Stocker irrte im Sommergespräch: Mehrere Schuldsprüche im ÖVP-Umfeld
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„Skandalimage“ der ÖVP
Das ist leider der Opposition gelungen, uns umzuhängen, dieses Skandalimage. Wenn man es überprüft, hält es einem Faktencheck nicht stand. (...) Bis jetzt sind die Vorwürfe, die wir bekommen haben, die haben sich ja nicht bewahrheitet. Auch die Justizverfahren sind nicht mit Verurteilungen ausgegangen.
Falsch
Im ORF-Sommergespräch versuchte sich ÖVP-Bundeskanzler Christian Stocker selbst als Faktenchecker, doch der Rollenwechsel gelang ihm weniger. Bei den zahlreichen Verfahren gegen die ÖVP und ihre Spitzenfunktionäre der vergangenen Jahre sei „nichts“ herausgekommen, sagte Jurist Stocker wörtlich, als er zum in Umfragen erhobenen Skandalimage seiner Partei befragt wurde. Tatsächlich kam es in den vergangenen Jahren sehr wohl zu mehreren Verurteilungen im ÖVP-Umfeld, wie eine Auswertung von profil zeigt.
Über die Frage, ob Karl-Heinz Grasser der Volkspartei zuzurechnen ist, lässt sich diskutieren. Dafür spricht, dass Grasser ab 2003 (und damit im relevanten Zeitraum der Buwog-Affäre) auf einem ÖVP-Ticket den Job des Finanzministers ausübte. Dagegen spricht, dass er kein Parteimitglied war.
Aber selbst, wenn man Grassers Verurteilung ausklammert, hat Stocker Unrecht, denn es gibt zwei weitere rechtskräftige Urteile. Dazu kommt: In zwei Fällen akzeptierten eine frühere ÖVP-Funktionärin und ein Abgeordneter eine Diversion. Weitere Prozesse stehen an: Gegen Ex-Landesparteiobmann Karl Mahrer und den amtierenden Klubobmann August Wöginger wurde Anklage erhoben. In anderen heiklen Komplexen – darunter der Causa Umfrage beziehungsweise Inserate – laufen die Ermittlungen noch gegen mehrere Beschuldigte, etwa gegen Ex-Kanzler Sebastian Kurz und die Volkspartei als Verband.
Auf profil-Anfrage will eine Sprecherin Stockers die Aussage des Kanzlers im Sommergespräch so verstanden wissen: Er habe gemeint, dass die ÖVP als Partei in Strafverfahren nicht verurteilt wurde – was stimmt. Doch so einfach kann es sich der Kanzler nicht machen: In der Regel wird gegen Personen (im politischen Kontext meist aktive oder ehemalige Amtsträger) ermittelt, nur äußerst selten gegen Parteien. Stocker rühmt sich im Sommergespräch an einer Stelle mit mehreren „Freisprüchen“ und meint damit wohl Parteifunktionäre. Insofern kann er im Fall von Verurteilungen die Personen aus dem Parteiumfeld nicht ausnehmen.
Ein Überblick zu den türkisen Justizcausen
Verurteilt, rechtskräftig:
- Bernhard Bonelli
Der frühere Kabinettschef von Ex-Kanzler Sebastian Kurz wurde 2025 rechtskräftig verurteilt, weil er im U-Ausschuss falsch zur Rolle von Sebastian Kurz bei der Aufsichtsratsbesetzung bei der Öbag ausgesagt hat. - Sophie Karmasin
Die Ex-Familienministerin (offiziell parteifrei, Ministeramt auf ÖVP-Ticket) und Meinungsforscherin wurde 2024 rechtskräftig wegen unerlaubter Preisabsprachen bei der Erstellung von Studien zu zehn Monaten bedingter Haft verurteilt. Das Kartellgericht verhängte zudem eine Geldbuße von 50.000 Euro. - Karl-Heinz Grasser
Der Ex-Finanzminister (offiziell parteifrei, Ministeramt ab 2003 auf ÖVP-Ticket, davor bei der FPÖ) wurde 2025 rechtskräftig wegen Untreue und Geschenkannahme in der Causa Buwog zu einer Haftstrafe verurteilt, die er derzeit verbüßt.
Verurteilt, erstinstanzlich:
- Karl-Heinz Rüdisser
Der frühere Wirtschaftslandesrat Vorarlbergs habe laut dem Landesgericht Feldkirch einen ungebührlichen Vorteil angenommen, weil der ÖVP-Wirtschaftsbund die Weihnachtsfeiern finanzierte, die Rüdisser für seine Führungskräfte im Landhaus veranstaltete. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, Rüdisser meldete Berufung an.
Diversion:
Bei einer Diversion wird gegen Zahlung einer Geldbuße von einer weiteren strafrechtlichen Verfolgung abgesehen. Voraussetzung ist, dass Beschuldigte Verantwortung für ihr Handeln übernehmen.
- Bettina Glatz-Kremsner
Die frühere ÖVP-Vizeobfrau und Casinos Austria-Managerin erhielt nach einer Anklage wegen des Vorwurfs Falschaussage im U-Ausschuss vor Gericht eine Diversion. - Harald Himmer
Der Bundesrat der ÖVP war wegen Untreue im Zusammenhang mit seiner früheren Tätigkeit für das Telekommunikationsunternehmen Alcatel angeklagt.
Anklage:
- Karl Mahrer
Dem Ex-Obmann der ÖVP Wien und seiner Frau wird in der Causa Wienwert Beitrag zur Untreue vorgeworfen. Der Verdacht: Das von Mahrers Frau geführte PR-Unternehmen habe Geld vom Immobilienentwickler Wienwert erhalten, ohne entsprechende Gegenleistungen erbracht zu haben. Beide bestreiten die Vorwürfe. - August Wöginger
Der ÖVP-Klubobmann soll dafür interveniert haben, einen Parteifreund in eine Leitungsposition des Finanzamtes Braunau zu hieven. Er bestreitet die Vorwürfe.
Ermittlungen:
- In der Causa Inserate / Umfragen gegen:
- Sebastian Kurz
- Sophie Karmasin
- ÖVP als Verband
- Mitarbeiter aus BMF und Kanzleramt
- In der Steuercausa Siegfried Wolf
- Hans Jörg Schelling, Ex-Finanzminister
- Hans Jörg Schelling, Ex-Finanzminister
Freispruch, rechtskräftig:
- Sebastian Kurz (Falschaussage im U-Ausschuss)
Freispruch, erstinstanzlich:
- Wolfgang Brandstetter (Falschaussage im U-Ausschuss)
Ermittlungen eingestellt:
- Gernot Blümel, Ex-Finanzminister (Causa Casinos)
- Markus Wallner, Landeshauptmann (Vorarlberger Wirtschaftsbund-Affäre)
- Hartwig Löger, Ex-Finanzminister (Causa Casinos)
- Josef Pröll, Ex-Finanzminister (Causa Casinos)
- Wolfgang Sobotka, Ex-Innenminister und Ex-Nationalratspräsident (mehrere Verfahren, darunter eine angebliche Einflussnahme auf eine Betriebsprüfung bei der Dr. Erwin Pröll Privatstiftung)
- Kanzleramts-Mitarbeiter von Kurz in der Shredderaffäre
- Paul Rübig, Ex-EU-Abgeordneter (Silberstein)
- und weitere
Für alle Genannten, gegen die aktuell noch ermittelt wird oder Anklage erhoben wurde, gilt in vollem Umfang die Unschuldsvermutung. Alle haben sämtliche Vorwürfe immer bestritten.
Fazit
Anders als von Stocker behauptet, gab es rechtskräftige Urteile gegen Personen im Umfeld der ÖVP. Einige Verfahren laufen noch. Einen Punkt kann man Stocker zugestehen: In den vergangenen Jahren wurden zahlreiche Verfahren gegen ÖVP-Politiker eingestellt, auch Freisprüche gab es vereinzelt. Prominentestes Beispiel ist Ex-Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka. Gegen ihn liefen in Summe 21 Ermittlungsverfahren, die allesamt eingestellt wurden. Das ändert nichts daran, dass Stockers Behauptung falsch ist.
Asylantragszahlen
2025 haben wir um 100.000 Asylanträge weniger als 2022.
Irreführend
Im Mai 2025 wandte sich Christian Stocker gemeinsam mit weiteren europäischen Regierungschefs in einem Brief an die EU-Kommission. Das Ziel: eine Änderung der Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Straffällig gewordene Personen müssten leichter abgeschoben werden können – auch in Länder wie Afghanistan oder Syrien, in denen autokratische Regime an der Macht sind. Im ORF-Sommergespräch bekräftigte Stocker nicht nur diese restriktive Haltung, sondern verwies auch auf vermeintliche Erfolge in der Asylpolitik.
Österreich habe aufgrund von finanziellen und politischen Anstrengungen bereits viel erreicht, so der Bundeskanzler im Gespräch mit ORF-Moderator Klaus Webhofer. „2025 haben wir um 100.000 Asylanträge weniger als 2022“, erklärte Stocker. Doch wie kommt der Bundeskanzler auf diese Zahl?
Das Presseteam des Kanzlers liefert folgende Rechnung: Im Gesamtjahr 2022 wurden in Österreich 112.272 Asylanträge gestellt. Im Jahr 2025 seien es bisher (Jänner bis Juli; Anm.) 10.219 Anträge. Zieht man diese sieben Monate von der Jahressumme 2022 ab, ergibt das 102.053. Abgerundet kommt man auf die von Stocker erwähnten 100.000 Anträge. Diese Zahlen decken sich mit den Statistiken des Innenministeriums.
Das Problem: Hier wird ein Jahreswert (2022) einem Zwischenstand nach sieben Monaten (2025) gegenübergestellt – ein methodisch fragwürdiger Vergleich mit wenig Aussagekraft. In keiner anderen fortlaufenden Statistik werden Jahres- und Siebenmonatswerte direkt miteinander verglichen.
Fazit
Es ist evident, dass die Zahl der Asylanträge stark rückläufig ist. Christian Stockers Aussage, dass Österreich im Jahr 2025 um 100.000 Asylanträge weniger verzeichnet als 2022, ist dennoch irreführend. Das Jahr 2025 ist noch nicht abgeschlossen, und die gewählte Gegenüberstellung widerspricht der gängigen statistischen Praxis. Würde Stocker jeweils die erste Jahreshälfte von 2022 und 2025 gegenüberstellen, ergäbe sich immer noch ein starker Rückgang – nur ohne die PR-technisch eingängige Zahl 100.000.
Förderungen für Photovoltaikanlagen
Wir haben beispielsweise gesehen bei den PV-Anlagen, die waren gefördert teurer als jetzt ohne Förderung.
Größtenteils richtig
Die Regierung möchte Österreichs Förderdschungel durchforsten, in der Hoffnung, Milliardenbeträge einzusparen. Das Geld will die Regierung zum Teil für Offensivmaßnahmen – etwa zur Ankurbelung der Wirtschaft – verwenden. Auf die Frage, woher diese Mittel kommen sollen, kam Bundeskanzler Stocker auf die Förderungen für Photovoltaikanlagen zu sprechen: „Wir haben beispielsweise gesehen bei den PV-Anlagen, die waren gefördert teurer als jetzt ohne Förderung“, so der ÖVP-Chef im Sommergespräch.
Vorweg: Obwohl die Dreierkoalition zahlreiche Klimaförderungen zusammengestrichen hat, werden Photovoltaikanlagen weiterhin gefördert. Seit April 2025 können Privatpersonen, Unternehmen und Landwirte Förderanträge für die Errichtung einer Photovoltaikanlage und eines dazugehörigen Stromspeichers einreichen. Vom Bund gefördert werden Anlagen – je nach Größe – mit bis zu 160 Euro pro Kilowatt-Peak (kWp). kWp steht für „Kilowatt-Peak“ und bezeichnet die Spitzenleistung einer PV-Anlage unter standardisierten Testbedingungen. Diese Größe dient als Vergleichswert, um Anlagen unabhängig von Standort oder Wetter miteinander zu bewerten.
Auf die Nachfrage, worauf sich der Bundeskanzler mit seiner Aussage konkret bezog, ging Stockers Presseteam nicht ein. Die Wortwahl des ÖVP-Chefs reiht sich jedoch in Argumentationen weiterer ÖVP-Regierungsmitglieder ein.
Denn die türkis-grüne Vorgängerregierung beschloss mit Jahresbeginn 2024, die Umsatzsteuer beim Kauf von PV-Anlagen auszusetzen. Eine Maßnahme, die Stockers Regierung wieder rückgängig machte. Wirtschaftsminister Wolfgang Hattmannsdorfer (ÖVP) argumentierte im Mai dieses Jahres, dass die Preise für PV-Module in den vergangenen Jahren um etwa ein Drittel gesunken seien und die Umsatzsteuerbefreiung daher nicht mehr notwendig sei.
Nachgefragt beim Branchenverband PV Austria: Geschäftsführerin Vera Immitzer übermittelte eine Aufstellung der Kosten einer PV-Anlage mit 10 kWp – das entspricht in etwa der Größe einer typischen Anlage auf dem Dach eines Einfamilienhauses. Sie zeigt: Während eine Anlage dieser Größe (inklusive Mehrwertsteuer; Anm.) im Jahr 2011 noch 3033,66 Euro pro kWp kostete, sind es im Jahr 2025 nur noch 1452 Euro pro kWp. In den vergangenen fast 15 Jahren haben sich die Kosten für PV-Anlagen also mehr als halbiert. „Mit fortschreitender Skalierung und Marktdurchdringung – sicher auch wegen der Förderungen (nicht primär in Österreich) – sind Komponentenpreise gesunken, besonders was Module, aber auch Wechselrichter betrifft“, sagt Christoph Dolna-Gruber von der Österreichischen Energieagentur zu profil.
Ausgeklammert bleibt in den Aussagen der ÖVP-Regierungsvertreter jedoch, dass diese Anlagen auch jemand montieren muss. Denn während die Preise für die Module gesunken sind, „sind in Österreich Montagekosten und Preise für Unterkonstruktionen, insbesondere im Zusammenhang mit der hohen Inflation der letzten Jahre, gestiegen“, erklärt der Experte.
Fazit
Christian Stocker hinterfragte im ORF-Sommergespräch, ob es weiterhin Förderungen für PV-Anlagen braucht, da diese mittlerweile ohne Förderung günstiger seien als vor einigen Jahren mit Förderung. Die Aussage ist größtenteils richtig, weil sich die Kosten für PV-Anlagen seit 2011 mehr als halbiert haben. Allerdings blendet sie aus, dass die Montage- und Nebenkosten im selben Zeitraum (teils massiv) gestiegen sind.