Erstaufnahmezentrum für Ukrainer am Schlossberg
© Nina Brnada
Erstaufnahmezentrum für Ukrainer am Schlossberg
Die letzten Tage der Wiener Ukrainehilfe
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Dass die Gemeinde Wien einst in der Schlossberggasse 8 in Hietzing ein Jugendgasthaus betrieben hat, davon zeugen heute lediglich Umrisse herabgefallener Lettern an der Außenmauer. Dass heute in dem Neubaukasten das letzte verbliebene Erstaufnahmezentrum für ukrainische Flüchtlinge in Österreich untergebracht ist, davon zeugt nur ein A4-Zettel, der an der Glasscheibe der Eingangstür klebt: „Ukraine Hilfe. Help for Ukraine“. Frauen in Crocs huschen über das zubetonierte Gelände, im Gebäude selbst sind Journalistinnen und Journalisten derzeit nicht erwünscht. Ab 2026 soll hier nichts mehr daran erinnern, dass auf dem Hügel nahe der U-Bahn-Station Hütteldorf seit 2023 Tausende Menschen aus der Ukraine erstversorgt wurden.
Noch immer tobt der Krieg in der Ukraine, und noch immer verzeichnet Österreich monatlich 1500 neuankommende ukrainische Vertriebene – doch diese Menschen können nach der Schließung des Erstankunftszentrums am Wiener Schlossberg im kommenden Jahr nirgends mehr hingehen. Wenn sie mit ihren Kindern, Koffern und Haustieren aus den Bussen und Zügen in Wien aussteigen, stehen sie im tiefsten Winter auf der Straße.
Wien dampft seine Ukrainehilfe substanziell ein. Die Bundeshauptstadt schließt nicht nur das Erstankunftszentrum, sie kürzt auch bei anderen Maßnahmen der Ukrainehilfe. Die Stadt fühlt sich in der Ukrainehilfe komplett im Stich gelassen und zieht nun die Reißleine, auch Sozialstadtrat Peter Hacker (SPÖ) vor zwei Wochen in seinem Rathausbüro beim profil-Interview. Bei Hackers direkter Art vermochte man zuweilen nicht zu sagen, ob er bluffte oder ernst machen wolle, als er sagte: „Der Innenminister ist zuständig.“
Tatsächlich trägt Wien die Hauptlast der Ukrainehilfe. Zudem werden jene Flüchtlinge, die neu in Wien ankommen, schleppend oder gar nicht von anderen Bundesländern übernommen, wo es, bis auf eine kleine Einrichtung in Linz, keine derartigen Zentren gibt. Außerdem leben in Wien die allermeisten der knapp 89.000 registrierten ukrainischen Flüchtlinge; Wien schultert den Großteil der Wohn-, Arbeitsmarkt- und Bildungsintegration. Und Wien findet, es hat genug getan. Jetzt seien die anderen dran. Allen voran das Innenministerium.
Am 31. Oktober schickte der Fonds Soziales Wien einen Brief an das Ministerium unter Gerhard Karner (ÖVP), in dem er „nachdrücklich um die umgehende Nennung konkreter Schritte und Maßnahmen des Bundes, um die kontinuierliche Erstversorgung von Ukraine-Vertriebenen auch über die Schließung des Ankunftszentrums hinaus sicherzustellen“ ersuchte – profil berichtete. Vor zwei Wochen spielte Peter Hacker den Ball erneut an das Innenministerium weiter. Auf die Frage, ob er es darauf ankommen lassen wolle, dass ukrainische Familien auf der Straße sitzen, antwortete er lapidar: „Der Innenminister ist zuständig.“
Bisher jedenfalls kam keine Antwort vom Innenministerium – zumindest keine, die Wien zufriedengestellt hätte. Der Bund will Wien weiterhin nicht unterstützen: Es sei nicht dessen Aufgabe, sondern jene der Länder, Erstaufnahmezentren zu organisieren: „Ob es im jeweiligen Bundesland eine Ankunftsstelle braucht, kann jedes Bundesland für sich entscheiden“, heißt es aus dem Innenressort. Eine Anfrage von profil für ein Doppelinterview Karner-Hacker zur Verteilungsfrage der Vertriebenen lehnte das Innenministerium ab. Bemerkenswerterweise gibt es auch keine Stellungnahme von Andreas Babler, immerhin viele Jahre Bürgermeister von Traiskirchen, SPÖ-Vorsitzender und Vizekanzler. Sein Büro verweist auf das Innenministerium. Es ist eine Pattsituation. Wer wird sich zuerst bewegen? Der Bund oder Wien?
Nicht wenige Beobachter glauben, dass sich die Stadt und Stadtrat Hacker in dieser Sache verdribbelt haben. Sollten tatsächlich ukrainische Mütter und Kinder in Wien auf der Straße stranden, wäre es ein Eigentor für Wien: aus ideologischen Gründen und weil die Wiener Sozialdemokratie sich auf die Fahnen geschrieben hat, derart vulnerable Gruppen nicht auf diese Weise hängen zu lassen. Dazu wären diese Menschen zwangsläufig auf den Straßen der Bundeshauptstadt – und somit automatisch Angelegenheit der Wiener.
Ein wenig zumindest scheint Hacker zurückzurudern. Zwar heißt es aus seinem Büro weiterhin: „Es braucht Bewegung von Seiten des Bundes, denn Wien kann nicht die Probleme der Republik allein schultern.“ Gleichzeitig lässt man einen Hauch von Gnade walten: „Sollte es notwendig sein, wird es im Fall eine Notlösung geben.“ Was das konkret bedeutet, ist noch völlig offen; ob ukrainische Familien im Fall von der Obdachlosenhilfe aufgefangen werden, ebenso wenig.
Andreas Achrainer sitzt in seinem Büro in der Wiener Leopold-Moses-Gasse 2, dort laufen sämtliche Informationen zu den Ukrainevertriebenen in Österreich zusammen. Achrainer ist Ukraine-Flüchtlingskoordinator, Jurist, ein korrekter Vorarlberger, der sich selbst als „Praktiker“ bezeichnet und dieser Tage so etwas wie Hackers Lieblingskontrahent ist. Denn auch Achrainer hatte die Schließung des Wiener Erstaufnahmezentrums kritisiert und die Verantwortung Wiens eingemahnt, woraufhin Hacker Achrainer im Interview mit profil dazu aufforderte, gefälligst seinen Job zu machen.
Denn Achrainer ist nicht nur Ukraine-Flüchtlingskoordinator, sondern zugleich auch Chef der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU), die sich im Auftrag des Innenministeriums um das Asylwesen kümmert – das geht von der Rechtsberatung bis zur Unterbringung, auch in Quartieren wie etwa dem Asyl-Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen. Kürzlich hatte der Wiener Fonds Soziales Wien die dortige Adresse in einem Info-Blatt als eine jener Stellen angeführt, wo künftig Ukrainer aufgenommen werden sollten – etwas, was in all den Jahren niemals Usus war, weil sich seit Anbeginn des Krieges die Bundesländer um die Erstversorgung gekümmert hatten. Wäre Achrainer nicht ein derart korrekter Zeitgenosse, würde er Hackers Kritik vielleicht damit quittieren, dass Hacker den falschen Baum anbellt. Stattdessen sagt Achrainer, Hackers Kritik sei falsch adressiert, die anderen Länder sind am Zug. „Politiker bin ich keiner.“ Achrainer kann nichts entscheiden.
Den Frust der Wiener versteht er allemal, sagt er. Dennoch seien die Länder für die Erstaufnahmezentren zuständig, und somit auch Wien. „Dass Wien vieles trägt und sich die anderen Bundesländer aus der Verantwortung ziehen, das kritisiere auch ich.“ Ebenso, dass derart viele Erstankunftszentren im gesamten Land zugesperrt haben. Die Schließungen in den Bundesländern begannen, nachdem viele ukrainische Roma und Sinti in Österreich angekommen waren. Jene, die in Wien landeten, wurden vielfach aber auch nicht von den Bundesländern übernommen – „und das, obwohl es freie Plätze gibt, das wissen wir“, sagt Achrainer. Ist das abwiegelnde Vorgehen der anderen Bundesländer auf rassistische Motive zurückzuführen? Achrainer: „Das Urteil bleibt Ihnen überlassen.“
Der Flüchtlingskoordinator sagt, er sei guter Dinge, dass sich am Ende doch noch eine „österreichische Lösung“ finden lassen wird. Er schlägt beispielsweise Hotlines vor, bei denen sich die Ukrainer melden könnten, um möglichst frühzeitig in die Grundversorgung zu kommen; ebenso die kurzfristige Unterbringung ukrainischer Flüchtlinge in Notschlafstellen der Obdachlosenhilfe. Ob die Stadt da mitgeht, weiß er nicht. „Es wäre jedenfalls mein Appell.“
Nach den jüngsten Wiener Sparmaßnahmen ist aber nicht nur unklar, was mit Ukrainern passieren wird, die neu ankommen, sondern auch mit jenen, die schon länger da sind. Etwa mit Olesya Spirina. Sie ist alleine aus der Ostukraine geflüchtet, sie hat hier niemanden, sie ist 81 Jahre alt. In einem Mischmasch aus Russisch, Deutsch und Englisch spricht die Geologin am liebsten über die Bodenbeschaffenheit des Donbass, erst kürzlich war sie bei einer Fachtagung in Südkorea. Sie hat nicht nur wenig Geld (250 Euro im Monat), sie hat auch wenig Gesellschaft.
Deshalb ist sie an nahezu jedem Öffnungstag hier in der Wiener Pfeiffergasse 2 im ukrainischen Community-Center. Es wird von der Freiwilligenorganisation Train of Hope betrieben, einer NGO die im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 entstanden war, 2022 das allererste Erstaufnahmezentrum für die Ukrainer in einer Sporthalle in Wien-Leopoldstadt mit Freiwilligen organisierte und nun dieses Community-Center in einer einstigen EDV-Firma betreut. Seit Jahren ist dieser Ort ein Hub für die Ukrainer, täglich kommen bis zu 400 Menschen hierher, täglich werden bis zu 350 kostenlose Mahlzeiten ausgegeben, 2024 gab es 155 Kurse von Deutsch über Nähen bis Yoga – alles am Laufen gehalten von 155 Freiwilligen (zwei Drittel davon Ukrainer) und drei Vollzeitstellen. Die Stadt zahlte bisher 60 Prozent der Kosten, der Rest kam aus Spenden.
Das Community-Center stehe vor einer ungewissen Zukunft, sagt Nina Andresen von Train of Hope. Es sei „akut“ vom Zusperren bedroht, denn die Stadt hat eine weitere Finanzierung für 2026 ausgeschlossen. Wohin sollen Menschen wie Olesya Spirina in Zukunft gehen?
„Train of Hope und sein Team spielen eine wichtige Rolle dabei, dass Ukrainerinnen und Ukrainer, die in Österreich ankommen, erste Unterstützung erhalten, sich sicher fühlen und sich leichter eingewöhnen können“, heißt es von der ukrainischen Botschaft. Nun will die Botschaft gemeinsam mit dem Innenministerium mögliche Wege zur Fortführung prüfen, „mit dem Ziel, die unerwünschten Folgen dieser Entscheidung so weit wie möglich zu minimieren“. Vom Innenministerium heißt es dazu: „Die Prüfung ist im Laufen.“
Nina Brnada
ist Redakteurin im Österreich-Ressort. Davor Falter Wochenzeitung.