Der Murks mit den Kassenstellen für Kinderärzte
5000 Kinder kommen auf einen Kinderarzt mit Kassenstelle in Österreich, das ergab eine Erhebung aus dem Jahr 2023. Noch mehr verschärft sich das, wenn Stellen unbesetzt bleiben. Wie im Salzburger Lungau etwa, wo eine Kassenstelle nicht besetzt ist und ein Kassenarzt alleine die Stellung hält. Direkt im Nachbarbezirk Pongau zeigt sich aber eine ganz andere Situation: Überversorgung. In unmittelbarer Nähe zueinander praktizieren gleich drei Kinderkassenärzte. Wie kann das sein? Das ist das Resultat einer ÖGK-Aktion zur Förderung von mehr Kassenstellen, die laut Kritikern nicht gerade zweckmäßig war.
Denn nun gibt es Regionen die überversorgt sind, während andere Regionen unterversorgt bleiben.
Eigentlich hätte die Initiative +100 von der früheren türkis-grünen Bundesregierung den Mangel an Kassenärztinnen und -ärzten lindern sollen. Ab 1. Jänner 2024 konnten sich Interessentinnen und Interessenten für eine der insgesamt 100 zusätzlichen Kassenstellen bewerben. 100.000 Euro Startbonus inklusive. Trotz des hohen finanziellen Anreizes ist die Bilanz nach zwei Jahren ausbaufähig: 72 Stellen sind besetzt, 23 in Vorbereitung und für fünf gibt es noch keine Bewerbungen, heißt es von der ÖGK.
Diesen Sommer kursierte eine Aussage von Gesundheitsstaatssekretärin Ulrike Königsberger-Ludwig, dass die Aktion aufgrund der budgetären Situation nicht weitergeführt werden könnte. Das revidiert ihr Büro auf Nachfrage, die unbesetzten Stellen sind immer noch ausgeschrieben.
Die Hälfte der Stellen sollte an Ärztinnen und Ärzte in der Primärversorgung gehen, sprich Allgemeinmediziner und Kinderärzte. Das wurde nicht ganz erreicht, zehn wurden an Allgemeinmediziner vergeben, zehn an Kinderärzte. 14 an Allgemeinmediziner und Kinderärzte in Primärversorgungseinheiten (PVE).
Kritik an Vergabe der +100-Stellen
Die erwartete Entspannung haben die Stellen aber nicht gebracht, vor allem im Kinder-, und Jugendbereich. Von unterschiedlichen Seiten aus unterschiedlichen Bundesländern hört man den Vorwurf, die Stellen wurden teils vergeben, um vergeben zu werden, nicht danach, wo wirklich Bedarf war. Zum Beispiel in der Steiermark, wo es in Graz jetzt noch mehr Kinderärzte gibt, obwohl ganze Regionen gar keinen Kassen-Kinderarzt haben. Oder eben rund um St. Johann im Pongau.
Bis voriges Jahr gab es hier zwei Kassenärzte und eine Wahlarztpraxis, die sich ein verhältnismäßig kleines Einzugsgebiet von gerade 30.000 Personen teilten. Vergangenes Jahr kam ein Kollege mit einer Stelle der +100-Initiative und Startbonus hinzu. Wer kann es ihm unter diesen Bedingungen verübeln.
Derweil sei die Versorgung in anderen Regionen im Bundesland Salzburg und in der Stadt Salzburg ungenügend, sagt der Fachgruppenobmann der Ärztekammer Salzburg, Holger Förster. Die Besetzung im Pongau habe laut der Landes-Ärztekammer sicher nicht dem entsprochen, was im Bundesland wirklich sinnvoll gewesen wäre. In Salzburg Stadt sind etwa zwei Stellen unbesetzt, und gerade im Winter laufen ohnehin schon alle Ordinationen über.
Eine der Ärztinnen, die vorher schon in St. Johann im Pongau vor Ort war, ist Barbara Schnell. Sie beklagt einen massiven Patientinnen-, und Patientenrückgang durch die neue, geförderte Stelle. „Es gibt Regionen, die sind unterversorgt, aber die werden völlig negiert", sagt die Kassenmedizinerin. Für sie sei die Aktion politisch motiviert, damit die Öffentlichkeit das Gefühl habe, dass in der Gesundheitspolitik etwas passiert.
Die ÖGK widerspricht: Die Auslastung der Kinderärztinnen in der Region, die Lage und auch die Besetzungswahrscheinlichkeit wurden alle bei der Vergabe der Stelle im Pongau berücksichtigt. Sie wurde dort angesiedelt, um sowohl eine stark geforderte Stelle im Pongau zu stützen als auch die Versorgung im Nachbarbezirk Pinzgau zu verbessern.
Hohe Auslastung und niedrige Honorare
Während im Pongau also ein Streit um die Patientinnen und Patienten entbrannt ist, warten anderenorts Eltern vergebens auf einen Arzt oder Ärztin. Im niederösterreichischen Gänserndorf gibt es seit Anfang 2023 gar keinen Kassenkinder-Arzt mehr. Und Gänserndorf ist immerhin Bezirkshauptstadt. Denn die +100-Stellen können ein Problem nicht lösen: Kassenstellen sind unattraktiv. Denn auch abgesehen von der Aktion sind nie alle Planstellen besetzt: Derzeit finden sich für elf von 317 Kinderarztstellen keine Bewerber.
Diese Unattraktvitität liegt unter anderem an den besseren Bedingungen in Wahlarzt-Ordinationen, sagt Bernhard Jochum, Obmann der Fachgruppe Kinder-, und Jugendheilkunde der Ärztekammer. Er betreibt seit 25 Jahren in Bludenz eine Kassenpraxis. Pointiert formuliert es die Wiener Kassenärztin Nicole Grois: „Wieso soll eine Kinderfachärztin für wenig Geld viele Kinder mit vielen Problemen in einer Kassenpraxis behandeln, wenn sie um viel Geld wenig Kinder mit weniger Problemen in einer Wahlarztpraxis behandeln könnte?“ Es ist der vieldiskutierte Streit zwischen Kassen-, und Wahlärzten.
Aber bei der Frage, wieso Eltern keine Kinderärzte in ihrer Region mehr finden, geht es um mehr als nur um das Wahlarztsystem. Besonders am Land scheinen die Stellen unattraktiv, beobachtet Reinhold Kerbl, Abteilungsleiter für Kinder-, und Jugendheilkunde am Landeskrankenhaus Hochsteiermark und Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Kinder-, und Jugendheilkunde. Es gibt für junge Ärztinnen und Ärzte einfach wenig Anreiz in eine Region zu ziehen, zu der sie keinen Bezug haben, nur weil es dort Bedarf gäbe.
Wer will schon Kinderarzt am Land sein?
Außerdem ist eine eigene Ordination immer ein großer administrativer und organisatorischer Aufwand. Eine Lösung dafür können PVEs sein, denn hier teilt sich die Last auf. In solchen Gesundheitszentren arbeiten mehrere Ärztinnen und Ärzte und potenziell auch andere Gesundheitsberufe unter einem Dach zusammen. Auch die Regierung betont sie gerne als Wunderwaffe für die Versorgungssicherheit. Doch Jochum gibt zu Bedenken, im wirklich ländlichen Raum kann es sein, dass Eltern dann erst Recht wieder eine lange Anreise zum nächsten PVE haben.
Für Kerbl sollte deswegen gerade im ländlichen Bereich auch die Telemedizin eine größere Rolle spielen. Zumindest um ein Drittel könnte man die Zahl der Kinder, die ärztliche Versorgung vor Ort brauchen, so reduzieren, meint er. Er schlägt etwa eine Hotline wie die Gesundheitsnummer 1450 speziell für pädiatrische Probleme vor.
Ob diese Überlegungen Eltern in strukturschwachen Regionen beruhigen, während andernorts mit hohen Förderungen eine Überversorgung geschaffen wird, bleibt fraglich.