IMPFKRITISCHE MASSE: Die Debatte um eine verpflichtende Impfung mobilisiert viele Menschen. Unter den Protestierenden wächst das Gewaltpotenzial.
Österreich

„Grausame Energie“: Gewaltpotenzial bei Corona-Demos steigt

Die Corona-Skeptiker radikalisieren sich, die Impfpflicht befeuert die Proteste. Unter den Demonstranten finden sich neben Rechtsextremen besonders viele Esoteriker. Der Verfassungsschutz sieht die Szene derzeit als „größte Bedrohung“.

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Wer einen Beleg für das Aggressionspotenzial der Corona-Maßnahmenkritiker gesucht hat, der wird derzeit nicht enttäuscht. Impfgegner, Verschwörungstheoretiker und Rechtsextreme marschieren vor Spitälern auf, beschimpfen Mediziner, verjagen ORF-Kameraleute mit „Lügenpresse“-Rufen von einer Demo in Linz – und sie bedrohen Politiker. Bei einem Bürgermeister stiegen sie sogar in den Garten ein. Der Vorfall blieb glücklicherweise ohne Folgen. Corona-Skeptiker sind es auch, die im dringenden Verdacht stehen, eine Teststation in der Steiermark angezündet zu haben.

Ulrike Schiesser, Psychologin und leitende Mitarbeiterin der Bundesstelle für Sektenfragen, hat die Szene der Verschwörungstheoretiker seit Jahren hauptberuflich am Radar. Nun ist sie erstmals ernstlich besorgt: „Ich fürchte, dass es zu Gewaltausbrüchen kommen könnte. Die Corona-Skeptiker stilisieren sich selbst als Helden und dämonisieren ihre Gegner extrem. In so einer Stimmung kann eine Person echt kippen.“ Die Psychologin warnt explizit vor „plötzlichen Wutausbrüchen, Anschlägen auf Einzelpersonen und Krankenhäuser“.

Die Pläne für eine Impfpflicht haben den Groll unter impfskeptischen Teilen der Bevölkerung noch einmal befeuert, die Gegner der Maßnahmen zur Bekämpfung der Virusausbreitung erhalten starken Zulauf, in allen Teilen des Landes. Ob rechte Extremisten, Esoteriker oder Alternativmediziner – was sie alle eint, ist ihr Hang zu Verschwörungstheorien. Der Verfassungsschutz in Bund und Ländern nimmt die Protestbewegung nun stärker ins Visier.

Es ist Mittwochmittag. Auf dem Wiener Maria-Theresien-Platz neben dem Wiener Ring sollte derzeit eigentlich der Christkindlmarkt stattfinden – die Stände sind fix und fertig aufgebaut, bleiben wegen des Lockdowns aber geschlossen. Dennoch tummeln sich zwischen den Buden dicht gedrängt rund 1000 Personen: einige mit Bierflaschen, andere mit Österreichfahnen in der Hand. Auf den mitgebrachten Schildern steht „Gesundheitskuratel wie im Straflager“ und immer wieder „Nein zum Impfzwang.“

Aus Lautsprecherboxen dröhnt Musik von Verschwörungs-Popstar Xavier Naidoo, ehe ein bärtiger Mann mit Schlapphut die Ladefläche eines Pritschenwagens betritt und zum Mikrofon greift: „Nur hin und wieder am Wochenende zu demonstrieren, ist zu wenig!“, so sein Appell, „wir müssen unsere Strategie ändern! Wir müssen sichtbar werden, wenn der Verkehr rollt und die Wirtschaft rollt – dann, wenn es wehtut!“ Der Mann ist Alexander Ehrlich, ein gelernter Reiseveranstalter aus Salzburg und eines der bekannten Gesichter der österreichischen Corona-Skeptiker-Szene. Die sogenannten Querdenker demonstrieren seit über einem Jahr – derzeit mobilisieren sie aber so erfolgreich wie nie zuvor, forcieren Proteste in allen Landeshauptstädten. Selbst werktags am frühen Nachmittag haben die Demos großen Zulauf.

Die Verbreiterung des Protests versetzt die heimischen Sicherheitsbehörden in Alarmbereitschaft. Am selben Tag, als die Querdenker letzten Mittwoch auf die Straße gingen, nahm die neue österreichische Verfassungsschutzbehörde DSN (Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst) ihre Arbeit auf. Ihr neuer Chef Omar Haijawi-Pirchner betont die Gefährlichkeit der Bewegung: „Die Coronamaßnahmen-Gegner sind derzeit für uns auch die größte Bedrohung aus Sicht des Verfassungsschutzes. Wir müssen hier genauer hinschauen“, hieß es auf einer Pressekonferenz mit Innenminister Karl Nehammer.

„Ich fürchte, dass es zu Gewaltausbrüchen kommen könnte. Die Corona-Skeptiker stilisieren sich selbst als Helden und dämonisieren ihre Gegner extrem. In so einer Stimmung kann eine Person echt kippen.“

Ulrike Schiesser

Psychologin und leitende Mitarbeiterin der Bundesstelle für Sektenfragen

Die Radikalisierung zeichnete sich ab: Schon im Jänner begann der Verfassungsschutz konkrete Ermittlungen gegen das Umfeld, vermutet wurde ein „Sturm auf das Parlament“ im Zusammenhang mit einer Demonstration in Wien. Im Mai stießen Ermittler bei Razzien bei Corona-Skeptikern auf illegale Waffen und Tausende Stück Munition. Zuletzt brannte in der Steiermark eine Teststation bei einer Apotheke, auch hier ermittle der Verfassungsschutz in Richtung der Querdenker, bestätigt man gegenüber profil. Ganz aktuell nehmen vor allem Drohungen gegenüber Bürgermeistern zu – Innenminister und Verfassungsschutz luden vergangene Woche deshalb zu einer Konferenz mit über 400 Ortschefs. „Aufgrund der Drohungen bis hin zu Aufmärschen vor Wohnhäusern von Bürgermeistern müssen Maßnahmen gesetzt werden“, so das Innenministerium.

Abseits des harten Kerns protestieren Menschen, mal rechts, mal links der Mitte, die stark einer esoterischen Lebenseinstellung anhängen. „Die Motive sind geprägt von Elitenkritik, Ablehnung des Systems und Wissenschaftsfeindlichkeit. Die heterogene Protestbewegung eint ein ausgeprägter Individualismus“, bilanziert die DSN. Vor allem aus der Bio-Szene und von Sympathisanten „alternativer Medizin“ kommt zuletzt reger Zulauf zu den Demonstrationen. Die Leiterin der Beratungsstelle für Extremismus Verena Fabris kann den Trend bestätigen. Normalerweise beschäftigt sich die Beratungsstelle vor allem mit Islamisten und Rechtsextremen, nun kommt ein neues Thema dazu: „Gut ein Viertel unserer monatlichen Kontakte betraf zuletzt rein das Thema Corona und Verschwörungstheorien.“ Die Debatte um die Pflichtimpfung heize die Proteststimmung an, glaubt Fabris: „Aus rein pädagogischer Sicht ist eine Pflicht nicht die beste Lösung. Man hätte davor und vor allem noch früher wohl andere Möglichkeiten ausschöpfen können.“

Mit ein paar Klicks durch die Facebook-Profile jener User, die von ihrer Teilnahme an den Corona-Demos berichten, offenbart sich ein bemerkenswert hoher Anteil an Energetikern und Esoterikern. Diese Menschen glauben an „höhere Seelen“ und „Geistwesen“, sie vertrauen auf energetische Reinigungen von Räumen – dem erprobten Impfstoff dagegen, dem vertrauen sie nicht. Da ist etwa die Betreiberin eines kleinen Bioladens, die neben biologischen Müslis und Fruchtsäften auch allerlei Wunderpillen verkauft. Um 45 Euro bietet die Frau sogenannte „Vitalstoffmessungen“ an, die auch als „Bio Scans“ vermarktet werden. Das Versprechen: Das Gerät würde mittels Sensor und ganz ohne Blutabnahme ermitteln, ob die Testperson einen Mangel an Vitaminen hat, ob der Blutzucker in Ordnung ist und welche Allergien bestehen. Einen Wirksamkeitsnachweis für die Geräte gibt es freilich nicht, der Norddeutsche Rundfunk (NDR) bezeichnete die Messungen nach einem Test mit seriösen Medizinern schlicht als „Abzocke“.

Eine andere Demonstrantin ist M., Energetikerin aus Oberösterreich. Sie war dabei, als 600 Impfgegner vor dem Klinikum in Wels aufmarschierten, sie demonstrierte in Wien und in St. Pölten. Für 155 Euro kann man sich von der Energetikerin mit Stroboskop-Licht in einen halluzinativen Zustand versetzen lassen, ihre Methode nennt M. „Seelenlicht-Sitzung“. Darüber informiert sie ihre Kunden auf Facebook und ihrer Website – und sie ruft zur Teilnahme an den Demos auf. Dort gibt sich die Esoterikerin mit einem Schild zu erkennen, auf dem die ikonografische Silhouette von Che Guevara, dem  legendären Anführer der Kubanischen Revolution, abgebildet ist – daneben steht „Selbstbestimmung, Freiheit, Recht“. Ob sie weiß, dass Kuba eine der höchsten Durchimpfungsraten der Welt hat (knapp 90 Prozent)?

Die Facebook-Beobachtungen von profil decken sich mit den Erfahrungen von Psychologin Schiesser von der Sektenstelle. Die Corona-Demonstranten kämen aus allen gesellschaftlichen Schichten, hätten oft gute und sichere Jobs, manche sogar im Gesundheitsbereich. „Die Schnittmenge ist oft die Esoterik. Diese Leute sind blind, wenn es darum geht, rechte Rhetorik zu erkennen. Denn es bestehen gewisse Parallelen zwischen Esoterikern und Rechtsextremen: Kritik an der Moderne,  der Globalisierung, der Wissenschaft. Eine Sehnsucht nach Natur und Ursprünglichkeit, nach einer einfachen Welt, die man überschauen kann. Im Idealfall lebt man als Selbstversorger am Bauernhof in einer Kommune, wo man sich untereinander liebt und Gemeinschaft lebt.“

Esoteriker sind besonders empfänglich für die Narrative von Verschwörungstheoretikern, weiß die Autoritarismusforschung. Denn beide Gruppen teilen sich drei Grundüberzeugungen: „Nichts passiert durch Zufall“, „Nichts ist, wie es scheint“ und „Alles ist miteinander verbunden“. Wer so denkt, kann nicht glauben, dass Virenstämme einfach so entstehen – und noch weniger, dass Pharmaunternehmen Impfungen dagegen entwickeln. Viel eher vermuten sie dahinter einen großen Plan, eine Verschwörung.

Viele Esoteriker und Energetiker hätten „grundgute Absichten“, meint Schiesser. Doch ihre Thesen waren ein idealer Nährboden für die Corona-Protestbewegung. Die Szene war bereits lange vor dem Ausbruch von SARS-CoV-2 groß. 22.900 Energetiker (davon 19.000 Humanenergetiker) gibt es Österreich laut Wirtschaftskammer, Tendenz steigend. Schiesser: „Viele haben lange vor Corona Seminare besucht, wo ein esoterisches Gedankengut vermittelt wird. Viele haben auch schon vorher ihre Kinder nicht geimpft.“

Pseudowissenschaftliche Ansätze sind verbreiteter, als man denkt. Selbst die Präsidentin der Apothekerkammer verkaufte noch im Sommer „quantenphysikalisch informierte Salzlösungen“ zur Linderung von Impfnebenwirkungen. Ein Kassenarzt aus Oberösterreich schreibt auf seiner Website, dass er „zahlreiche Anfragen wegen Beratungen zum Ausleiten der Covid-19 Impfung per E-Mail“ erhalte und hält fest, dass er homöopathische Leistungen keinesfalls kostenfrei anbiete.

Einen Pauschalverdacht gegen die Energetiker-Branche will der Fachverband der persönlichen Dienstleister in der Wirtschaftskammer nicht stehen lassen. Fachverbandsobmann Michael Stingeder, selbst praktizierender Humanenergetiker, hält fest: „Wir setzen seit 2015 zahlreiche Initiativen für eine seriöse und professionelle Berufsausübung, damit schwarze Schafe – die es in jeder Branche gibt – immer weniger werden. Medizinische Ratschläge oder Empfehlungen für oder gegen die Impfung sollten für einen Energetiker tabu sein.“ Die Sanktionsmöglichkeiten seien in dem freien Gewerbe „zugegebenermaßen beschränkt“, beteuert Stingeder. Bei groben Verfehlungen oder falschen Heilsversprechen könne aber in letzter Konsequenz die Gewerbeberechtigung entzogen werden. Das komme „des Öfteren“ vor, wenn auch „nicht in Hunderten Fällen“.

Die oberösterreichische Anti-Impf-Aktivistin und Energetikerin M. hat ihre Gewerbeberechtigung noch – und ruft bereits zur nächsten Demo auf: „Das, was gerade über uns hereinbricht, hat eine entsetzlich grausame und unmenschliche Energie. Und damit meine ich nicht das Corona-Ding“, schreibt sie auf Facebook.

Jakob   Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.