Unicef-Mitarbeiter: „Wir könnten Gaza mit Hilfsgütern fluten“
Zur Person
Dr. Fahd Haddad ist ärztlicher Leiter eines Feldspitals in Zentral-Gaza. Die Gesundheitseinrichtung wird gemeinsam von dem Gesundheitsministerium Gazas und der NGO „Ärzte ohne Grenzen“ betrieben. Zuvor war er Leiter der Abteilung für Notfallmedizin im al-Aksa-Krankenhaus in der Stadt Deir al-Balah, die ebenfalls im zentralen Gazastreifen liegt.
Das Essen geht uns aus.
Herr Haddad, Sie sind Direktor eines Feldspitals in Zentral-Gaza. Wie geht es ihren Patientinnen und Patienten?
Fahd Haddad
Zu uns kommen mittlerweile unterernährte Menschen, die oft seit zwei bis drei Tagen nichts mehr gegessen haben. Darunter auch Jugendliche, denen schwindlig ist und die nicht einmal mehr gehen können.
Können sie ihre Patienten noch ernähren?
Haddad
Das Essen geht uns aus. Die Wunden heilen langsamer, wenn die Menschen nichts essen, und sie müssen länger bei uns in Pflege bleiben. Aber auch unser Personal ist erschöpft. Sie stehen sechs Stunden lang im Operationssaal, ohne ein Frühstück im Magen zu haben.
Findet man noch Essen auf den Märkten in Gaza?
Haddad
Die Preise sind um zehn bis hundert Prozent gestiegen. Aber selbst, wenn man das Geld hat, ist es reines Glücksspiel, ob man überhaupt Mehl oder Tomaten zum Verkauf findet.
In letzter Zeit häuften sich die Berichte über Tote und Verletzte bei Verteilstationen der umstrittenen US-Hilfsorganisation Gaza Humanitarian Foundation (GHF). Kommen die Betroffenen auch in ihr Krankenhaus?
Haddad
90 Prozent unserer Patienten der letzten 40 Tage wurden bei den Verteilungsstellen der GHF verwundet. Manche kommen mit Kopfschüssen oder Bauchwunden zu uns. Ich weiß, dass die Situation in anderen Krankenhäusern ähnlich ist. Die GHF-Stellen sind chaotisch. Die Menschen haben Glück, wenn sie etwas zu essen ergattern können und es schaffen, lebend rauszukommen.
Haben sie noch genug Versorgungsgüter gelagert?
Haddad
Wir haben einen immensen Engpass. Krankenhausbetten sind zum Beispiel sehr rar geworden. Wenn man Krankenhäuser in Gaza betritt, sieht man Patienten auf dem Boden liegen.
Haben Sie noch Platz für neue Patienten?
Haddad
Wir sind bereits an der Kapazitätsgrenze angelangt. Unser Feldspital hat Platz für 90 Patienten – wir bringen derzeit 130 unter. Wir mussten die Betten aus unserem Reservelager und aus unserer Notaufnahme nehmen. Unsere Ärzte behandeln Patienten in der Notaufnahme am Boden, weil wir die Betten woanders brauchen.
An was mangelt es noch?
Haddad
Zum Beispiel externe Fixierungen, kleine Metallteile, die gebrochene Gliedmaßen stabilisieren. Wenn wir diese nicht haben, werden wir mehr Infektionen und in Folge Amputationen erleben. Auch unsere Öl-Reserven für die Stromgeneratoren neigen sich dem Ende zu. In zwei Wochen werden wir kein Öl mehr haben. Wenn sich nichts ändert, wird unser medizinisches System in einem Monat völlig zusammenbrechen.
Was würde das bedeuten?
Haddad
Wir werden wir nicht mehr in der Lage sein, Leben zu retten. Menschen werden an kleinen Wunden oder Komplikationen sterben.
Gaza ist ein Friedhof für Kinder geworden
Zur Person
Ricardo Pires arbeitet als Pressesprecher für das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef). Diese Woche war er für zwei Tage in Gaza, um sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen.
Herr Pires, sie sind vor wenigen Stunden aus Gaza zurückgekehrt. Wie lange waren Sie dort?
Ricardo Pires
Ich war zwei Tage, von Montag bis Mittwoch, in Gaza und habe versucht, so viele Orte und Krankenhäuser wie möglich zu besuchen. Insbesondere für Kinder ist die Situation derzeit mehr als katastrophal. So schlimm war es in Gaza noch nie.
Was haben Sie gesehen?
Pires
Es ist heiß und feucht. Kinder sterben an Hunger. In vielen Zentren haben wir unterernährte Kinder gesehen. Dazu kommen die Angriffe. Ich habe Eltern getroffen, deren Kind bei einem Bombardement getötet wurde, während die Familie in der Schlange vor einer Klink für unterernährte Kinder stand. Ich habe schwer traumatisierte Kinder im Krankenhaus gesehen und Kinder, die an der Küste permanent toxische Dämpfen einatmen, weil sie Plastik und Autoreifen verbrennen. Ich habe einen Inkubator gesehen, den sich drei Frühchen teilen mussten. Man hat uns erzählt, dass die Mutter eines Babys durch einen Kopfschuss ums Leben kam. Ich habe mir immer wieder die Frage gestellt: Was für ein Leben wird dieses Kind einmal haben? Gaza ist ein Friedhof für Kinder geworden.
Konnten Sie sich einen Eindruck von den Märkten machen?
Pires
Ja, die humanitären Feuerpausen haben die Preise etwas gedrückt. Aber sie sind immer noch hoch, zumal für jemanden, der kein Einkommen hat. Und selbst wenn man Geld hat, ist da oft nichts, das man kaufen kann. Immer wieder landen Lebensmittel, die die Gaza Humanitarian Foundation (GHF) verteilt, auf den Schwarzmärkten. Die werden jetzt zu teuren Preisen angeboten und erreichen die Bedürftigen nicht mehr. Mit UN-Organisationen würde das nicht passieren. Wir haben jahrzehntelange Erfahrung mit Einsätzen in Krisengebieten und verteilen die Güter direkt an die Menschen.
In den vergangenen Monaten kamen Hunderte Menschen rund um die Verteilzentren ums Leben.
Pires
Erschöpfte Menschen sollten nicht kilometerweit gehen und ihr Leben riskieren müssen, um einen Sack Mehl zu ergattern. Die GHF hat eine Todesfalle für Zivilisten geschaffen. Die Stiftung hat gerade einmal vier Verteilzentren in Gaza. Zur Einordnung: Die UNO hatte 400.
Kann ihre Organisation, Unicef, noch Hilfsgüter verteilen?
Pires
Ja, aber es ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Die UN berichtet von durchschnittlich 100 Lastwagen, die pro Tag ankommen. Aber das ist zu wenig. Wir bräuchten 500 bis 600 davon.