Verträge. 

Im US-Friedensplan war eine Entsendung von NATO-Truppen in der Ukraine komplett ausgeschlossen, im europäischen Vorschlag erklärt sich die NATO bereit, „in Friedenszeiten“ nicht dauerhaft Truppen in der Ukraine zu stationieren.

Für Europa sind die Sicherheitsgarantien für die Ukraine in den vergangenen Wochen noch wichtiger geworden, weil die USA Russland versprochen haben, dass die Ukraine kein NATO-Mitglied wird. Laut Frankreichs Außenminister Jean-Noël Barrot zeigten die USA nun erstmals die Absicht, „mit uns an der Ausarbeitung von Sicherheitsgarantien zu arbeiten“. 

Russland werde dem Deal, wie er aktuell auf dem Tisch liege, nicht zustimmen, sagt der Beamte aus Brüssel. Eine rasche Einigung ist nicht in Sicht, und womöglich wäre sie auch nicht im Sinne Kyivs. Ein von den USA erzwungenes Friedensabkommen würde Moskau wohl am meisten nutzen. 

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort und seit 2025 stellvertretende Ressortleiterin. Schwerpunkt: Europa und USA.