Afghanistan kennt Mohammad Yousuf, 33, nur aus Erzählungen. Er ist in der Großstadt Peschawar in Pakistan aufgewachsen, wenige Autostunden von der afghanischen Hauptstadt Kabul entfernt. Seit Jahrzehnten leben hier im Nordwesten Pakistans Geflüchtete aus Afghanistan. Jetzt werden sie von den Behörden gesucht und in Massen abgeschoben, seit 2023 betraf das über eine Million Menschen. Eine weitere Million soll folgen.
Manche Afghanen können noch Möbelstücke mit über die pakistanische Grenze nehmen, andere müssen ihr gesamtes Hab und Gut zurücklassen.
Viele Menschen, darunter auch viele mit Aufenthaltsgenehmigung, mussten Pakistan ohne ihr Hab und Gut verlassen und wurden von Polizei und Armee misshandelt. Der Grund, den die Regierung für die Abschiebungen nennt, sind Terroranschläge in den Stammesgebieten an der pakistanisch-afghanischen Grenze.
Wir sind die Sündenböcke, obwohl wir mit Terrorismus nichts zu tun haben.
Mohammad Yousuf
Afghane
„Wir sind die Sündenböcke, obwohl wir mit Terrorismus nichts zu tun haben“, klagt Yousuf. Er hofft, bleiben zu dürfen, denn er hat Angst vor den Taliban. Im „Islamischen Emirat Afghanistan“ herrscht der Extremismus der Sittenwächter.
Schikanen ohne Ende
Doch auch in Pakistan war es für Yousuf nie einfach. Schon vor der großen Abschiebewelle wurden er und seine Brüder mehrmals von der pakistanischen Polizei verhaftet. Ethnischer Afghane zu sein, reicht, um verdächtigt zu werden. Meist mussten sie Schmiergeld zahlen, um wieder freigelassen zu werden. Ein Teil von Yousufs Familie wurde schon vor mehreren Jahren nach Afghanistan abgeschoben und lebt heute in Kabul.
Wenn Yousuf spricht, klingt er wie ein echter Paschtune aus Peschawar. Sein Dialekt wäre vielen Menschen in Kabul, der Heimatstadt seiner Eltern, fremd. Auch Farsi, das in der afghanischen Hauptstadt hauptsächlich gesprochen wird, beherrscht Yousuf, der als einfacher Arbeiter versucht, über die Runden zu kommen, kaum. Sein Zuhause ist Pakistan, doch er bekam nie mehr als jenen Ausweis, den alle afghanischen Geflüchteten haben. Der dient nur der Identifikation und ist schon längst abgelaufen.
So wie Mohammad Yousuf betrachten viele ethnische Afghanen Pakistan als ihre Heimat. Andere wiederum sind erst in den vergangenen Jahren über die Grenze geflüchtet, die meisten, um der Verfolgung durch die islamistischen Taliban zu entgehen. Maria Noori ist eine von ihnen. Die 37-Jährige hat sich in Afghanistan für Frauenrechte eingesetzt. Als die Taliban im August 2021 wieder an die Macht kamen, wurde es für die Aktivistin bald zu gefährlich. Westliche Regierungen wollten ihr kein Exil anbieten, und so war Noori gezwungen, nach Pakistan zu fliehen.
Täglich werden wir von der pakistanischen Polizei bedroht. Sie wollen uns zurück zu den Taliban abschieben.
Maria Noori
afghanische Frauenrechtlerin
„Ich kritisierte die Taliban in den Medien, nahm an Protesten teil und organisierte in meinem Haus Versammlungen“, erzählt Noori. Dann geriet sie ins Radar der Extremisten. Sie bedrohten sie und ihre Familie. Aber auch jetzt in Pakistan ist sie nicht in Sicherheit. „Wir leben hier unter fürchterlichen Bedingungen. Täglich werden wir von der pakistanischen Polizei bedroht. Sie wollen uns zurück zu den Taliban abschieben“, beklagt sie.
Die pakistanischen Behörden machen bei Massenabschiebungen auch für Journalisten, Menschen- und Frauenrechtsaktivisten keine Ausnahmen. Jüngst wurde bekannt, dass rund 200 Afghanen und Afghaninnen in ihr Herkunftsland zurückgeschickt wurden, obwohl sie über Aufnahmezusagen aus Deutschland verfügten. In Pakistan warteten sie auf ihre Visa.
Auch Noori sagt, sie habe eine solche Aufnahmezusage aus Deutschland. Sie und ihre Familie seien Teil des 2021 ausgerufenen Aufnahmeprogramms der Bundesregierung. Eine Evakuierung in die Bundesrepublik ist allerdings, ähnlich wie in zahlreichen anderen Fällen, bis heute nicht erfolgt. Die Bundesregierung aus Union und SPD will die Aufnahmeprogramme „so weit wie möglich“ beenden. Allerdings entschied ein deutsches Gericht, dass die erteilten Aufnahmezusagen für rund 2400 Betroffene nicht einfach storniert werden können. Außenminister Johannes Wadephul (CDU) versprach „Hilfe“ für die von Abschiebung Bedrohten.
Viele Afghaninnen und Afghanen wie Noori sind verbittert: „Wir wurden zurückgelassen und verraten“, sagt sie.
„Spione des Mossad“
Nicht nur Pakistan, auch der Iran deportiert Hunderttausende Flüchtlinge aus Afghanistan. Das hat nicht zuletzt mit dem 12-Tage-Krieg zu tun, bei dem im Juni Israel und die USA den Iran aus der Luft angriffen, die Atomanlagen zerstörten und hochrangige Kommandeure des Militärs – und auch Zivilisten – töteten. Schon während der israelischen Angriffe behauptete das Regime in Teheran, dass afghanische Geflüchtete als „Spione“ für den israelischen Geheimdienst Mossad gearbeitet hätten.
Junge Männer wurden willkürlich verhaftet und im Staatsfernsehen vorgeführt. In den sozialen Medien wurde der Hass gegen Menschen aus Afghanistan geschürt. Bis heute stehen vor allem Ex-Soldaten der afghanischen Armee, von denen nach der Taliban-Machtübernahme viele in den Iran geflüchtet sind, aus der Sicht des Mullah-Regimes unter Verdacht, mit Israelis und Amerikanern zusammenzuarbeiten.
Mitte August berichteten mehrere Medien von einer Zusammenarbeit zwischen Teheran und den Taliban. Konkret geht es um geleakte Datensätze, die in die Hände der Taliban gefallen sind und angeblich die Identitäten mehrerer Afghanen, die eng mit dem Geheimdienst MI6 sowie britischen Spezialeinheiten zusammengearbeitet haben, offenbaren.
Über eine Million Afghanen wurden nur aus dem Iran deportiert.
„Wir Afghanen wurden im Iran wie Vieh behandelt. Bis zu unserer Abschiebung wurden wir beschimpft, beraubt, drangsaliert und körperlich misshandelt“, erzählt Abdullah, der nur seinen Vornamen nennen will. Fast sechs Monate lebte er im Iran, am Ende musste er die Wucherkosten für seine eigene Abschiebung tragen. Wer sich beschwerte, wurde von der iranischen Polizei verprügelt. „Sie haben Fabriken gestürmt und willkürlich afghanische Arbeiter verhaftet.“
Abdullah ist klar, welchen Zweck die Kampagne des Mullah-Regimes gegen angebliche afghanische Spione hat: „Wir werden für ihr eigenes Versagen gegen Israel verantwortlich gemacht.“ Die Afghanen müssten als Sündenböcke für die militärische Niederlage des Regimes gegen Israel herhalten.
Wir werden für ihr eigenes Versagen gegen Israel verantwortlich gemacht.
Abdullah
afghanischer Ex-Soldat
Seit drei Wochen lebt Abdullah wieder in Kabul, wo es kaum Platz für die zahlreichen Rückkehrer gibt. Die Taliban sind mit der enormen Zahl an Rückkehrern – geschätzt sind es über eine Million Menschen – massiv überfordert und halten gleichzeitig nach Dissidenten oder ehemaligen Soldaten, die sie einst bekämpft haben, Ausschau. „Sie haben immer noch Dokumente und Namenslisten“, erzählt ein ehemaliger Elitesoldat der afghanischen Armee. Auch er flüchtete in den Iran und kehrte vor einigen Monaten nach Afghanistan zurück. „Ich sah dort keine Zukunft. Hier in Kabul kenne ich mich wenigstens aus und weiß, wo ich mich verstecken kann“, sagt er.