Meine Familie war nie besonders fromm, unser Essen war nicht immer koscher und wir haben auch am Schabbat manchmal den Fernseher aufgedreht, was man ja eigentlich nicht darf. Ab und zu gehe ich samstags in der Früh in die Synagoge und als nicht besonders religiöser Mensch schaue ich auch am Schabbat auf mein Handy. So auch am 7. Oktober 2023. Viele Orthodoxe haben erst am Abend erfahren, was in den Morgenstunden passiert ist.
Eine entfernte Verwandte von mir wurde am 7. Oktober getötet. Als die Hamas einfiel, patrouillierte sie als Soldatin an der Grenze zu Gaza. Sie war erst 18 Jahre alt. Ich weine selten, aber da habe ich geweint und selbst jetzt, wenn ich darüber rede, kommen mir die Tränen. Ich war erschüttert, wie viele Menschen, vor allem auch online, die Taten der Hamas als Befreiungsschlag verherrlicht haben. Einige meiner Kontakte habe ich seither abgebrochen.
Was in den vergangenen zwei Jahren in Gaza passiert ist, ist schlimm, aber es als Genozid zu bezeichnen ist ein schwerer und meist absolut unreflektierter Vorwurf. Und abgesehen davon kenne ich keinen Juden, der einen Genozid möchte. Warum sollten wir das wollen? Wir als Juden haben ihn selbst erlebt.
Den israelischen Präsidenten Benjamin Netanyahu habe ich stets als israelischen Patrioten wahrgenommen, aber ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Zwei Jahre lang hat er es nicht geschafft, alle Geiseln herauszuholen. Es bricht mir das Herz, wenn ich Videos von ausgehungerten Geiseln sehe, die ausschauen, als wären sie im KZ. Einen dermaßen dürren Palästinenser in Gaza habe ich im Übrigen noch nicht gesehen – so viel zum Thema Hungersnot in Gaza.
Grundsätzlich trage ich nie einen Davidstern, weil ich Schmuck nicht besonders mag, aber nach dem 7. Oktober dachte ich mir, ich werde ihn tragen. In den ersten Tagen habe ich auch mit dem Gedanken gespielt, die Kippa aufzusetzen, was ich sonst nie mache, ließ es dann aber. Wir müssen vorsichtig sein und genau überlegen, wo wir uns zu erkennen geben. Ich selbst habe gesehen, wie zwei Burschen ein jüdisches Geschäft auf der Taborstraße bespuckt haben. Ein paar andere und ich sind dazwischengegangen. Doch der Holocaust hat auch auf die gleiche Weise begonnen. Wir haben in unserem Freundeskreis darüber nachgedacht, was wir tun sollen und uns gedacht: Vielleicht ist die Zeit gekommen, unsere Zelte abzubrechen und woanders hinzugehen. Viele in meinem Freundes- und Bekanntenkreis reden darüber. Wohin, wissen wir nicht.
In der Woche nach dem 7. Oktober 2023 wurde die globale Intifada ausgerufen. Das heißt, jüdisches Leben war weltweit plötzlich noch bedrohter, als ohnehin davor. Das hatte auch Auswirkungen auf uns Jüdinnen und Juden in Wien. Auch wir haben danach angefangen, uns im öffentlichen Raum anders zu bewegen. Wir sind vorsichtiger geworden. Es hat mich an die Coronazeit erinnert, wo viele Neonazis auf Demos gegangen sind, in der die Pandemie zuweilen als eine jüdische Verschwörung dargestellt wurde. Die Kleidung unserer jüdischen Jugendorganisation trugen wir damals auf der Straße nicht sichtbar, sondern nur in geschlossenen Räumen. Mittlerweile sind die meisten meiner Freunde jüdisch; weil es einfacher ist; weil man sich nicht erklären muss.
Auch in meinem Umfeld redet man darüber, vielleicht von hier wegzugehen, wenn auch nur theoretisch und wenn auch unklar ist, wohin. Jüdisches Leben ist immer mit Migration verbunden gewesen; zu gehen ist vielleicht gar nicht so ein großer Schritt. Dennoch bin ich der Meinung, dass ich, wenn ich fortgehe, den Menschen, die mich weghaben wollen, das gebe, was sie wollen. Und das werde ich nicht tun. Meinen goldenen Chamsa-Anhänger trage ich offen. Ich will mich nicht verstecken. Und ich will in meiner politischen Vertretungsarbeit für die JöH gegen diese schreckliche Situation ankämpfen.
Kritik an Israel ist sehr wichtig und ich übe sie auch. Ich war schon lange vor dem Krieg gegen Benjamin Netanyahu, wir haben auch in Wien gegen ihn demonstriert. Aber ich habe keine Lust, Fragen zu beantworten und mich zu erklären. Ich bin nicht die Vertreterin Israels. Genauso werde ich und andere Jüdinnen und Juden aber oftmals gesehen.
Das, was in Gaza passiert, nenne ich nicht Genozid. Ich sage, das ist „das Leiden in Gaza“, es ist schrecklich und muss aufhören. Aber Genozid würde bedeuten, das Leid der Zivilisten im Gazakrieg und die Kriegsverbrechen, die übrigens beide Seiten begangen haben, auf eine Ebene mit der Shoah, also dem Holocaust zu stellen. Darin liegt eine problematische, politische Agenda, dabei ist „Genozid“ jedoch kein politischer, sondern ein rechtlicher Begriff und muss von den beiden internationalen Strafgerichtshöfen geklärt werden, nicht von NGOs oder den United Nations. Ich finde es gut, dass Österreich sich seiner historischen Verantwortung bewusst ist und an der Seite Israels steht. Dennoch: Vielfach werden Juden regelrecht benutzt, um gegen Muslime Stimmung zu machen und das ist inakzeptabel.
Der 7. Oktober hat sehr viel in meiner politischen Positionierung verändert, aber seitdem ist es für mich gleich: Ich bin entsetzt von der Gewalt der Hamas und von der gewalttätigen Antwort der israelischen Regierung in Gaza. Dieser Tag war eine Zäsur für mich: Ich sehe mich als Linke, war aber entsetzt von den Reaktionen vieler Linker, die diese Gewalt als legitimes Mittel gesehen haben, die gar die Gewalt romantisiert haben. Viele haben das für Antisemitismus gehalten, aber ich sehe darin eher ein Problem von Gewaltabgrenzung, das die Linke teilweise hat. Heute geht das einher mit einem vulgären Verständnis von postkolonialer Theorie, wo die Hamas als Widerstandsorganisation dargestellt wird. Ich arbeite selbst viel mit postkolonialer Theorie, aber da kann ich nicht mit. Gleichzeitig kann ich nicht mit der bedingungslose Unterstützung meiner Gemeinde für einen Krieg, den ich und viele andere mittlerweile als Völkermord bezeichnen.
In Österreich gibt es vielfach die Angst, bei Themen, die mit Jüdinnen und Juden zu tun haben, etwas falsch zu machen. Ich sehe das auch in der medialen Berichterstattung, wo vielfach auf passive Formulierungen zurückgegriffen wird: da ist dann die Rede von einer Hungerkatastrophe und nicht davon, dass diese das Resultat eines systematischen Aushungerns ist. Viele halten sich bedeckt, weil sie Angst haben, des Antisemitismus bezichtigt zu werden. Ich kann schon länger beobachten, dass der Antisemitismus-Vorwurf immer wieder instrumentalisiert wird, um Kritik an Israel zu disqualifizieren oder Debatten umzulenken. Ich denke, es ist wichtig, diesen Begriff zu konkretisieren, ich halte mich da an die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus aus dem Jahr 2021, die versucht, Kritik an Israel und Judenhass auseinanderzuhalten.
Ich vertrete Positionen, die vielen in der jüdischen Gemeinde in Wien nicht gefallen. Mit meinem Aktivismus gegen die israelische Besatzung habe ich mich schon lange vor dem 7. Oktober vielfach unbeliebt gemacht. Angesichts der Geschichte und der Größe der jüdischen Gemeinde in Wien kann ich verstehen, dass sie auf Einheit pocht. Aber in der jüdischen Tradition gab es – egal zu welchen Fragen – immer viele verschiedene Positionen und die gibt es nun mal auch in der Palästina-Frage. Trotzdem wird mir zuweilen vorgeworfen, antisemitisch zu sein, oder ein Feigenblatt für Menschen, die gegen Israel sind.
Ich selbst war als 18-Jährige zum ersten Mal im besetzten Westjordanland und habe gesehen, wie die Dinge vor Ort sind. Seither kann ich von mir selbst behaupten, dass ich keine Zionistin bin, ich bezeichne mich aber auch nicht als Anti-Zionistin.
Egal, was in Israel passiert, es hat immer auch Auswirkungen auf uns in Europa. Vor allem Orthodoxe, die als Juden erkennbar sind, erzählen mir, dass sie in den vergangenen zwei Jahren mit mehr Angst und Unruhe auf den Straßen von Wien unterwegs sind. Freundinnen und Bekannte reden immer häufiger über die Frage: Müssen wir unsere Koffer packen? Wo kann man sich noch sicher fühlen? In Israel? Das Unvorstellbare ist eingetreten. Den Mythos des unbesiegbaren israelischen Militärs hat der 7. Oktober 2023 gebrochen.
Seither schlafe ich schlechter. Ich hatte davor schon einen sehr hohen Nachrichtenkonsum. Jetzt ist er noch höher. Ich habe ein mulmigeres Gefühl, wenn ich zu Veranstaltungen der jüdischen Gemeinde gehe. Zum Beispiel vergangenen Sonntag, als der Geiseln gedacht wurde. Das ist keine Solidarität mit der israelischen Regierung oder mit der Kriegsführung, sondern mit den Opfern. Und nach drei Minuten hören wir „Free Palestine“-Rufe. Und das tut mir immer weh.
Ich bin gegen Benjamin Netanyahu. Und ich habe das Gefühl, ich muss mich immer wieder erklären. Als Jude werde ich oft gefragt: „Hast du gesehen, was jetzt in Gaza geschieht?“ Oder: „Hast du mitbekommen, was sie heute wieder zerbombt haben?“ In der Regel versuche ich, ruhig und sachlich zu erklären, dass ich es furchtbar finde, was in Gaza passiert. Ich bin gegen Benjamin Netanyahu. Ich bin es auch leid, das bekunden zu müssen, aber es wird von einem – bewusst oder unbewusst – erwartet, dass man sich positioniert.
Österreichs Regierung steht zu Israel und das ist gut. Aber ich glaube, da herrscht Angst, die Dinge klarer beim Namen zu nennen. Die Kritik an den Kriegshandlungen könnte stärker ausfallen. Ich denke, dass in der Bevölkerung die Solidarität mit Gaza sehr stark ist – was gut und wichtig ist. Das Hauptproblem sehe ich darin, dass viele denken, dass sie sich für eine Seite entscheiden müssten. Ich halte das für falsch und glaube, dass man das Leid auf beiden Seiten sehen kann.
Parallel dazu beobachte ich bei mir selbst eine interessante Ambivalenz: Ich selbst kritisiere Israel und dennoch stört es mich, wenn sie formuliert wird. Ich will nicht falsch verstanden werden: Ich bin gegen alles, was die Regierung Netanyahu in Gaza tut – doch Israel-Kritik trifft mich dennoch. Ich finde das persönlich ein interessantes Spannungsfeld, das ich selbst noch nicht ganz durchschaut habe.
Ich bin sehr abgeneigt, im Zusammenhang mit Gaza den Begriff Genozid zu verwenden. Ich denke, er wird populistisch und propagandistisch verwendet, vielfach auch von Menschen, die sich wenig damit beschäftigen. Ich nenne das, was in Gaza passiert Völkermord – und auch das ist interessant: Es ist das deutsche Wort, ein Synonym für Genozid. Dennoch, es gibt eine Sperre in mir, Genozid zu sagen.