Ulrich Raulff auf einem Schwarz Weiß Foto im Potrait während er ein Eis ist
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Historiker Raulff: „Den guten Geschmack überlasse ich großzügig den Tanten“

Der deutsche Kulturwissenschafter und Autor Ulrich Raulff hat ein brillantes Buch zum rätselhaften Phänomen des Geschmacks geschrieben. Ein Gespräch über „Gegenschönheiten“ und ästhetische Grenzüberschreitungen.

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Jedes neue Buch von Ulrich Raulff, 75, ist ein Ereignis – siehe „Kreis ohne Meister“ (2009) über den deutschen Dichterfürsten Stefan George und den Band „Das letzte Jahrhundert der Pferde“ (2015). Nun hat sich der deutsche Kulturwissenschafter das Phänomen des Geschmacks im fulminanten Großessay „Wie es euch gefällt“ vorgenommen: Jede und jeder weiß, dass es ihn gibt. Jede und jeder meint, ihn zu besitzen. Dabei hat ihn nie jemand gesehen: den Geschmack. Raulff nähert sich in „Wie es euch gefällt“, einem Buch mit Handschmeichler-Qualitäten, dem großen Unbekannten in kreiselnden Bewegungen, in der ihm eigenen Mischung aus stupender Belesenheit, essayistischer Kühnheit, assoziativen Sprüngen im Denken, untermischt mit luftiger Selbstironie. Die Spur, die der ehemalige Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach dabei verfolgt, führt nach Rom und ins Paris des 18. Jahrhunderts, ins viktorianische England bis zu tastemakern wie Madame Pompadour und Steve Jobs. Ein Füllhorn an Geschichte und Geschichten, literarischen und filmischen Hinweisen, praktischen und theoretischen Verschränkungen.

 

Herr Raulff, folgen Sie Ihrem Geschmack – oder verfolgt er Sie?

Ulrich Raulff

Soweit ich weiß, werde ich von meinem Geschmack nicht sonderlich behelligt. Ich weiß allerdings nicht, ob er sich von mir verfolgt fühlt. Wir leben jedenfalls in vergleichsweise dichtem Austausch.

Vom Aufstehen bis zum Niederlegen – der Geschmack kennt keine Verschnaufpause?

Raulff

Er ist ein ständiger Begleiter, der mal mehr, mal weniger zu sagen hat. Wenn ich schreibe oder lese, ist er ein bisschen leiser, weil er gut erzogen ist. Kaum gehe ich aber raus auf die Straße, wirft er mit Verve das Gebläse an.

Für „Wie es euch gefällt“ hefteten Sie sich jahrelang auf die Spur des Geschmacks. Ist er für Sie Arbeit oder Spiel?

Raulff

Er ist etwas dazwischen. Ich empfinde ihn als lustvoll empfundene Suchbewegung, die spielerische Momente zeugt, aber auch immer etwas mit Arbeit, Aufmerksamkeit und zuweilen quälerischer Intensität zu tun hat. Mir ging es beim Schreiben weniger darum, zu bestimmen, was guter oder schlechter Geschmack sei. Das überlasse ich gern anderen. Viel mehr als am Normativen bin ich an der Natur dieser eigentümlichen Instanz in uns interessiert.

Sind Sie dem Mysterium des Geschmacks näher gekommen?

Raulff

Ja, aber er hat etwas Rätselhaftes behalten. Nach all den Probebohrungen, Annäherungen, die ich unternommen habe, hat er sein Geheimnis nicht wirklich preisgegeben. Im Sinne der berühmten Ödipus-Frage habe ich das Rätsel des Geschmacks also nicht gelöst, sondern ausgefaltet. Man sieht nun seine Facetten besser. Eine clear-cut solution habe ich nicht anzubieten.

Entgegen der landläufigen Meinung, notieren Sie, lasse sich über Geschmack sehr wohl streiten. Weshalb wurde gerade der Geschmack zum „Streithammel der Ideengeschichte“?

Raulff

Der Satz „De gustibus non est disputandum“ war für jeden anständigen Philosophen und Erkenntnistheoretiker die schiere Herausforderung, allen Vorgängern zu widersprechen und eigene Theorien des Geschmacks zu entwerfen. Arthur Schopenhauer hat den Kollegen Kant genüsslich beleidigt: Allein dieses Wort „Geschmacksurteil“, so Schopenhauer, dieses hässliche Kompositum, verrate, dass Kant von Kunst überhaupt keine Ahnung, keine Anschauung gehabt habe. Philosophie- und ideengeschichtlich sind die Reden und Diskurse über den Geschmack ein einziges Dornengestrüpp, ein großer Boxring, in dem jeder versucht, den anderen entweder niederzuringen oder gleich k. o. zu schlagen. Ein Spiel ohne Regeln, immer unter die Gürtellinie.

Was ist Ihnen lieber: der gute oder der schlechte Geschmack?

Raulff

Den guten Geschmack überlasse ich großzügig den Tanten und Erziehungsberechtigten. Der schlechte Geschmack ist viel interessanter, weil er eine ungeheure Herausforderung darstellt. Anstatt ihn leichtfertig abzutun und mit knappem „Pfui!“ vor die Tür zu weisen, gilt es herauszukriegen, was Menschen daran finden: Was ist daran so attraktiv? Was ist so ungemein spannend am schlechten Geschmack?

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.