Strategien der Täuschung, Manipulation und Lüge sind gewissermaßen ein Kulturgut des Abendlands.

„Ist es nützlich für das Volk, betrogen zu werden?“

Von Platon bis Sebastian Kurz – die Kunst der politischen Lüge und Täuschung zieht ihre Spur durch die Geschichte; angeblich immer zum Wohl der Bürger. Jetzt ist ein neues, moralisches Zeitalter angebrochen.

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Selbst Friedrich der Große, König von Preußen, ein Intellektueller, der Voltaire zu seinen Freunden zählte und seine Staatskunst in der Schrift „Antimachiavelli“ verewigte, zweifelte bisweilen am Segen der Aufklärung. Sind seine Untertanen nicht zu sehr auf den Betschemel fixiert, gar im Aberglauben gefesselt? 1780 wendet er sich an seine königlich-preußische Akademie. Ein Wettbewerb solle stattfinden. Der König will wissen, „ob es nützlich sein kann, das Volk zu hintergehen?“ Unter den Gelehrten kommt keine Freude auf. Man ahnt den Herrscherwunsch. Nach langem Hin und Her einigt man sich auf eine neue Fragestellung: „Ist es nützlich für das Volk, betrogen zu werden?“ 44 Essays wurden eingesandt und erstmals zwei Preisträger auserkoren: ein Pro- Redner und ein Contra-Redner. 

Eine salomonische Entscheidung. Denn der Zwiespalt, ob dem Volk die Wahrheit zumutbar ist oder es eher mit Halbwahrheiten und Lügen manipuliert werden soll, beschäftigt uns seit Menschengedenken.

Lügen in der Politik spiegeln auch heute die Erfahrungen des Staatsbürgers: gebrochene Wahlversprechen, halbwahre Ankündigungen, geheime Nebenabsprachen und Postenbesetzungslisten. Wer glaubt, dass Politiker eine für sie ungünstige Wahrheit freiwillig preisgeben, wird als Naivling verlacht. Doch da ändert sich gerade etwas. Wir treten nicht nur in ein heroisches Zeitalter ein, wie der Politologe Ivan Krastev mit Blick auf den Krieg in der Ukraine feststellte, sondern auch in ein moralisches. Jedenfalls in den Demokratien des Westens. Und das kann jeden treffen.

Es kommt der Regierung zu, der Feinde und Bürger wegen zu lügen.
 

 Platon 

Philosoph

Der Fall des ungarischen Premiers Ferenc Gyurcsány kam auf leisen Sohlen und detonierte mit lautem Knall.  Im Herbst 2006 wurde der Originalmitschnitt eines parteiinternen Auftritts von Gyurcsány einer Radiostation zugespielt. Bald war seine erregte Stimme auf allen Kanälen zu hören: „Wir haben es verschissen. (…) Offensichtlich haben wir die letzten eineinhalb, zwei Jahre hindurch gelogen. Was wir sagten, war nicht wahr. (...) Ich wollte der Linken den Glauben zurückgeben, dass sie es schaffen, dass man in diesem Hurenland nicht den Kopf senken muss, dass man sich vor Viktor Orbán und vor der Rechten nicht anscheißen muss.“ Die derbe, mit ordinären Schimpfwörtern gespickte Rede, in der Gyurcsány seinen Leuten klarmachte, dass es so nicht weitergehen dürfe, war sein politisches Ende. 

Massen gingen gegen die „Lügenregierung“ auf die Straße, darunter rechtsextreme Krawallmacher und Hooligans. Die Polizei schlug brutal zurück. Bei den darauffolgenden Wahlen errang Orbán die absolute Mehrheit. 

Der Mentalitätswandel wird offenbar. Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) spricht öffentlich von seinen Zweifeln, Irrungen und Fehlern und wird dafür geliebt. 

Ein Vorschlag, wie der des Europarechtsexperten Peter Hilpold, in Zukunft in Koalitionsabkommen Geheimabsprachen für Postenvergaben zu verbieten, wäre vor einigen Jahren undenkbar gewesen. Sideletter sind in Österreich seit Jahrzehnten üblich und sind meist erst durch historische Recherche in den Nachlässen von Politikern an das Licht der Öffentlichkeit gekommen.
Ob die neue Moral, die noch nicht Gesetz ist, länger als einen Frühling hält?

Strategien der Täuschung und die Kunst der politischen Lüge werden seit 2000 Jahren gepflogen,  gehören gewissermaßen zum Kulturgut der Menschheit. 

Lügen zum Nutzen des Gemeinwohls, Lügen in Zeiten des Krieges, Lügen zur Durchsetzung unpopulärer Maßnahmen. Der griechische Philosoph Platon sagt in der „Politeia“, dem Grundlagentext der abendländischen Ideengeschichte, über einen gerechten, idealen  Staat: „Wenn also irgendjemandem, so kommt es der Regierung des Gemeinwesens zu, der Feinde und Bürger wegen zu lügen, die anderen alle aber dürfen sich nicht damit befassen.“ Die „edle“ Lüge ward geboren. Aber nicht für jeden. Lügen war ein Distinktionsmerkmal. Die Männer, die in  Platons Staat lügen durften, ja mussten, gehörten durch Geburt einer Elite an, die eine etwa 40-jährige Ausbildung in Philosophie, Rhetorik, Astronomie, Harmonielehre, Dialektik und gymnastischer Erziehung zu durchlaufen  hatten.  Hatten sie alle Auswahlrunden in Kriegskunst und weiser Führung bestanden, wurden sie in den Kreis der Regenten aufgenommen (die anderen blieben in der Elitenschicht der Wächter hängen). Sie waren Philosophenkönige mit absoluter Macht, von denen man erwartete, nicht nur nach Erfahrung, Meinung und Wissen zu entscheiden, sondern den Dingen auf den Grund zu gehen. Sie verkörperten Vernunft und Weisheit bar jedes persönlichen und materiellen Interesses. 

Ihre Regentschaft bestand darin, die Klasse der Arbeitenden – Handwerker, Händler und Bauern – , die „nicht wissen, sondern nur meinen“, zu hoher Leistung zu führen. Lügen und Mythen hielten das gesellschaftliche Gefüge zusammen. Etwa: dass ein Aufstieg theoretisch möglich sei, aber nur wenige bei der Schöpfung aus wertvollerem Material geschaffen wurden. Einige Lügen-Konventionen kennen wir heute noch: Eltern belügen ihre Kinder, der Arzt den Patienten, und eben: die Regierung die Regierten. 

Der „edle“ Lügner musste freilich die Wahrheit kennen, sonst war er kein echter Lügner. Die Fähigkeit, zu lügen, bewies intellektuelle Qualitäten. Wer immer nur seine Wahrheit predigte, an die er selbst glaubte, galt als ein trauriger Tropf. Auch diese Seite der Lüge hat sich in der Kulturgeschichte der Menschheit erhalten: das Spiel mit der Möglichkeit, dass es auch immer anders sein könnte, als es aussieht. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann vermutete bei einem Symposion zur „Lüge in der Politik“ (2004), dass sich die Menschen nicht so sehr über die Lüge, sondern über schlechte, durchschaubare Lügen ärgerten. „Wir werden vielleicht weniger durch die Tatsache erschüttert, dass wir belogen werden, sondern von dem Moment, in dem wir aufhören, die Lügen zu glauben.“

Lügen scheint zum Handwerk nicht nur des Demagogen, sondern auch des Staatsmanns zu gehören.

Hannah Arendt (1906–1975)

Philosophin und Publizistin

Die platonsche Lügenphilosophie findet in totalitären Regimen naturgemäß großen Widerhall, doch aus Dummheit. Jegliche Ideologie macht die Kunst der Lüge nichtig. Ein Ideologe kann eigentlich nicht lügen, da er von seiner Wahrheit felsenfest überzeugt ist. 

Die jüdisch-christliche Tradition, jünger als die Antike, verfährt mit dem irrenden – unfreiwilligen – Lügner anders als Platon. Der Irrende bleibt ohne Schuld, den bewussten Lügner, der anderen damit schade, erwartet die Höllenstrafe, so das achte der zehn Gebote. Aber die Lüge verstoße auch gegen die Harmonie von Handlung und Gesinnung, schädige das Gemeinschaftsleben,  mache weder eine funktionierende Rechtsprechung noch Verträge möglich, warnte der römische Kirchenlehrer Augustinus ein halbes Jahrtausend nach Platon. Doch das Schlimmste an einer Lüge sei die Pflichtverletzung gegen sich selbst.  

Unter Kirchenlehrern des Mittelalters wurden Lügen weiter aufgefächert, lebensnäher gestaltet: Man unterschied Schadenslügen, Scherzlügen und Dienstlügen. 

Frühe Aufklärer wie Hugo Grotius sprachen Dienstlügner von Schuld frei.  Denn von Lüge könne man nur sprechen, wenn der Adressat der Lüge berechtigt sei, eine wahre Antwort zu erhalten. Untertanen hatten das Recht in der Regel nicht. 

In Österreich gilt diese Devise bis zum heutigen Tag. Dienstlügen werden aktuell durch das österreichische Amtsgeheimnis am Leben erhalten. 

Der deutsche Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant, sprach sich rigoros für ein generelles Verbot der Lüge aus. Er akzeptierte auch keine Notlügen und Augenblicksbeurteilungen.  Das führe nur dazu, dass „kein Treu und Glauben mehr herrscht, sodass sich niemand mehr wahrhaftig äußere.“ Wenn jeder potenziell nicht nur Lügner, sondern auch Belogener ist, sei das gesellschaftliche Leben am Ende.

Schon damals wurden pragmatische Argumente ins Treffen geführt: Lügen  seien mühsam, intellektuell aufwendig. Eine Lüge ziehe die nächste nach sich. „Lügen fliegen, die Wahrheit hinkt hinterher“, so der Schriftsteller Jonathan Swift.

An der Praxis der politischen Lüge änderte das alles nichts. Sie geistert durch die Jahrhunderte.  Mit dem Fürstenspiegel von Niccolo Machiavelli in der Hand (verfasst 1513), einem genauen Beobachter von Herrschaftsmechanismen, sind Generationen von Politikern groß geworden. Viele nehmen als Programm, was als nüchterne Beschreibung der Verhältnisse gedacht war. 

Machiavelli ging davon aus, dass der Mensch böse sei, sobald er die Gelegenheit dazu habe. Nur durch den Staat könne die Schlechtigkeit des Menschen mit Furcht vor Strafe gebändigt werden. So sei die Lüge ein legitimes Mittel der Politik, wenn es dem Bestand des Staates diene. „Ein Fürst, der Großes vorhat, muss betrügen lernen und sich gleichzeitig den Anschein der Tugend geben“, ist mittlerweile zum geflügelten Wort geworden, den historischen Zusammenhängen vollkommen entkleidet. 

Manches aus dem „Machiavelli“ erinnert an die Chats des Kreises um Sebastian Kurz. Es ist dieselbe Geisteshaltung. Der Ton, in dem sie das tun, wie sie reden über Ältere, Frauen, Kirchenleute und Konkurrenten, ist voll Verachtung. Als hätten sie sich als Elite gefühlt, der bald die ganze Welt gehört. 

Nach Platons Verständnis ist Kurz, der wegen mutmaßlich falscher Zeugenaussage im Untersuchungsausschuss als Beschuldigter geführt wird, kein Lügner. Auch Augustinus würde ihn in Schutz nehmen, denn: „Ohne Absicht keine Lüge.“ 

In der „ZiB  2“ bei Armin Wolf  (12.5.2021) hatte Kurz mehrmals betont: „Alle Aussagen, die ich im Untersuchungsausschuss getätigt habe, sind wahr. Ich bin auch mit dem Vorsatz hingegangen, wahrheitsgemäß zu antworten.“ Nur bei ihm, so seine Klage, reite man auf jedem Wort herum, um daraus eine angebliche Falschaussage zu destillieren. Aus dem semantischen Unterschied zwischen involviert und informiert wolle man ihm einen Strick drehen. Er sei eingebunden gewesen in die Bestellung von Thomas Schmid, man habe darüber gesprochen, aber er habe sie nicht entschieden.  

Auch jener Mitschnitt seines Telefonats mit Schmid, der in diesen Tagen viral ging, auf dem die beleidigt klingende, hohe Jungenstimme des Ex-Kanzlers zu hören ist, erzählt uns: Er habe von nichts etwas gewusst: „Sag, bei dem, was die uns strafrechtlich vorwerfen – kannst du dir das irgendwie erklären? Ich kann seither überhaupt nimmer schlafen, weil ich schon an mir selbst zweifle, und das Gefühl hab – ob ich irgendwas vergessen hab? Aber ich hab dir doch nie einen Auftrag gegeben? Wir haben doch nicht einmal über Inserate oder so was g’redt. Oder? Ich hab dir doch nie gesagt, du sollst der Beinschab irgendeinen Auftrag geben. Oder? (…) Oder hab ich schon alles vergessen.“

Ob nun das Audio-File für Kurz im gerichtlichen Verfahren ein Rohrkrepierer sein wird oder gnädiges Indiz seiner Ahnungslosigkeit, wird dereinst ein Richter oder eine Richterin beurteilen. Platon würde ihn wohl freisprechen, aber verachten.

Was Kurz und seine Leute derzeit erleben, diese Entwicklung moderner Demokratien hin zu Image-Pflege und Show, hat die scharfsinnige Philosophin Hannah Arendt schon Anfang der 1970er-Jahre prognostiziert. 

„Lügen scheint zum Handwerk nicht nur der Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören. Ein bemerkenswerter und beunruhigender Tatbestand. Was bedeutet es für das Wesen und die Würde des politischen Bereichs einerseits, was für das Wesen und die Würde von Wahrheit und Wahrhaftigkeit andererseits?“, so beginnt ihre Studie „Wahrheit und Politik“ aus dem Jahr 1967. Doch kurze Zeit später fand sie ein noch beunruhigenderes  Phänomen. Anlass war die Veröffentlichung der geheimen „Pentagon Papers“ 1971.

Ein Whistleblower aus dem innersten Kreis, der selbst beteiligt war an der Aufarbeitung der Frage, warum der Vietnam-Krieg der US-Regierung derart entgleist war, hatte sie heimlich kopiert und der „New York Times“ übergeben. Arendt war mehr als entsetzt. Sie erkannte, dass das amerikanische Desaster in und um den Vietnamkrieg nur deshalb ein Jahrzehnt lang andauerte, weil keiner einen Fehler eingestehen wollte. Die jeweilige US-Regierung fürchtete den Imageverlust. Nicht die gefallenen amerikanischen Soldaten, chemische Kampfstoffe gegen die Zivilbevölkerung, Kriegstrauma und Lügen als Kriegsvorwand waren das Problem, sondern Amerikas Ansehen. Arendt sah eine Zeitenwende darin, dass es nicht mehr um Politik ging, sondern Reklame- und Marketing-Techniken politische Entscheidungen bestimmten. Aber das war erst der Anfang. 

Gemessen an Marketing-Tools, Imagepflege und Ansehen der Politik haben Kurz und Co. ohne Zweifel versagt. Aber auch in einem möglicherweise herandräuenden neuen, moralischen Zeitalter haben sie keinen Platz. 

Christa   Zöchling

Christa Zöchling