„Kein Terrorist der Welt hat es jemals gewagt, mit einem Atomkraftwerk das zu tun, was Russland tut.“ Mit diesen Worten beschrieb der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kürzlich die hoch angespannte Situation im Atomkraftwerk Saporischschja im Süden der Ukraine.
Kein Terrorist der Welt hat es jemals gewagt, mit einem Atomkraftwerk das zu tun, was Russland tut.
Wolodymyr Selenskyj
ukrainischer Präsident
Was ist geschehen?
Saporischschja steht seit Kriegsbeginn im Fokus. Russische Truppen griffen das Kraftwerk in einer riskanten Operation im März 2022 in den Nachtstunden an und nahmen es ein. Die Welt hielt den Atem an. Die Angst vor einem Atomunfall war enorm.
Seither ist das Kernkraftwerk, das zur Zeit der Sowjetunion gebaut wurde, von russischen Kräften besetzt. Moskau hat zudem eine Werksleitung mit Mitarbeitern des Staatskonzerns Rosatom eingesetzt und erklärte das AKW im Oktober 2022 völkerrechtswidrig zu russischem Eigentum.
Nun hat sich die Lage im größten Atomkraftwerk Europas erneut dramatisch zugespitzt.
Seit dem 23. September ist die größte Nuklearanlage Europas von der äußeren Stromzufuhr, die für die Kühlung der Brennstäbe nötig ist, komplett abgeschnitten – eine noch nie da gewesene Situation. Das letzte von ursprünglich zehn externen Stromkabeln wurde beschädigt, während der Krieg in der Umgebung des Kraftwerks tobte.
In einer derart kritischen Lage springen in Atomkraftwerken innerhalb weniger Sekunden mit Diesel betriebene Notstromgeneratoren an. Dadurch soll die unentbehrliche, dauerhafte Kühlung der Brennstäbe und der Abklingbecken weiter gewährleistet werden.
So auch im Atomkomplex Saporischschja. Die Notstromgeneratoren, die nun seit über zwei Wochen im Hochbetrieb laufen, sind aber eben nur eine Notlösung und nicht für einen Dauerbetrieb konzipiert.
„Beispiellose Situation“
Es ist der mittlerweile zehnte Stromausfall im AKW Saporischschja seit Kriegsbeginn. Doch bisher konnte die externe Stromversorgung – anders als in der aktuellen Situation – immer recht rasch, meist innerhalb einiger Stunden, wiederhergestellt werden.
„Im Moment funktionieren die Notstromdieselaggregate ohne Probleme, und es gibt auch genügend Kraftstoffreserven“, sagte Rafael Grossi, der Chef der in Wien ansässigen Atomenergiebehörde IAEA, in einer Aussendung. „Dies ist jedoch eine beispiellose Situation, die ohne weitere Verzögerung gelöst werden muss. Es handelt sich um ein Problem der nuklearen Sicherheit, und es liegt im Interesse aller, es zu lösen.“
Es handelt sich um ein Problem der nuklearen Sicherheit, und es liegt im Interesse aller, es zu lösen.
Rafael Grossi
IAEA-Chef
Eine kontinuierliche externe Stromzufuhr ist in jedem Atomkraftwerk für die Kühlung der Brennstäbe und des verbrauchten Kernbrennstoffs in den Abklingbecken unerlässlich, da es sonst im schlimmsten Fall zu einer Kernschmelze kommen kann.
Grossis Warnung ist daher eindringlich: „Sollten die Notstromdieselaggregate jedoch aus irgendeinem Grund ausfallen und die Stromversorgung nicht zeitgerecht wiederhergestellt werden, könnte dies zu einem vollständigen Blackout und möglicherweise zu einem Unfall mit schmelzendem Brennstoff und einer möglichen Freisetzung von Strahlung in die Umwelt führen“, sagte er.
Wladimir Putin schüttelt einem Mann (Rafael Grossi) die Hand. Beide tragen Anzug und stehen in einem prunkvollen Raum.
IAEA-Chef Grossi besuchte im September Putin in Moskau.
Die sechs Reaktoren der Atomanlage in Saporischschja sind zwar anders als 2011 bei der Nuklearkatastrophe im japanischen Kraftwerk Fuku-shima längst heruntergefahren und produzieren selbst keinen Strom mehr. Dadurch ist das Risiko eines atomaren Unfalls zwar reduziert, sie müssen aber trotzdem weiterhin dauerhaft gekühlt werden.
Schaden im russisch besetzten Gebiet
Die aktuelle Situation unterscheidet sich von den bisherigen Stromausfällen in einem weiteren Punkt. Bislang waren die Schäden an den Stromleitungen immer im ukrainischen Gebiet. Nun wurde das letzte von ursprünglich insgesamt zehn externen Stromkabeln nach Gefechten in dem von Russland besetzten Gebiet beschädigt.
Grossi, der das besetzte AKW Saporischschja selbst mehrfach besuchte und durchsetzte, dass eine Handvoll IAEA-Inspektoren seit 2022 dauerhaft vor Ort anwesend sein können, vermittelt zwischen Russland und der Ukraine, damit es zu einer Feuerpause kommt und die externe Stromzufuhr wiederhergestellt werden kann.
Konkret arbeite Grossi daran, dass zwei Stromleitungen repariert werden, heißt es aus Diplomatenkreisen in Wien.
Denn bis vor einigen Monaten standen dem riesigen Kraftwerk noch zwei externe Stromleitungen zur Verfügung. Eine davon fiel jedoch Anfang Mai aufgrund von Schäden auf der ukrainischen Seite der Frontlinie aus. Am 23. September wurde dann die einzige verbleibende Leitung infolge eines Schadens im russisch besetzten Gebiet abgeschaltet.
Wann es zu einem Deal kommt, ist ungewiss. Grossi sagt, es sei eine „Frage des politischen Willens“, ob die Stromleitungen schließlich repariert werden.
Was plant Russland?
Mittlerweile mehren sich die Theorien, dass Russland die aktuelle Situation womöglich für sich nutzen könnte.
Bellona, eine in Norwegen ansässige gemeinnützige Umweltorganisation, vermutet in einem kürzlich veröffentlichten Bericht, dass Moskau „die Krise nutzen könnte“, um das Kernkraftwerk an das russische Netz beziehungsweise an jenes der russisch besetzten Gebiete anzuschließen. Russland könnte sich somit als „Retter“ darstellen, der eine „nukleare Katastrophe verhindert“.
Am 3. Juni dieses Jahres teilte Russland zudem selbst der IAEA in einer diplomatischen Note mit, dass es genau einen solchen Plan für den Fall eines kompletten Stromausfalls entwickelt habe.
„Für den Fall eines vollständigen Stromausfalls wurde ein Verfahren zur Spannungsübertragung auf den Eigenbedarf des ZNPP (englische Abkürzung für das AKW Saporischschja, Anm.) aus dem einheitlichen russischen Stromnetz … entwickelt“, ist darin zu lesen.
Die eigene Steuerung der Stromzufuhr festige die Kontrolle Moskaus über das riesige Kernkraftwerk und verschaffe Russland einen „zusätzlichen Hebel“, so Bellona. Diese verstärkte Kontrolle über das AKW ermögliche es Moskau auch, künftig zumindest einen Reaktor wieder hochzufahren, um damit womöglich besetzte Gebiete mit Strom zu versorgen, erläuterte Bellona. Ein Szenario, vor dem Experten eindringlich warnen.
Satellitenaufnahmen zeigen zudem laut einer von der Umwelt-NGO Greenpeace in Auftrag gegebenen Studie des auf Bild- und Datenanalysen spezialisierten Unternehmens McKenzie Intelligence Services keine Spuren von Kampfhandlungen in der Nähe der beschädigten Stromleitung. Moskau hatte ja behauptet, dass eine Reparatur der Stromleitung aufgrund des anhaltenden ukrainischen Beschusses nicht möglich wäre.
McKenzie Intelligence Services sagt, dass auf den Satellitenbildern keinerlei Krater zu sehen seien, wie sie normalerweise durch Artillerie-, Mörser- und Raketenbeschuss entstehen.
Die Frage, ob Russland die Stromversorgung absichtlich blockiert oder ob tatsächlich Kampfhandlungen eine Reparatur verhindern, bleibt vorerst unbeantwortet. Sicher ist nur: Mit jedem Tag, an dem die Dieselgeneratoren im Dauerbetrieb weiterlaufen, steigt das Risiko eines technischen Versagens – und damit die Gefahr einer nuklearen Katastrophe in Europa.