Spitzendiplomat warnt: „Taliban dürfen Wien nicht haben“
Vor einer Woche besuchten Vertreter des radikal-islamistischen Taliban-Regimes das Innenministerium. Sie prüften die Identität von 30 Männern, die für die Abschiebung nach Kabul vorgesehen sind. Sowohl Innenministerium als auch Außenministerium betonen, dass die Kontakte keine Anerkennung der de-facto-Regierung in Kabul darstellen würden. Es handle sich um Gespräche auf Beamten-Ebene, um Abschiebungen zu ermöglichen.
„Auch wenn die rein technische Ebene der Gespräche betont wird, handelt es sich um eine Art indirekte Anerkennung. Weil alle Welt sieht, dass die Taliban nicht mehr isoliert sind“, sagt Wolfgang Petritsch dazu. Der Spitzendiplomat, dessen Karriere als Sekretär des SPÖ-Bundeskanzlers Bruno Kreisky begann, war zeit seines Lebens auch in der Friedensvermittlung tätig – vom Kosovo bis nach Bosnien-Herzegowina.
2022 startete er mit Mitstreitern den „Wiener Prozess“ für ein demokratisches Afghanistan. Mehrfach trafen Exil-Afghanen, Oppositionelle, Vertreter von Minderheiten und Frauenaktivistinnen zusammen – zuletzt im Februar. Wien ist auch deswegen ein besonderer Ort für Exil-Afghanen, weil hier die weltweit letzte weibliche Botschafterin aus Afghanistan sitzt. Manizha Bakhtari wurde von den Taliban zwar abgesetzt, führte ihr Amt aber weiter.
Welche Rolle Wien für Afghanistan spielt
Die Taliban verfolgen den „Wiener Prozess“ mit Argusaugen, er ist für sie ein rotes Tuch. Sie fordern ein Ende der Wiener Treffen afghanischer Oppositioneller, die Absetzung Bakhtaris oder wollen zumindest ihr eigenes Personal ins Wiener Konsulat entsenden. Im deutschen Konsulat sind bereits zwei ihrer Vertreter akkreditiert.
Bei allem Verständnis für den politischen Druck, afghanische Straftäter abzuschieben, warnt Petritsch davor, auf die Forderungen der Taliban einzugehen und ihnen das Konsulat oder gar die Botschaft zu öffnen: „Die Taliban dürfen Wien nicht haben.“ Als einer der vier Hauptsitze der Vereinten Nationen und Begegnungsort für Exil-Afghanen komme der Stadt eine besondere Rolle für das Land zu.
Beim „Wiener Prozess“ gehe es darum, dass die Taliban das Doha-Abkommen aus dem Jahr 2020 einhalten, erinnert Petritsch. Es regelte den Abzug der amerikanischen Truppen und verpflichtete die Taliban unter anderem dazu, einen Dialog zwischen den verschiedenen Volksgruppen zu starten, unter Einschluss von Exil-Afghanen und Flüchtlingen.
„Wenn man die Taliban nun de facto anerkennt, um mehr Afghanen abschieben zu können, brauchen sie keinen Dialog mehr zu suchen. Und sie können weiterhin alle Frauen – also die Hälfte der Bevölkerung – vom öffentlichen Leben ausschließen“, sagt Petritsch, der sich derzeit mit EU-Politikern über Afghanistan austauscht.