Reportage

In der Glockengießerei: Aus einem Guss

In der Glockengießerei Grassmayr, Österreichs ältestem Familienbetrieb, hat sich der Kern des Handwerks seit Hunderten von Jahren nicht verändert. Vieles andere dafür schon. Auf eine Sache will man aber nie verzichten: den Beistand von ganz oben.

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Glockengießen ist wie Kuchenbacken. Zumindest wenn man Johannes Grassmayr glauben will. Es gibt einen Teig, nur dass dieser ein circa 1100 Grad heißes Gemisch aus Kupfer und Zinn ist. Es gibt eine Form, nur dass diese aus Lehm und Steinen besteht und manchmal größer ist als die Menschen, die mit ihr arbeiten. Und dann gibt es natürlich noch die „Bäcker“: Traditionalisten, die das uralte Handwerk des Glockengusses noch beherrschen. Eben wie die Grassmayrs aus Innsbruck, die ihren Betrieb mittlerweile in 14. Generation führen.

Würde man die Glockengießerei Grassmayr als Traditionsbetrieb bezeichnen, wäre das eine Untertreibung. Die Geschichte des Unternehmens geht auf das Jahr 1599 zurück. Als Friedrich Schiller sein berühmtes „Lied von der Glocke“ schrieb („Fest gemauert in der Erden / Steht die Form aus Lehm gebrannt“), waren die Grassmayrs schon 200 Jahre im Geschäft. Heute werden die Glockengießerei und das dazugehörige Museum von den Brüdern Johannes und Peter geführt. Es ist der wahrscheinlich älteste Familienbetrieb des Landes. Die Glocken der Grassmayrs hängen auf allen Kontinenten mit Ausnahme der Antarktis. Dass sie heute noch immer erfolgreich sind, hat auch damit zu tun, dass ihr Verständnis von Tradition den Wandel beinhaltet.

Johannes Grassmayr, 59 Jahre alt, mit tiefem Tiroler Akzent, führt Gäste gern als Erstes durch das Museum. Vorbei an fast 1000 Jahre alten Glocken und Bildern, die erklären, wie sich der Klang einer Glocke bildet. Der Ort atmet Geschichte, noch weit älter als die Glockenwerkstatt: Zur Römerzeit stand hier, wo die Sill aus Richtung des Brenners aufs Innsbrucker Stadtgebiet fließt, das Forum, das die Welten dies- und jenseits der Alpen verband.

Was man über die Grassmayrs und ihr Berufsverständnis wissen muss: Sie wollen die Glocke nicht nur als Klangkörper, sondern als Instrument verstanden wissen. „Wir sehen uns als Musikinstrumentebauer“, sagt Johannes Grassmayr. Jeder Teil einer Glocke produziert einen anderen Ton, das hängt von der Wandstärke und dem Umfang ab. Ganz oben, wo sich die Glocke verjüngt, wird die Prime produziert; am unteren Ende die Oberoktav. Zusammen bilden all diese Töne den „Glockenton“ – also das, was Menschen am Ende hören. Ist die Glocke einmal gegossen, kann man sie nachträglich noch „stimmen“, indem an den entsprechenden Stellen ein wenig Material abschleift. Bei den Grassmayrs werden die Teiltöne mittels elek-tronischer Messung auf Cent (1/100 eines Halbtons) genau abgestimmt.

Die Stradivari unter den Glocken

Der Fokus auf die musikalischen Qualitäten der Produkte hat auch etwas mit der Konkurrenzsituation zu tun. Die Grassmayrs haben ein Problem, das in den vergangenen knapp 25 Jahren in vielen Branchen aufgetaucht ist. Glocken lassen sich heute in Polen, Rumänien oder Serbien sehr viel günstiger herstellen als in Innsbruck. „Günstiger als unsere Konkurrenz werden wir nie sein. Da können wir gleich versuchen, die Beste aller Glocken zu bauen“, sagt Grassmayr.

Sie seien von der Sehnsucht nach der „Stradivari unter den Glocken“ getrieben. Ein schönes Wording für eine betriebswirtschaftlich simple Strategie: sein Heil in der Qualitätsnische suchen, weil die anderen Nischen schon besetzt sind.

Das Glockengeschäft ist kein einfacher Markt. Es gehen weniger Menschen in die Kirche, gleichzeitig geht es bei Glocken um ein langlebiges Produkt. Die Pandemie hat viele Glockengießer ihr Geschäft aufgeben lassen. Vor allem die Gießereien, die das nebenher gemacht haben, sind ausgestiegen. Wenn man irgendwann nur mehr vier oder fünf Glocken im Jahr gießt, geht irgendwann das Know-how verloren. „Wir gehen davon aus, dass von den aktuell knapp 40 Glockengießereien in Europa nur vier übrig bleiben werden“, sagt Grassmayr. Vor allem die seltenen Spezialisten, wie eben die Grassmayrs selber.

In Österreich schrumpft der Markt für Glocken seit den 1960er-Jahren. Die Kirchentürme sind, einfach gesagt, voll. Die Grassmayrs haben ihre Produktpalette deshalb früh diversifiziert. Die religiösen Glocken der Grassmayrs gehen heute zunehmend in den Export und auch an eine Breite an Religionsgemeinschaften. In den vergangenen fünf Jahren haben acht verschiedene christliche Konfessionen bei den Grassmayrs bestellt, aber auch Hinduisten und Buddhisten. Wer will, könnte eine Weltreise zu den Grassmayr-Glocken machen: Die 25 Tonnen schwere Glocke in der Kathedrale des Erlösers des Volkes in Bukarest wurde in Innsbruck gegossen. Grassmayrs Lieblingsglocke hängt im Katharinenkloster am Gipfel des Bergs Sinai, wo Moses seine Zehn Gebote empfangen haben soll. „Die läutet für alle“, sagt Grassmayr. „Für jeden Menschen, unabhängig von Nationalität und Religion.“ Aber auch sonst ist die Palette breiter geworden. Seit 150 Jahren stellen die Grassmayrs auch Klangschalen her, berühmte Orchester bestellen die Glocken bei ihnen. Für eine Kunstinstallation in Prag goss man eine Zehn-Tonnen-Glocke. 50 Prozent der Glocken gehen heute in Profangebäude, zuletzt produzierte man ein Glockenspiel für das Gewandhaus in Leipzig und eines für das Rathaus in St. Pölten.

Traditionalisten, aber keine Hinterwäldler

Glockenguss ist noch immer ein Handwerk im buchstäblichen Sinn. Viele Arbeitsschritte der knapp 20 Mitarbeiter werden so seit Hunderten von Jahren ausführt. Die moderne Werkshalle der Grassmayrs kam erst im Jahr 2000 dazu, davor arbeitete man in einer uralten Werkstatt, die heute Teil des Museums ist.

Die Grassmayrs sind Traditionalisten, aber keine Hinterwäldler. „Wir haben viel verändert, sonst gäbe es uns heute nicht mehr“, sagt Grassmayr. Man hat viel in die Forschung investiert, bei der Planung der Glocken kommen Computermodelle zum Einsatz. Am Tag, als die Rechnungslegung per E-Mail rechtlich möglich ist, stellt der Betrieb sofort darauf um. Vor knapp 15 Jahren gab es sogar so was wie eine Revolution im Hause Grassmayr: Bis dahin wurde das Gemisch über 400 Jahre lang von oben in die Form gegossen, seither von unten in die Form gepumpt, weil das Gießfehler minimiert. „Bei uns gilt der alte Spruch: Tradition ist die Weitergabe der Flamme, nicht die Anbetung der Asche“, sagt Grassmayr. Es ist eine beeindruckende Tradition: Durch die Gussbücher weiß man, dass die Familie Grassmayr in ihrer Geschichte über 6000 Glocken gegossen hat.

Eine durchschnittliche Kirchenglocke kostet um die 5000 Euro. Wer eine solche bei den Grassmayrs bestellt, muss mit drei bis vier Monaten Lieferzeit rechnen. Bei besonders großen Stücken verlängert sich das auf ein halbes Jahr. Prinzipiell besteht so ein Prozess heute aus sechs Arbeitsschritten, vom Planen der Glocke mit dem Simulationsprogramm über den Guss selbst bis zur Nachbearbeitung.

Am Formprozess der Glocke hat sich Jahrtausende wenig geändert. Anders als bei einem Kuchen muss die Form für jede Glocke separat in einem mehrstufigen Prozess neu gebaut werden. Es beginnt mit dem sogenannten Glockenkern. Das ist der untere Teil der Form, auf den das Innere der Glocke modelliert wird. Der Kern ist gemauert und hohl, ein Kohlenfeuer im Inneren dient zur Trocknung. Das Mauerwerk wird mit Lehm eingepackt, der mithilfe einer gigantischen Schablone (in Originalgröße der Glocke) in die richtige Form gebracht wird. Wenn der Kern getrocknet ist, wird darauf die sogenannte „falsche Glocke“ modelliert: eine weitere Schicht aus Lehm, die haargenau dieselbe Wandstärke hat wie die fertige Glocke. Am Schluss folgt die Glockenwand: Die äußere Lehmform wird auf die falsche Glocke modelliert. Hebt man diese äußere Wand und schlägt die falsche Glocke vorsichtig ab, dann hat der Hohlraum zwischen Kern und Wand exakt die Proportionen der gewünschten Glocke – zumindest, wenn alles funktioniert. Auch die Verzierungen, die mit Wachs auf die falsche Glocke modelliert werden, bilden sich als Negativ auf der Glockenwand ab.

Bei den Grassmayrs gibt es „Gusstage“, an denen mehrere Glocken gesammelt gegossen werden. Das ist noch immer ein Spektakel. „An solchen Tagen haben wir bis zu 200 Leute hier“, sagt Grassmayr. Vater Christof, 85 Jahre alt, der nach wie vor mindestens ein Mal die Woche in der Werkstatt vorbeischaut, führt noch immer durch diese Veranstaltungen. Vor dem Guss wird der Boden der Werkshalle geöffnet und die Form im Boden eingegraben. Dann beginnt der wirklich heikle Teil: Das 1100 Grad heiße Bronze-Gemisch (prinzipiell kann man Glocken aus Aluminium, Eisen, Zinn und Bronze gießen, aber nur Letztere garantiert den „richtigen“ Klang) wird in die Form gegeben. Das dauert, selbst bei gigantischen Glocken, weniger als zehn Minuten. Glockenguss ist eine schweißtreibende Aktivität, keine exakte Wissenschaft. Es geht selten etwas schief, aber es ist immer im Bereich des Möglichen. Im Garten des Museums hängt eine fünf Meter große Klangröhre, eine Anfertigung für die dänische Stadt Aarhus. „Da hat etwas beim Guss nicht so funktioniert, wie wir uns das vorgestellt hatten“, sagt Grassmayr. Die Röhre musste ein zweites Mal gegossen werden, der erste Versuch hängt heute im Garten in Innsbruck.

Freitag ist Glockengießtag

In der Glockengießer-Branche spielen christliche Traditionen noch immer eine Rolle. Kein Wunder bei einem Handwerk, dessen Einnahmen früher zu 100 Prozent von der katholischen und evangelischen Kirche kamen. Traditionell werden Glocken an einem Freitag gegen 15 Uhr gegossen, was an die Todeszeit Jesu Christi erinnern soll. Bei den Grassmayrs sind beim Guss oft Geistliche verschiedener Konfessionen anwesend, am Ende betet man gemeinsam das Vaterunser. Beim Glockengießen geht es, zumindest wenn man der Tradition glaubt, auch um die himmlische Unterstützung. „Soll das Werk den Meister loben, / Doch der Segen kommt von oben“, heißt es bei Schiller. In Kirchen ist die Glocke neben dem Altar eines der wenigen Ausstattungsstücke, das eigenständig geweiht wird. Berühmten Glocken werden Eigenschaften und Persönlichkeit zugestanden. In den Inschriften spricht oft die Glocke selbst: „Ich rufe die Lebenden, beklage die Toten, breche die Blitze“, lautet eine häufige Gravur.

In der langen Geschichte des Glockengusses spiegelt sich auch die Weltgeschichte: Im Dreißigjährigen Krieg wurden große Teile Europas sehr gut im Gießen von Kanonen, verlernten aber, wie man Glocken herstellt. Im Dritten Reich ließ Propagandaminister Joseph Goebbels den Glockenguss untersagen. Der Verbotsbrief an die Grassmayrs, datiert auf den 3. Juli 1939, hängt heute im Museum. In dessen Garten steht eine Reihe von historischen Glocken, Zeugnisse des geschichtsträchtigen Handwerks. Auf einem Modell, das 1454 in Judenburg gegossen wurde, sind Einhorn und Löwe – Symbole für Reinheit und Mut – abgebildet; auf einer italienischen Glocke aus dem aus dem Jahr 7 (eigentlich 1929, für Diktator Mussolini begann mit seinem „Marsch auf Rom“ im Jahr 1922 eine neue Zeitrechnung) prangt ein „Faschistenbündel“, ein Bündel aus Ruten und eine Axt.

Solche alten Glocken landen bei den Grassmayrs entweder im Museum oder – falls sie noch genutzt werden sollen – in der „Glockenklinik“. Der Bereich „Restaurierung“ ist ein relativ neuer Geschäftsbereich, den die Familie gerade aufbaut. Auf Paletten im Innenhof stehen alte Glocken aus ganz Europa, schwer mit Patina überzogen, und warten darauf, versorgt zu werden. „Wir finden bei der Reinigung oft noch Risse und Schäden, die den Besitzern gar nicht bekannt waren“, sagt Grassmayr. „Da musste ich schon die eine oder andere schlechte Nachricht per Telefon überbringen.“ 2022 wurden bei den Grassmayrs Glocken aus zehn Ländern restauriert, die älteste war knapp 900 Jahre alt.

Die Nachfolge in der Glockengießerei der Grassmayrs ist schon geregelt, zumindest im Groben. Von den zehn Enkeln interessieren sich zwei ernsthaft für das Geschäft und machen gerade einschlägige Ausbildungen. Die Chance, dass es an dem Standort in Innsbruck auch eine 15. Generation geben wird, ist also groß. Vielleicht wird auch diese zu Gott beten, aber sicher nicht zur Asche.