Beschämender Übergriff: Ohrfeige für Chris Rock
Kino

Oscars 2022: Schlag ins Wasser

Keine Auswege aus der Sinnkrise: Die 94. Oscar-Show geriet zum Fiasko. Die angeblich wichtigste Filmpreisgala der Welt ist keine Feier der Filmkunst mehr, nur noch eine aus Pathos-Rhetorik, Supermarktmusik, beschämenden Übergriffen und bunt bedruckten Textilstoffen gemischte Chaosparty.

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Sollte ein Mensch, der nie im Kino war und also nicht wissen kann, wie sehr die großen Filme die Welt einst verändert haben, nur diese Oscar-Show gesehen haben, so wird er nun mit einigem Recht behaupten, dass im Reich der movie lovers und in den Köpfen derer, die Filme herstellen, ein bedenkliches Maß an Geschmacksarmut und geistiger Umnachtung herrscht.

Drei Stunden lang hatte einen die 94. Vergabe der einst mythischen Academy Awards mit einem Mix aus Lähmungsdramaturgie, Fernfahrerpop und historischen Fehlentscheidungen schon hingehalten, als sie gegen Ende hin noch ein paar unterirdische Momente generierte, mit denen niemand mehr gerechnet hatte: Ein kleiner Akt der Gewalt, der sich aus einem unpassenden Witz ergab, wurde erst bestaunt und dann gefeiert, weil der Aggressor selbst zu unguter Letzt noch einen Oscar erhielt und sich in seiner Dankesrede unter Tränen, im Versuch einer Entschuldigung, zum gottgesandten Beschützer seiner Familie und eigentlich seiner gesamten Umgebung erklärte.

Ohrfeige für Chris Rock

Und so kam es zu dem Eklat: Der US-Comedian Chris Rock, 57, fing sich eine hart gesetzte Ohrfeige ein, die ihm der Schauspieler Will Smith, 53, angedeihen ließ, weil Rock einen harmlos scheinenden Witz über die Frau des Mimen, die kahlgeschorene Jada Pinkett Smith gerissen hatte; sie sehe aus, als würde sie demnächst in „GI Jane II“ auftreten, scherzte Rock grinsend. Was er entweder nicht wusste oder taktlos ausblendete: Pinkett Smith leidet an einer Autoimmunkrankheit, die zu massivem Haarausfall führt. Smith schritt also entschlossen auf Rock zu, schlug ihm in die Visage, kehrte an seinen Platz zurück und forderte ihn von dort aus zweimal unflätig brüllend auf, den Namen seiner Frau nie wieder in seinen „verdammten Mund zu nehmen“. Eine gewisse Fassungslosigkeit, die gut auch zum Rest des Abends passte, stand Rock danach ins Gesicht geschrieben.

Smith bat anschließend, als er seinen Oscar als bester Hauptdarsteller in Händen hielt (er spielt in „King Richard“ den Vater der Tennislegenden Venus und Serena Williams), um Vergebung. Wohlgemerkt entschuldigte er sich nicht bei Rock, sondern beim anwesenden Publikum, das ihm dankbar applaudierte und auf der Stelle Ablass gewährte. Über toxische Gewaltanwendung, die dazu dient, die Ehre seiner wehrlosen Ehefrau zu retten, sieht man im identitätspolitisch so peniblen Hollywood offenbar gerne hinweg. Er sei von Gott ausersehen, „ein Gefäß der Liebe“ zu sein, faselte Smith noch mit feuchten Augen, er finde sich dieser Tage in einer Situation wieder, die ihn zu einem Beschützer seiner Familie, seiner jungen Kolleginnen und der Menschen, die er darstelle, mache.

Gesehen, gemocht, vergessen

Und als reiche dieses Cringe-Theater, Smiths Strohfeuer der Eitelkeiten nicht schon aus, um die Oscars 2022 zu demolieren, wurde auch noch die Gehörlosen-Tragikomödie „Coda“, ein liebenswertes, sympathisch gespieltes, an filmkünstlerischen Fragen aber vollständig desinteressiertes Werk, nebst zwei weiteren Oscars zum besten Film gekürt. Nicht Jane Campions hochintelligente Western-Revision „The Power of the Dog“, nicht Ryusuke Hamaguchis feingliedrige Beziehungsstudie „Drive My Car“, nicht die bildgewaltige Dystopie „Dune“, nicht der Freak-Noir „Nightmare Alley“, nicht die quirlige Seventies-Romanze „Licorice Pizza“. Nein, „Coda“, die nette Geschichte eines netten Mädchens, das mit seiner netten gehörlosen Familie dem netten und ehrlichen Gewerbe der Fischerei nachgeht und sich auf äußerst nette Weise dem Singen verbunden fühlt. Der Titel der Produktion, die das Remake einer 2014 entstandenen (und naturgemäß ebenfalls netten) französischen Komödie namens „Verstehen Sie die Beliers?“ darstellt, steht übrigens für „Children of Deaf Adults“ – die Kinder gehörloser Erwachsener. Ein Indie-Feelgoodfilm wie aus den 1990er-Jahren – gesehen, gemocht, vergessen.

Das Regiment des Patschenkinos wurde jedenfalls eindrucksvoll bestätigt. So schlug AppleTV+, wo man „Coda“ streamen kann, in dieser Nacht auch Netflix, wo man Campions Film produziert hatte, der – zwölffach nominiert – am Ende nur die beste Regie zugesprochen bekam. Denis Villeneuves „Dune“ verwandelte seine zehn Nominierungen immerhin in sechs Oscars, die mehrheitlich technische Kategorien betreffen. Zwischendurch holten sich auch einige zu Recht gelistete Favoriten ihre Oscars ab: Hamaguchi etwa gewann, wenig überraschend, mit „Drive My Car“ in der Kategorie „Bester Internationaler Film“ (profil berichtete). Und das fulminante Musikdokument „Summer of Soul“, das eine Serie unveröffentlichter Konzertmitschnitte vom Harlem Cultural Festival, einem Black Woodstock des Jahres 1969, vor dem Vergessen rettete, triumphierte als bester Dokumentarfilm.

Ukraine-Krieg bloß fernes Hintergrundrauschen

Der Schmunzelslapstick des Moderatorinnentrios Regina Hall, Amy Schumer und Wanda Sykes tat nicht viel zur Sache, und die Absurdität, dass die aus der Live-Übertragung verbannten ersten acht Oscars schon eine gute Stunde vor der Show via Twitter die Runde machten, nahm man offenbar gerne in Kauf. Außer einer knappen Schweigeminute mit Spendenaufruf und Solidaritätseinforderung für die Ukraine blieb der tobende Krieg bloß fernes Hintergrundrauschen. Lieber würdigte man in aller Breite das 60-Jahre-Jubiläum der James-Bond-Serie, als könnte man mit den „guten“ Detonationen des Action-Kinos die real stattfindenden Vernichtungsschläge irgendwie exorzieren – und sei es nur für eine eskapistische Preisregennacht.

 

Oscars 2022: Alle Gewinner auf einen Blick

BESTER FILM

"CODA"

BESTE REGIE

Jane Campion ("The Power Of The Dog")

BESTE HAUPTDARSTELLERIN

Jessica Chastain ("The Eyes Of Tammy Faye")

BESTER HAUPTDARSTELLER

Will Smith ("King Richard")

BESTE NEBENDARSTELLERIN

Ariana DeBose ("West Side Story")

BESTER NEBENDARSTELLER

Troy Kotsur ("CODA")

AUSLANDSOSCAR

"Drive My Car" (Japan)

BESTER ANIMATIONSFILM

"Encanto"

BESTES ORIGINALDREHBUCH

"Belfast"

BESTES ADAPTIERTES DREHBUCH

"CODA"

BESTE KAMERA

"Dune"

BESTER SCHNITT

"Dune"

BESTES KOSTÜMDESIGN

"Cruella"

BESTES PRODUKTIONSDESIGN

"Dune"

BESTES MAKE-UP UND HAARE

"The Eyes Of Tammy Faye"

BESTE VISUELLE EFFEKTE

"Dune"

BESTER SOUND

"Dune"

BESTE MUSIK

"Dune"

BESTER SONG

"No Time To Die" ("James Bond - No Time To Die")

BESTER DOKUMENTARFILM

"Summer Of Soul"

BESTER DOKUMENTARKURZFILM

"The Queen Of Basketball"

BESTER ANIMIERTER KURZFILM

"The Windshield Wiper"

BESTER KURZFILM

"The Long Goodbye"

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.