Ministerin Gewessler (Grüne) und Vizekanzler von Deutschland Robert Habeck (Grüne) am Dienstag, 12. Juli 2022, anlässlich des Foto- und Filmtermins "Besichtigung der Wärmepumpe im Kraftwerk Simmering" in Wien.
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Kann Karl Nehammer Krisenkanzler?

Der deutsche Minister Habeck erteilte Österreichs Regierung bei seinem Besuch wie nebenbei eine Lektion in Krisenkommunikation.

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Guten Morgen!

Wenn es derzeit so etwas wie einen Popstar der Politik gibt, dann heißt er Robert Habeck und amtiert als deutscher Vizekanzler und Wirtschaftsminister. Die Auftritte, Social-Media-Botschaften und Videos des Grün-Politikers gehen viral, für seine bullshitfreien Ansagen wird ihm über Parteigrenzen Respekt gezollt, seine Beliebtheits- und Vertrauenswerte klettern auf Rekordhöhen. Mit seinem ungewöhnlichen Zugang, auch offen (Selbst)Zweifel in der Energie-Kriegs-Putin-Öl-Gas-Wirtschaftskrise offenzulegen, hat sich Habeck zum Cheferklärer der Krise gemausert.

Programmiert war das nicht, noch vor einem Jahr, im deutschen Wahlkampf, galt Habeck als tragischer Verlierer, der Wahlkampfpatzer nicht ausmerzen konnte und sich in seiner Verzweiflung in peinliche Pferdefotos und pathostriefende Reden flüchtete. Das ist vergessen, nun wird Habeck als Politiker gefeiert, der Klartext spricht und entschlossen handelt.

Am gestrigen Dienstag, bei seinem Kurzbesuch im Wien, erteilte er der österreichischen Bundesregierung in einer kurzen Szene wie nebenbei eine Lektion, wie ehrliche Krisenkommunikation funktionieren kann. Mit wenigen Sätzen – freundlich-höflich im Ton, knallhart im Inhalt - hinterfragte Habeck das Prinzip der Energielenkung, wonach private Haushalte vor Energieengpässen besonders geschützt werden. Dieser Gedanke „Frieren soll niemand“ sei nur dann richtig, wenn die Energieversorgung kurzfristig gestört sei: „Das ist aber nicht das Szenario, das wir jetzt im Moment haben, sondern wir gehen ja möglicherweise von einer monatelangen Unterbrechung aus.“ Also müssten, falls Putin Gas und Öl drossle, auch private Haushalte ihren Anteil leisten, denn die Industrieproduktion könne ja nicht monatelang stillstehen.

So offen und ehrlich hat sich noch niemand der österreichischen Ministerinnen und Minister zu sagen getraut, was im kommenden Herbst und Winter drohen könnte. Hierzulande versichern lieber alle treuherzig, dass die Gasspeicher ganz, ganz sicher aufgefüllt werden und man das Problem im Griff habe. Genau so, wie die Regierung vor einem Jahr versichert hatte, dass es ganz, ganz sicher keinen Corona-Lockdown mehr geben werde. Das ist der Stoff, aus dem Vertrauenskrisen in der Politik gestrickt sind: Probleme schönreden. Nicht oder viel zu spät handeln. Kein mutiges Krisenmanagement betreiben. Mit Anlauf in die Krise schlittern. Und dann alle Schuld weit von sich weisen und vollmundig andere dafür verantwortlich machen. Energische Krisenbewältigung funktioniert nach dem gegenteiligen Prinzip, wie Habeck vorexerziert: Er wagt es, ehrlich Probleme anzusprechen – und dann an Lösungen zu arbeiten.

Wer schafft das in Österreich? Kann das Regierungsoberhaupt durch Krisen steuern? Kann Kanzler Karl Nehammer die Bevölkerung auf den Herbst vorbereiten und die richtigen Maßnahmen setzen? Hat er, außer dem dämlich-plumpen Bruhaha-Untergriff, gegen die Krise „Alkohol oder Psychopharmaka“ einzuwerfen, auch ernsthafte und kanzler-like Rezepte parat? Kurz: Kann Karl Nehammer Krisenkanzler? Die Zweifel daran werden lauter, auch in seiner eigenen Partei.

In der ÖVP brodelt es, Panik vor herandräuenden Niederlagen bei Landtagswahlen grassiert, Landeshauptleute revoltieren offen und verlangen, was Nehammer eigentlich ausgeschlossen hatte – nämlich über einen Strom-Preisdeckel zumindest nachzudenken. Und die wohl mächtigste ÖVP-Politikerin, Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, verlangte mit drohendem Unterton „klare Führung in der Regierung“. Recht viel deutlicher kann man Regierungschef Nehammer nicht mehr ausrichten, dass er endlich seinen Job machen soll: nämlich regieren. Nein, natürlich ist die Regierung nicht tatenlos, sie hat Anti-Teuerungs-Pakete beschlossen. Aber nicht nur die Landeshauptleute haben den Eindruck: Das wird nicht reichen. Zumal im Herbst nicht, wenn die Heizsaison startet – Details siehe etwa hier.

Nehammer hatte einen umgekehrten Start wie Habeck: Er heimste allerhand Vorschussvertrauen ein – und ist gerade dabei, es systematisch zu verspielen. Kann er Krisenkanzler? Wenn ja, sollte bald damit beginnen, es unter Beweis zu stellen.

Haben Sie einen möglichst krisenfreien Mittwoch!

Eva Linsinger

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin