Flüchtlinge aus Ungarn bei ihrer Ankunft am Samstag, 5. September 2015, an der Grenze zu Österreich in Nickelsdorf im Burgenland. - FOTO: APA/ROLAND SCHLAGER

Der Weg zur Flüchtlings-Wende

Heute vor zehn Jahren brachte die Tragödie von Parndorf eine Wende in Europas Flüchtlingspolitik. Wenige Tage später machten sich tausende Geflüchtete zu Fuß auf den Weg von Budapest nach Wien. profil-Redakteurin Nina Brnada hatte sie damals begleitet.

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Heute vor zehn Jahren änderte sich alles. Ein kleiner Kühllastwagen blieb am 26. August 2015 gegen 9.45 Uhr in einer Nothaltebucht auf der A4 zwischen Neusiedl am See und Parndorf stehen. Der Fahrer flüchtete. Erst am nächsten Tag entdeckte ein Asfinag-Mitarbeiter den Lastwagen und kontaktierte die Polizei. Als die Beamten die Türen zum Laderaum öffneten, fanden sie darin 71 leblose Körper. 

59 Männer, acht Frauen und vier Kinder aus dem Irak, Afghanistan, Syrien und dem Iran hatten sich darin versteckt, um aus Ungarn nach Österreich einzureisen. Doch ihre Schlepper hatten den Laderaum im Hitzesommer bei 35 Grad Außentemperatur luftdicht verschlossen. 71 Menschen erstickten im 13 Quadratmeter kleinen Raum.

Die Tragödie bei Parndorf war ein Wendepunkt des Flüchtlingssommers 2015. Der damalige Bundespräsident Heinz Fischer rief zu einer Schweigeminute auf, in Wien, Eisenstadt und Budapest wurden spontane Mahnwachen organisiert, vor dem Parlament am Ring demonstrierten 20.000 Menschen für eine menschliche Flüchtlingspolitik und auch der damalige Papst Franziskus gedachte der Opfer von Parndorf. Rasch kam dieser Wandel auch in der Politik an: Am 31. August 2015 sagte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel erstmals: „Wir schaffen das!“

Tausende Menschen glaubten dem Versprechen eines aufnahmebereiten Europas. Nina Brnada hat in der aktuellen Covergeschichte das Jahr 2015 und seine Folgen für profil zusammengefasst. Marina Delcheva fragte bei AMS-Chef Johannes Kopf nach, was Österreich seit damals geschafft hat. Und Clara Peterlik sprach mit Menschen, die als Flüchtlinge ins Land kamen und sich hier ein neues Leben aufgebaut haben. Ich kann alle drei Geschichten nur wärmstens empfehlen. 

Hier möchte ich ein Detail hervorheben, das die Cover-Strecke besonders macht: Als am 4. September 2015 rund 1000 Geflüchtete den Bahnhof Keleti in Budapest verließen, um zu Fuß über die Autobahn nach Österreich zu gehen, wurden sie von einer österreichischen Journalistin begleitet: Nina Brnada. Theoretisch müsste sie irgendwo auf diesem Foto zu sehen sein. Praktisch ist es noch keinem Redaktionsmitglied gelungen, Brnada in der Menschenmasse zu entdecken.

2015: Menschen laufen auf einer Autobahn

Brnada, damals 30 Jahre jung und noch bei der Wiener Wochenzeitung „Falter“ beschäftigt, war wenige Tage zuvor ihrem journalistischen Instinkt gefolgt. Am Wiener Hauptbahnhof hatte sie sich spontan dazu entschieden, nicht nach München zu fahren, um mit dort neuankommenden Geflüchteten zu sprechen, sondern in die andere Richtung einzusteigen: Nach Ungarn, wo Premier Viktor Orbán es verboten hatte, Hilfe für Geflüchtete zu leisten. Rund 3000 Geflüchtete saßen seit Tagen am Budapester Bahnhof Keleti fest, wurden weder versorgt, noch registriert. „Auf dem Gelände standen Plastiktoiletten, doch der elendige Gestank nach Schweiß, Urin und Kot waberte über dem gesamten Areal des Ostbahnhofs“, erinnert sich Brnada. 

Die Straße entlang

Statt sich abzuwenden, blieb Brnada bei den Geflüchteten. Sie hörte sich die Geschichten der Familie aus dem Irak auf derer blau-weißen Decke an und des jungen Syrers, der seinen Taufschein in der Schuheinlage seines rechten Sneakers versteckt hatte. Und sie glaubte zunächst nicht, dass ein Teil der Geflüchteten wenige Tage später versuchen würde, ihren Weg aus Budapest 231 Kilometer weit bis Wien zu Fuß fortzusetzen. Als sich am 4. September gegen 13 Uhr eine Gruppe losmarschierte, ging Brnada dennoch mit. Der Plan der Geflüchteten war simpel: Sie würden einfach die Straße geradeaus entlanggehen.

Flüchtlinge am Donnerstag, 3. September 2015, am Bahnhof Keleti (Ostbahnhof) in Budapest.

Auf den Marsch vorbereitet war kaum jemand. Viele der Geflüchteten trugen Flip-Flops, einige begannen schon nach wenigen Kilometern zu humpeln. Einige junge Männer achteten als eine Art Ordner darauf, dass niemand zurückblieb. Auch nicht das Teenagermädchen, das ihre Periode, aber keine Hygieneprodukte hatte. Brnada begleitete eine Familie, deren Sohn durch einen Bombeneinschlag fast taub wurde und nahm den unruhigen Jungen an der rechten Hand, um ihn vor den vorbeizischenden Autos zu schützen.

Bis der Abend einbrach, hatte der Marsch der Geflüchteten in Österreich etwas bewegt: Busse sollten sie bis zur Grenze bringen. Doch das Misstrauen der Geflüchteten war groß, sie stellten Bedingungen: Ein erster Bus sollte ohne Polizisten vorfahren und die sichere Ankunft in Österreich den Zurückgebliebenen melden. Erst dann komme der Rest nach. In diesem ersten Bus saßen nur Männer – und Nina Brnada. Gemeinsam mit einem ungarischen Lokaljournalist, ein Kameramann der ARD und ein Redakteur der deutschen taz diente sie den Geflüchteten auch als eine Art Versicherung: Sollten sie doch hinters Licht geführt werden, könnten diese vier die List öffentlich machen. Zudem kündigte einer der Geflüchteten an, den Fahrer des Busses zu töten, sollte er doch in ein Camp abbiegen. Doch kaum im Bus schliefen die Geflüchteten vor Erschöpfung ein.

Als der Bus in Hegyeshalom und seine Insassen wenige Schritte über die Grenze nach Österreich taten, wartete dort der damalige Landespolizeidirektor und heutige Landeshauptmann des Burgenlands, Hans Peter Doskozil. Wenn er an 2015 denkt, erinnert er sich an diese „erste Nacht in Nickelsdorf, als die Menschen, die mit Bussen aus Ungarn gekommen sind, über die Grenze gestürmt sind“, wie er zuletzt dem „Standard“ sagte. 

Im aktuellen profil lesen Sie die Geschichten der Geflüchteten.

Max Miller

Max Miller

ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und mag Grafiken. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.