Lokalanästhesie: Corona zwingt Museen zu radikalen Kurswechseln

Sind Ausstellungshäuser zu elitären Institutionen für ein privilegiertes Publikum geworden?

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Vor einigen Jahren schoss dem Kurator und Publizisten Martin Fritz eine Idee durch den Kopf: Was würde es für die Museen bedeuten, wenn der Tourismus plötzlich wegbräche? Welche Szenarien wären dann vorstellbar? Der Gedanke erschien ihm so abwegig, dass er ihn nicht weiterverfolgte. Im März 2020 wurde diese Fantasie Wirklichkeit: Lockdown, Reisebeschränkungen, Ratlosigkeit.

Museumsbelegschaften gingen weitgehend in Kurzarbeit, Renovierungsarbeiten wurden vorgezogen, man arbeitete hektisch an digitalen Angeboten und legte mancherorts Corona-Sammlungen an. In den USA und auch in Großbritannien erhielten Tausende Museumsangestellte Kündigungsbriefe. Mittlerweile veräußern die Verantwortlichen dort Objekte aus ihren Sammlungen, um die ökonomischen Schäden einzudämmen.

Heimischen Museen blieb Derartiges zwar erspart. Dennoch müssen viele ab sofort mit weitaus weniger Geld auskommen. „Wenn man nur noch einen Bruchteil des bisherigen Budgets zur Verfügung hat, muss man sich nach der Decke strecken. Wir konnten Kündigungen vermeiden, mussten aber Ausstellungen verschieben und absagen, auch die Marketingkosten drastisch herunterfahren“, schildert Belvedere-Chefin Stella Rollig, eine der mächtigen Direktorinnen im heimischen Museumsbetrieb, wo die Geschlechterparität in Führungspositionen inzwischen nahezu verwirklicht erscheint. Rolligs Haus, eine zentrale Wiener Attraktion, zog vor der Krise hauptsächlich Touristinnen und Touristen an: 2019 machten diese über 80 Prozent des Publikums aus. Auch dem Kunsthistorischen Museum (KHM) und der Albertina, bei Wiener Gästen von auswärts ebenfalls sehr beliebt, schmolzen enorme Summen weg. Man werde in nächster Zeit auf illustre Leihgaben verzichten müssen, bedauerte Albertina-Boss Klaus Albrecht Schröder, und KHM-Chefin Sabine Haag bekundete, dass sie in näherer Zukunft wohl keine teuren Ausstellungen mehr zeigen könne. 

Zwar durften Museen, Ausstellungsräume und Galerien nach dem dritten harten Lockdown Anfang Februar wieder öffnen – im Gegensatz zu anderen Kulturinstitutionen. Allerdings wird der Städtetourismus das Niveau von 2019 möglicherweise erst in Jahren erreichen; die Einnahmensituation bleibt also wackelig. 

Doch abgesehen von betriebswirtschaftlichen Sorgen stellen sich schwierige Fragen: Sollen Museen im 21. Jahrhundert weitermachen wie bisher? Haben die großen Tanker das lokale Publikum zugunsten des Tourismus vernachlässigt? Und zeichnet sich die Tatsache, dass die Gesellschaft sich verändert, in diesen Bildungsinstitutionen überhaupt ab? In Expertenkreisen schwelt diese Debatte schon länger, die Pandemie bringt sie nun an die breitere Öffentlichkeit (siehe auch das Interview mit dem Kurator Jasper Sharp im profil vom 14.12.2020). Martin Fritz, einer der kundigsten Beobachter der heimischen Museumslandschaft, sagt: „Jetzt reden viele von dem, was sich eine innovative Museologie seit Jahrzehnten wünscht.“ Hat die Pandemie, wie in so vielen gesellschaftlichen Bereichen, die Schwächen gegenwärtiger Museumspolitik freigelegt?

Manch einer zeichnet die Zukunft düster. Der Philosoph Krzysztof Pomian beschwor gleich den Untergang des Museums an sich herauf. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ schrieb er im vergangenen November: „Alles deutet darauf hin, dass die große Ära des Aufstiegs der Museen und ihrer zunehmenden Bedeutung im öffentlichen Leben seit 50 bis 70 Jahren auf dem Weg ist, eine Sache der Vergangenheit zu werden.“ Die Pandemie sei nur einer der Auslöser dafür. Erstens dominiere derzeit eine ökologische Sichtweise, der zufolge Zeugnisse früheren Lebens nicht um jeden Preis aufbewahrt werden müssten. Zweitens werde eine künftig katastrophengeplagte Bevölkerung „andere Sorgen haben, als sich für die Überreste einer Vergangenheit zu interessieren, die schuld an ihrer unheilbaren Notlage ist.“ Pomian sieht eine „radikale Ökologie“ am Werk, deren Sieg „das Ende der Existenz von Museen bedeuten“ würde. 

Man muss nicht derart dystopischen Ideen anhängen, um nach der Zukunftsträchtigkeit von Ausstellungen zu fragen, für die 30 Leihgaben aus 30 Ländern in 30 Fliegern mit 30 Botendiensten herangekarrt werden. Noch 2004 charterte die Albertina einen Jumbo-Jet, um ein Rubens-Gemälde aus Washington zu holen. „Ein in Österreich – und wohl auch in Europa – bisher einmaliger Aufwand, um eine Leihgabe für eine große Ausstellung zu transportieren“, ließ man damals stolz verlauten. Heute ginge eine solche PR-Meldung wohl nach hinten los. Belvedere-Direktorin Rollig sagt über aufwendige Blockbuster-Shows mit hohem -Fußabdruck: „Ich bin ziemlich sicher, dass diese Art von Ausstellungen an Bedeutung verlieren wird. Das Klimabewusstsein prägt zusehends das individuelle Leben, vor allem bei jüngeren Generationen. Die Museumsdirektorin wird nicht mehr mit einem Kunst-Jetset-Leben renommieren können, und das Museum wird kritisiert werden, wenn es bei aufwendigen Ausstellungen Ressourcen verschwendet.“

Doch das Unbehagen geht über die Klimathematik hinaus. Der Museologe Gottfried Fliedl, der in seinem Blog die Museumslandschaft kritisch beobachtet, analysiert auf profil-Anfrage: „Ein sehr großer Teil der Bevölkerung geht zu Recht nie ins Museum, da er dort nicht vorkommt. Oft ist es nur Laufkundschaft, die am Bruegel vorbeihastet, weil dann schon die Hofreitschule dran ist.“ Die Pandemie habe sichtbar gemacht, dass man sich in Museen kaum je an der Realität abarbeite. „Themen wie Pflege und Gesundheit bleiben draußen, obwohl sie uns alle betreffen. Das sehe ich als enormes Defizit: die Abwesenheit  wichtiger Fragen.“ Museen seien nicht prinzipiell desinteressiert an der Gesellschaft, aber zu sehr an der Quote orientiert. Nach Fliedl sollten sie „Orte sein, an denen Konflikte ausgetragen werden“. 

Seit Jahren beteuert man in den Chefetagen größerer Häuser, den Anteil des nichttouristischen Publikums erhöhen zu wollen. Gelungen ist dies bisher kaum. Das Problem scheint international virulent. In seinem kürzlich erschienenen Buch „The Future of the Museum“ schreibt der ungarisch-amerikanische Museumsexperte András Szántó: „Trotz wachsender Besucherzahlen sind Kunstmuseen – mehr noch als Wissenschafts- und Naturgeschichtemuseen – in den Augen zu vieler Menschen ein privilegierter und unergründlicher Bereich geblieben.“

Schließt das Museum tatsächlich weite Teile der Gesellschaft aus? Dazu befragt, wird Stella Rollig etwas ungeduldig. „Ich verfolge die Debatte, habe aber den Eindruck, dass sie nicht vom Fleck kommt. Wir in den Museen stellen uns diese Fragen ja intensiv. Der Vorwurf lautet, man kümmere sich nicht um die lokale Bevölkerung. Und er ist falsch.“ Seit rund 30 Jahren befasse sie sich mit der gesellschaftlichen Rolle von Museen. „Ich habe gelernt, dass Institutionen ein ungeheures Beharrungsvermögen haben. Das kann frustrierend sein, andererseits sind gewachsene Identität und Tradition wertvoll. Mit dem Versuch, aus dem Schloss Belvedere ein Community-Center zu machen, wäre man am falschen Ort.“ 

Dennoch möchte sie neue Bevölkerungsschichten ansprechen. Seit 2018 versucht das Belvedere in einer eigenen Schiene mit dem Namen „Community Outreach“, Gruppen im näheren räumlichen Umkreis zu involvieren. Man lädt zu Open-Mic-Veranstaltungen und bringt in einem „Nachbarschaftsforum“ Kunstschaffende mit Initiativen aus der Umgebung zusammen. Schon zuvor gab es Tea-Talks mit Geflüchteten. 

Auch Bettina Leidl, Direktorin des Wiener Kunsthauses und Vorsitzende der Österreich-Sektion des International Council of Museums, erkennt, dass Museen sich weiter öffnen müssen. Vorbilder dazu finde man  in den USA. „Die Museen dort arbeiten oft eng mit Stiftungen zusammen, die das soziale Engagement urkundlich verankert haben und wesentlich zur Finanzierung der Museen beitragen. Die Gelder kommen  Vermittlungsprogrammen für Menschen aus bildungsfernen Schichten oder mit Beeinträchtigung zugute. Die Wirkung in die Gesellschaft, das sogenannte Community Building, ist in den Vereinigten Staaten stärker verankert als bei uns.“ Dennoch sei die Vermittlungsarbeit in Österreichs Museen in den vergangenen 15 Jahren mit sehr engagierten Programmen ausgebaut worden. „Einzelne anzusprechen, ist schwieriger, aber über Vereine, Gruppen, Schulen kann man neue Zielgruppen gut erreichen“, so Leidl. 

In Fragen gesellschaftlicher Inklusion könnten kleinere Häuser den großen Museen durchaus den Weg weisen. Gerade sie öffnen sich einer vielfältiger werdenden Gesellschaft. Als Paradebeispiel dafür gilt das Frauenmuseum in Hittisau, einem etwas abgelegenen 2000-Seelen-Ort im Bregenzerwald. Die Ausstellungen dort reichen üblicherweise weit über das Museum hinaus: Eine Schau über Frauen, die in Tansania Hütten bauen, wurde etwa von einer Aktion gegen Genitalverstümmelung begleitet, an der sich Vorarlberger Handwerkerinnen beteiligen. Kooperationen mit regionalen Frauen- und Mädchenvereinen holen das Zielpublikum direkt ins Haus, das jährlich beachtliche 15.000 Besuche verzeichnet und 2017 den Museumspreis der Republik erhielt – in der Jurybegründung hieß es, das Museum habe bewiesen, „dass sich die kritische Auseinandersetzung zu den weiterhin wichtig bleibenden gesellschaftlichen Fragestellungen in einer Region wie dem Bregenzerwald gewinnbringend führen lässt.“ Auch der Museologe Gottfried Fliedl lobt das Frauenmuseum. Es sei ein „Zukunftsmodell, eine offene, problemzugewandte Plattform, wo nicht nur Ausstellungen gezeigt werden, sondern auch Öffentlichkeit entsteht.“ 

Im Jüdischen Museum in Hohenems bringt man sich stark in Diskussionen um den städtischen Raum ein, ab kommendem Herbst etwa in der Ausstellung „Am Rand. Zusammenleben in der Untergasse“, wo im 19. Jahrhundert jüdische Familien wohnten; die Hohenemser Untergasse  soll demnächst dramatisch umgestaltet werden. Und im Linzer Nordico Stadtmuseum wurde für die Ausstellung „Erzähl uns Linz“ das gesamte Haus ausgeräumt, um Schenkungen durch die Bevölkerung unterzubringen. Im Wiener Volkskundemuseum lud man vor drei Jahren Geflüchtete ein, an einer neuen Dauerausstellung mitzuarbeiten. Im Katalog schrieb das kuratorische Team: „Wer nicht erforscht wird, kommt nicht vor. Wir sind bisher nicht vorgekommen und haben dies nun geändert. Wir sprechen Arabisch, Dari, Farsi, Pashtu, Englisch und manche von uns sogar Deutsch.“

In der Schau stehen Plastikflaschen, die bei der Flucht benutzt wurden, neben bäuerlichen Milchkannen aus der Museumssammlung; in einer traditionellen Bauernstube finden sich Videos, auf denen Flüchtlingsboote den Ozean queren. Sowohl im Frauenmuseum als auch im Volkskundemuseum findet sich ein breiteres Spektrum der Bevölkerung wieder als in den großen Häusern. Allerdings leiden beide Häuser an chronischer Unterdotierung. Wenn es um die Frage geht, wer angesichts der Krise höhere Zuschüsse bekommt, geraten meist die großen Bundesmuseen ins Blickfeld, die auch die öffentliche Debatte dominieren. Dabei ist die heimische Museumslandschaft eben weitaus differenzierter.

Immerhin hat die Pandemie einen günstigen Nebeneffekt: Wenn es draußen kalt ist und die möglichen Indoor-Tätigkeiten begrenzt sind, scheinen viele Menschen nun die Institutionen vor ihrer Tür zu entdecken. Im Wiener Museum für angewandte Kunst studiert man derzeit  die Entwürfe für Privathäuser von Adolf Loos; wochenends erkunden Kinder mit ihren Eltern im Technischen Museum Wien die Geheimnisse der Schwerkraft, und im Belvedere flanieren Großeltern mit Knirpsen durch die Schausammlungen – sie steuern nicht nur Klimt und Schiele an, sondern auch Waldmüller und die Kunst der Zwischenkriegszeit.

Wahrscheinlich wird das lokale Publikum, ökonomisch betrachtet, den Wegfall der touristischen Besuche nicht kompensieren können. Aber muss das sein? Martin Fritz: „Eine mutige Kulturpolitik müsste nachhaltig sinkende Einnahmen akzeptieren. Ganz wichtig wäre jetzt, den freien Eintritt einzuführen. Damit würde man Verständnis zeigen für die Bedrängung der Bevölkerung in der momentanen Situation und ganz offensiv damit umgehen.“ Die Einnahmen müsste die öffentliche Hand ersetzen. Wenn Museen nicht „rein für den Tourismus finanzierte Maschinen sein sollen, müssen sie in soziale Beziehungen investieren.“ 

Tipps dafür könnten sie sich bei jenen holen, die mit zu wenig Budget eine Wirksamkeit entfalten, die über das Museum hinausstrahlt. Der Bus nach Hittisau fährt vom Bahnhof Bregenz ab, drei Mal die Stunde.

Nina   Schedlmayer

Nina Schedlmayer