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Netanjahu-Gegner Ofer Cassif: „Man wollte uns lynchen“

Dreimal wurde Knesset-Abgeordneter Ofer Cassif suspendiert. Er erzählt, wie Netanjahu seine Gegner unter Druck setzt und wie die Gewalt auf Israels Straßen eskaliert.

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Sie demonstrierten am vorletzten Sonntag zusammen mit über einer Million Israelis für einen Waffenstillstand in Gaza und einen Geiseldeal. Wie sehr setzt das Netanjahu unter Druck?

Ofer Cassif

Das war eine der größten Demonstrationen in der Geschichte Israels. Netanjahu und seine Handlanger sind in Panik geraten. Noch bevor jegliche Kundgebungen oder Streiks starteten, sagten sie bereits, die Proteste seien gescheitert. Aber auch wenn die Regierung nervös ist, will sie ihre Grausamkeiten, darunter auch die Opferung der Geiseln, fortsetzen.

Warum?

Cassif

Netanjahu sorgt sich um sein persönliches Schicksal. Er ist ein Feigling und fürchtet, mit Kriegsende im Gefängnis zu landen. Sein Regierungsumfeld aus messianischen Fanatikern glaubt indessen felsenfest daran, dass die vollständige Zerstörung des Gazastreifens und dessen Kolonialisierung durch jüdische Siedler Teil eines göttlichen Plans sind, den sie ausführen müssen.

Knesset member Ofer Cassif

Ofer Cassif, 60,

vertritt seit 2019 die sozialistische Partei Chadasch in der Knesset. Er stammt aus einer jüdischen Familie, die 1934 aus Polen nach Israel ausgewandert ist. Der linke Abgeordnete unterrichtet Politikwissenschaften an der Hebräischen Universität in Jerusalem und anderen Hochschulen.

Chadasch-Vorsitzender Ayman Odeh und Sie wurden im Juli bei einer Demonstration angegriffen. Was ist passiert?

Cassif

Man wollte uns lynchen. Schon als ich in der Stadt Ness Ziona, wo für ein Ende des Gaza-Krieges demonstriert wurde, ankam, warfen Dutzende Männer Glasflaschen und später Steine, spuckten, fluchten und versuchten mich zu schlagen. Die Polizei musste uns aus der Gefahrenzone bringen. Der Mob zerschlug die Scheibe von Ayman Odehs Auto. Jemand warf einen großen Stein auf mich, der mich nur um wenige Zentimeter verfehlte und hinter mir ein Fenster einschlug.

Sie gaben danach der Regierung Netanjahu die Schuld an der Gewalt. Warum?

Cassif

Die Polizei hat ihre Arbeit nicht getan. Niemand wurde verhaftet. Die Polizei ist zu einer Miliz der Regierung geworden, anstatt eine Kraft zu sein, die der Öffentlichkeit dient. Aber noch schlimmer ist, dass sich niemand von dieser Gewalt distanzieren wollte. Regierungsvertreter haben sie praktisch gutgeheißen und gefördert.

Die Regierung verurteilte den Vorfall nicht?

Cassif

Sogar der Knessetsprecher (Amir Ohana von der Regierungspartei Likud, Anm.) fand keine kritischen Worte, obwohl ich ihn damit konfrontiert hatte. Hinzu kommen verbale Attacken von Regierungsvertretern selbst: Itamar Ben-Gvir, Minister für öffentliche Sicherheit, forderte zum Beispiel letztes Jahr, mich nach Syrien abzuschieben. Netanjahu und seine Minister normalisieren und legitimieren die Gewalt auf den Straßen.

Ayman Odeh spricht bei einer Demo.

Der arabisch-israelische Anwalt Ayman Odeh ist Vorsitzender von Chadasch.

Die Fraktion stellt drei Knessetabgeordnete (Ayman Odeh, Ofer Cassif und Aida Touma-Suleiman). Chadasch ist die einzige Partei in Israel, die sich als jüdisch-arabische Partei versteht.

Der Großteil der Stammwähler von Chadasch sind arabische Staatsbürger Israels, die sich oft als Palästinenser identifizieren und rund ein Fünftel der Bevölkerung Israels ausmachen. Wie hat sich das Leben für sie seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober verändert?

Cassif

Netanjahu möchte unsere palästinensischen Mitbürger mundtot machen. Ärzte, Lehrer und Studenten wurden gefeuert, weil sie sich gegen das Massaker in Gaza ausgesprochen haben. Es herrscht ein Klima der Angst. Aber es gibt auch Lichtblicke: Immer mehr Menschen riskieren es, zu protestieren. Vor ein paar Wochen gab es eine riesige Demonstration in der palästinensischen Stadt Sachnin im Norden Israels, an der fast 20.000 Menschen, hauptsächlich Palästinenser, teilnahmen.

Raphael  Bossniak

Raphael Bossniak

seit Juli 2025 im Außenpolitik-Ressort. Davor freier Journalist für APA, Kurier und die deutsche Nahostfachzeitschrift zenith. Schwerpunkt Nahost / Kaukasus / Osteuropa.