Redakteure Paterno und Grissemann im mehrstündigen Gespräch mit Seidl

Blicke in den Abgrund

Der umstrittene Filmemacher Ulrich Seidl bricht sein wochenlanges Schweigen bezüglich der Vorwürfe während des Drehs zum Film „Sparta”, Kinder Gewalt ausgesetzt zu haben, in einem Exklusiv-Interview.

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„Die Kinder hatten großen Spaß (...), sie hatten viel mehr Spaß als zu Hause, wo ihre Wirklichkeit eine ganz andere ist. Sie reden heute noch davon, dass sie diese Zeit als Urlaub und Ferien erlebt haben. Aber gewisse Medien stellen es so dar, als wären diese Kinder bei uns permanentem Machtmissbrauch ausgesetzt gewesen. Das ist eine so groteske Verdrehung, dass es kaum zu fassen ist.”

Ein Auszug aus einem mehrstündigen Exklusiv-Interview, das Stefan Grissemann und Wolfgang Paterno so sachlich wie schonungslos mit dem Filmemacher Ulrich Seidl für die aktuelle profil-Ausgabe führten. In dem Gespräch gibt Seidl, neben Michael Haneke der international renommierteste österreichische Regisseur, Fehlverhalten auch durchaus zu.

„Wenn du lange in den Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.” Vielleicht ist diese morbide Weisheit des Philosophen Friedrich Nietzsche Seidl in den letzten Wochen mehrfach durch den Kopf gegangen. Schließlich steht sein Gesamtwerk für einen gnadenlosen Blick in seelische Abgründe, dem menschlichen „Keller”, so der Titel einer seiner Semi-Dokumentationen. Seit Wochen recherchiert und analysiert profil-Kulturressortleiter Stefan Grissemann die Causa rund um den österreichischen Filmregisseur. Als profundem Kenner von Seidls filmischen Arbeitsmethoden und dessen Werk, war und ist Grissemann die Wahrheitsfindung bezüglich der vom „Spiegel” ins Rollen gebrachten Vorwürfe ein besonders großes Anliegen.

Der von viel unreflektierter Empörung begleitete Skandal in kurzem Abriss: Vor rund einem Monat waren im „Spiegel“ anonyme Quellen zu Wort gekommen, die Seidl beschuldigten, während der Dreharbeiten zum Spielfilm „Sparta” in Rumänien 2019 Kindern, die als Laiendarsteller agierten, „Gewalt, Nacktheit und Alkoholismus” ausgesetzt zu haben und den Eltern die eigentliche Thematik des Films, nämlich Pädophilie, verschwiegen zu haben.

Auf Grund dieses Artikels fiel die Welturaufführung von „Sparta”, wo Georg Friedrich einen Mann spielt, der mit seinen pädophilen Neigungen kämpft (ohne dass sexualisierte Szenen vorkommen), beim Filmfestival in Toronto der Cancel-Culture zum Opfer; die österreichische Uraufführung wird im Rahmen der Viennale statt finden.

Während der „Falter” die im deutschen Nachrichtenmagazin von anonymen Quellen getätigten Anschuldigungen weitgehend wiederholte, hatten Grissemann und dessen Ressortkollege Wolfgang Paterno sich schon vor zwei Wochen auf den Weg gemacht, um mit Crew-Mitgliedern, die beim Dreh vor Ort waren und mit Vollnamen ihre Aussagen tätigten, ausführliche Gespräche zu führen. Der präzise Umgang mit der Wahrheit und die akribische Recherchen des Duos hatten Seidl, der sich über Wochen in Schweigen gehüllt hatte, offensichtlich dazu bewogen, seine Sicht der Dinge erstmals im profil darzustellen, wobei er bei seinen Interviewpartern durchaus mit hartem Gegenwind zu kämpfen hatte.

Sich mit den Tätern zu beschäftigen, reduziert die Zahl der zukünftigen Opfer - egal, ob es sich um Pädophilie, sexuelle Übergriffe oder häusliche Gewalt handelt. Ein häufiger Kritikpunkt bei Expertinnen und Sozialarbeiterinnen nach Vorfällen häuslicher Gewalt ist, dass die Arbeit mit den Tätern, ihre Impulse zu kontrollieren und ein Unrechtsbewusstsein zu entwickeln, nicht ausreichend angeboten wird.

In einem Bravourstück journalistischer Präzision hat Robert Treichler den steirischen Gewalttäter Wolfgang R. porträtiert. Der Mann hatte seine Frau verletzt und wurde weggewiesen und angezeigt. Ein Jahr lang begleitete Treichler den 45-jährigen Monteur bei seinem Weg aus dem Abgrund – um einerseits Einblicke in die Psyche eines solchen Täters zu geben, aber auch um die Möglichkeiten einer Rehabilitierung vor Augen zu führen. Über sein Gefühl nach einer Gewaltpräventionsberatung sagt Wolfgang R: „Da hast du eine fremde Person, mit der du reden kannst und die dir zuhört.” Seinen Kindern erklärte er: „Damit ist es jetzt vorbei.”

Eine abgrundfreie Woche wünscht Ihnen

Angelika Hager

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort