Fatma Akay-Türker war von 2018 bis 2020 Frauensprecherin der Islamischen Glaubensgemeinschaft, IGGÖ.
Ex-IGGÖ-Frauensprecherin: „Im Koran steht nichts von einem Kopftuchgebot“
Frau Akay-Türker, eigentlich wollten Sie sich gar nicht zum Thema Kopftuchverbot äußern. Warum nun doch?
Fatma Akay-Türker
Wir leben im 21. Jahrhundert, mitten in Europa – nicht in einem muslimischen Land. Und ich finde: Es reicht! Frauen dürfen nicht länger als Projektionsfläche für religiöse oder politische Machtkämpfe dienen. Wir dürfen religiöse Fragen neu und kritisch denken.
Was bedeutet das nun konkret für das geplante Kopftuchverbot?
Akay-Türker
Ein zehn- oder zwölfjähriges Mädchen trifft die Entscheidung, ein Kopftuch zu tragen, nie wirklich selbst und nicht bewusst – egal wie sehr es das beteuert. Die Mädchen wiederholen, was ihnen gesagt oder vorgelebt wird. Ich finde, Kinder sollen Kinder bleiben dürfen. Von muslimischer Seite wird das Kopftuch oft als Schutz dargestellt. In Wahrheit aber ist es eine große Verantwortung und Last für ein Kind. In der Pubertät bedeutet es meist auch die Erwartung, sich „anständig“ zu verhalten. Damit wird ein Mädchen sehr früh in eine Erwachsenenrolle gedrängt. Ich verstehe Eltern, die ihre Töchter schützen wollen – aber Sicherheit entsteht nicht durch äußere Zeichen, sondern durch Bildung, Selbstvertrauen und eine Gesellschaft, die Kinder nicht über ihre Kleidung definiert.
Eine syrische Mutter meinte gegenüber profil: „Meine Tochter ist 14, sie trägt Kopftuch. In diesem Land dürfen Teenager Sex haben – wer sexualisiert hier wen?“ Können Sie diesen Einwand verstehen?
Akay-Türker
Ja, das kann ich. Ich verstehe, dass Eltern aus muslimischen Ländern sich Sorgen machen und ihre Kinder schützen wollen. Sie kommen aus Kontexten, in denen Sicherheit oft mit Kontrolle gleichgesetzt wird. Aber das Kopftuch ist keine Lösung. Es ist kein Schutzschild. Ein Tuch auf dem Kopf kann keine moralische oder physische Sicherheit garantieren. Wenn wir wollen, dass Mädchen stark und selbstbewusst werden, müssen wir sie begleiten, nicht einhüllen.
Sie selbst haben ebenfalls Kopftuch getragen.
Akay-Türker
Ich habe das Kopftuch etwa drei Monate vor meinem 18. Geburtstag aufgesetzt, in den 1990er-Jahren, als der politische Islam in der Türkei stark an Einfluss gewann und auch hier in Europa viele junge Menschen prägte. Damals habe ich schon in Wien gelebt. Niemand hat mich direkt gezwungen, es zu tragen, weder meine Familie noch die Gesellschaft, aber im Nachhinein habe ich verstanden, dass meine Entscheidung für das Kopftuch auch von einer Theologie der Angst getragen wurde.
Wie passt ein Kopftuchgesetz in eine pluralistische Gesellschaft?
Akay-Türker
Gar nicht. Ich wurde im Frühjahr vom Bundeskanzleramt eingeladen. Eine Sektionschefin wollte wissen, wie ich zum geplanten Kopftuchverbot stehe. Ich habe gesagt: „Alle Verbote bewirken nur Gegenwind.“ Ich kenne viele, die gerade wegen des Kopftuchverbots eines getragen haben. Verbote funktionieren nicht. Erfahrungsgemäß erzeugen solche Maßnahmen oft genau das Gegenteil von dem, was beabsichtigt ist. Statt patriarchale Strukturen zu verändern, lastet die Debatte auf den Mädchen selbst – und es ist zu erwarten, dass viele aus Protest, aus Trotz oder aus dem Gefühl, sich verteidigen zu müssen, erst recht das Kopftuch tragen werden. Ein Verbot kann keine Überzeugung ersetzen; Veränderung gelingt nur über Aufklärung und Bildung.
Wie kam es zu dieser Erkenntnis?
Akay-Türker
Von 2018 bis 2020 war ich Frauensprecherin der Islamischen Glaubensgemeinschaft, der IGGÖ, und die einzige Frau im Obersten Rat. Gleichzeitig habe ich als islamische Religionslehrerin gearbeitet. Früher habe ich das traditionelle Wissen, das ich selbst erhalten hatte, einfach weitergegeben. Im Unterricht fragten mich meine Schülerinnen, ob die Frauen ein Kopftuch tragen müssen – „Natürlich“, habe ich geantwortet. Gleichzeitig wollten sie wissen, warum Männer nicht ebenfalls Kopftuch tragen müssen; warum für sie keine Kleidungsvorschriften gelten. Diese Fragen haben mich tief bewegt. Eines der Hauptargumente der Verfechter des Kopftuchs ist, dass es gläubige Frauen schützt, auch vor den Blicken fremder Männer. So mag es vielleicht zu Zeiten des Propheten gewesen sein. Doch gilt das auch im 21. Jahrhundert und für Frauen, die in Europa, in mehrheitlich christlichen Ländern, Kopftuch tragen? Ich finde, das Kopftuch exponiert Musliminnen; es bewirkt das genaue Gegenteil von dem, was als Hauptargument für das Kopftuch vorgebracht wird. Heute, in Europa, ist es leider umgekehrt: Kopftuchtragende Frauen werden zur Zielscheibe von Anfeindungen. Der Koran lässt aber einen Spielraum. Diese Erkenntnis ist Resultat jahrelanger Beschäftigung und Recherche. Sieben Jahre lang habe ich 50 verschiedene Übersetzungen des Koran studiert. Ich wollte verstehen, was wirklich im Koran steht. Zum Beispiel: In der 24. Sure, Vers 31, ist die Rede von „Bedeckung“, vielfach wird es schlicht mit dem Wort „Kopftuch“ übersetzt. Aber schon im Vers davor, 24:30, steht geschrieben: „Sag den gläubigen Männern, sie sollen ihre Blicke senken und ihre Keuschheit bewahren.“ Das war mein Aha-Moment: Der Koran empfiehlt zuerst den Männern, sich zu beherrschen, und es gibt keine Verpflichtung für die Frauen, sich zu verbergen. Diese Sichtweise ist das genaue Gegenteil von dem, was uns beigebracht wurde und was ich lange Zeit selbst weitergegeben habe.
Heute sprechen Sie von einer patriarchalen Auslegung des Koran.
Akay-Türker
Ja, das ist es. Im Laufe der Jahrhunderte wurde eine Empfehlung, die tatsächlich im Koran zu finden ist, zu einem Gebot stilisiert, das so nicht existiert. So hat sich eine Angsttheologie entwickelt, die Gehorsam und Kontrolle über das Bewusstsein stellt. In dieser Vorstellung schmoren Frauen jahrelang in der Hölle für jede Strähne, die sie offen zeigen und Ähnliches. Im Koran jedoch ist keine Rede von Konsequenzen für das Nichttragen des Kopftuchs. Im Koran steht nichts von einem Kopftuchgebot. Stattdessen geht es um Würde, Verantwortung, Frieden und Gerechtigkeit – Werte, die universell und zeitlos sind.
Sie selbst haben das Kopftuch vor drei Jahren abgelegt. Wie kann man sich diesen Schritt vorstellen?
Akay-Türker
Ich habe verstanden, dass vieles, was als Pflicht dargestellt wird, kulturell und gesellschaftlich geprägt ist und mit dem Koran nichts zu tun hat. Ich habe mich Schritt für Schritt von meiner Angst befreit, nicht vom Glauben. Dieser Prozess hat viele Jahre gedauert. 28 Jahre lang habe ich das Kopftuch getragen. Bis zu dem Moment, als ich verstanden habe: Glauben heißt nicht gehorchen, sondern verstehen.
Was ist mit Frauen und jungen Mädchen, die stolz darauf sind, ihr Kopftuch zu tragen, die es als Teil ihrer Identität betrachten? Wie beispielsweise jene 13-jährige Wiener Schülerin, mit der profil vergangene Woche gesprochen hat. Nicht das Kopftuch empfindet sie als Bevormundung, sondern das Kopftuchverbot. Sie argumentierte mit Wahlfreiheit und meinte: „Wenn ich gezwungen werde, das Kopftuch abzunehmen, ist es genauso schlimm, wie wenn mich jemand zwingen würde, es aufzusetzen.“ Ist ihre Position weniger feministisch als Ihre?
Akay-Türker
Ich verstehe diese Mädchen sehr gut, ich selbst habe mein Kopftuch viele Jahre lang mit Stolz getragen und war überzeugt, dass es ein Gebot Gottes ist. Erst später habe ich erkannt, dass dieser Stolz oft nicht aus echter Freiheit, sondern aus gesellschaftlichen und religiösen Erwartungen entsteht. Die Freiheit, das zu erkennen und sich selbst zu entscheiden, sollte den Frauen überlassen werden. In patriarchalen Strukturen wird Frömmigkeit bei Frauen fast ausschließlich über ihr äußeres Erscheinungsbild definiert. Dabei ist das Verhältnis der Geschlechter im Koran eindeutig geregelt: Alle Gebote und Verbote gelten für Frauen und Männer gleichermaßen.
Was stört Sie an der politischen Debatte über das Kopftuch am meisten?
Akay-Türker
Dass es nicht um Frauen oder Mädchen geht. Das Thema wurde zuerst von islamistischer Seite instrumentalisiert und jetzt von der Politik. Beide Seiten benutzen Frauen, um ihre eigenen Agenden zu bedienen. Es geht nur um Populismus. Über Frauen wird Politik gemacht, statt mit ihnen zu reden. Das stört mich zutiefst.
Vor zwei Jahren haben Sie den Verein Muslimische Frauengesellschaft in Österreich, MFGÖ, gegründet. Mit welchem Ziel?
Akay-Türker
Wir wollten einen Raum schaffen, in dem Frauen und Mädchen offen über Fragen sprechen können, die sie sonst niemandem stellen. Ich bekomme viele Nachrichten wie: „Ist das haram? Darf ich das?“, meistens von jungen Frauen, die in der bestehenden Struktur keine Antworten finden. Ich mache das alles ehrenamtlich, meist über Social Media. Letztes Jahr habe ich beim Bundeskanzleramt für die Amif-Förderung angesucht, das ist der Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds, eine Finanzierung der Europäischen Union. Ich wollte in Schulen gehen, Kinder und Jugendliche aufklären, bilden. Die Förderung wurde abgelehnt. Dabei wäre genau das der Schlüssel zur Integration: zuhören, erklären, aufklären.
Und Ihr nächster Schritt? Wollen Sie offiziell Imamin werden?
Akay-Türker
Nein. Ich sage oft: In unserer Gemeinschaft, vor allem in Wien, ist man noch nicht bereit für eine weibliche Imamin. Viele Männer und Imame tun sich noch schwer damit, Frauen als eigenständige Individuen zu sehen – geschweige denn als eigenständige religiöse Persönlichkeiten. Deshalb engagiere ich mich dort, wo Frauen und Jugendliche Fragen stellen und nach Antworten suchen – im Dialog, nicht auf der Kanzel.
Zur Person
Geboren 1975 in Kappadokien, Türkei, lebt Fatma Akay-Türker (49) seit 1989 in Wien und ist vierfache Mutter. Sie studierte Turkologie und Orientalistik an der Universität Wien, promovierte in der Türkei in Geschichte und unterrichtete bis 2020 Islamische Religion an AHS-Schulen. Nach ihrem Rücktritt aus der Islamischen Glaubensgemeinschaft arbeitet sie als DaF/DaZ- und Türkischlehrerin.