Streitgespräch

„Tritt aus der Kirche aus!“ – „Du bist anmaßend!“

profil-Redakteurin Franziska Tschinderle ruft seit Jahren öffentlich dazu auf, die Kirche zu verlassen. Redakteur Clemens Neuhold fühlt sich davon provoziert. Hier tragen sie ihren Kirchenstreit aus.

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Clemens Neuhold
Pünktlich zu Ostern rufst du wieder einmal zum Austritt aus der katholischen Kirche auf. Ich finde dich anmaßend. Was kümmert dich die persönliche Glaubenspraxis anderer Menschen?
Franziska Tschinderle
Daran stört mich überhaupt nichts. Mein Problem ist diese veraltete, undemokratische und Missbrauch vertuschende Institution. Dagegen braucht es eine Revolution von unten. Deswegen sage ich jeder und jedem: Tritt aus. Damit sich die Kirche erneuert. Ich bin fast ein bisschen beleidigt, dass aufgeklärte Leute wie du weiterhin dabei sind.
Clemens
Du beklagst, die Kirche sei veraltet. Wohin soll sie sich entwickeln, zu einem woken Yoga-Club? Es geht in der Religion um die Ewigkeit, nicht den Zeitgeist.
Franziska
Es ging der Kirche immer schon um ihren Machterhalt. Warum gibt es den Zölibat? Damit der materielle Reichtum im Besitz der Kirche bleibt und nicht vererbt wird. Bis heute leitet man aus einem Buch, der Bibel, etwas ab, das jahrtausendealt ist, und überträgt das auf die aktuelle Lebensweise. Wenn die Entstehungsgeschichte der Welt bis hin zur unbefleckten Empfängnis Marias nicht veraltet ist, was dann? Wie kannst du das ernst nehmen?
Clemens
Das sind für mich Geschichten, die im historischen Kontext zu lesen sind; Metaphern für die grundlegenden Fragen des Menschseins, die in anderen Religionen ganz ähnlich thematisiert werden. Der Katholizismus ist eines von vielen Wahrheitsangeboten, das ich – nebst anderen  – nicht missen möchte. Ich bin diese Sorte Kulturchrist, der alle heiligen Zeiten in die Kirche geht, die Hälfte des Kirchenbeitrags der Caritas widmet und es begrüßt, wenn mit der anderen Hälfte die Fassade meiner heimatlichen Dorfkirche erneuert wird. Ich will die Kirche weiterhin im Dorf lassen, du offenbar nicht.
Franziska
Kulturchristen wie dich kritisiere ich sogar noch mehr. Sie bleiben Mitglied, damit die Schwiegermama zufrieden ist und sie vor dem Altar heiraten können. Sie schweigen aber zu allem, was die Kirche in der Vergangenheit angerichtet hat. Da sind mir jene Menschen lieber, die den Rosenkranz herunterbeten. Die glauben wenigstens daran, was da vorn gepredigt wird.
Clemens
Man glaubt entweder ganz oder gar nicht? Ich bewundere deinen Absolutismus. Mir gefällt es, hie und da in der Kirchenbank mit Menschen aus allen Schichten zu sitzen, die je nach Glaubensgrad Lieder laut oder leise singen. Die Gebete murmeln, die seit Jahrtausenden wiederholt werden. Das hat eine viel stärkere, verbindende Kraft als ein Chakra-Wochenende. Wann hast du das letzte Mal Weihrauch im Sonnenstrahl, der durch das bunte Kirchenfenster dringt, gesehen und gerochen?
Franziska
Aus meiner Sicht romantisierst du die Kirche zu sehr.
Clemens
Wenn ich sie romantisiere, dann verteufelst du sie. Vor allem in Österreich, wo sie am Rande der Bedeutungslosigkeit ist.
Franziska
Ich verbinde überhaupt nichts Positives, geschweige denn Magisches mit der Kirche. Die Kirche war historisch immer ein Bremser für Aufklärung, Gleichstellung, Wissenschaft und Demokratie. Siehe die Kreuzzüge, die Hexenverbrennungen, den Ablasshandel. Die Kirchenpaläste wurden durch die Angst der Menschen vor dem Fegefeuer finanziert. Lange vor den Nazis, im Mittelalter, gingen viele Verschwörungstheorien gegen Juden von der Kirche aus. Erst 2020 wurden die Geheimarchive im Vatikan geöffnet – also viel zu spät. Die Dokumente zeigen: Der damalige Papst hat zum Holocaust geschwiegen. Und das, obwohl Jesus selbst Jude war.
Clemens
Natürlich können wir uns jetzt vorstellen, dass die Geschichte ohne Kirche viel gerechter, unblutiger und humaner verlaufen wäre. Ich reduziere die Kirche aber nicht auf ihre dunkle Vergangenheit, oder auf Missbrauch. Ich denke auch an den Halt und Trost, den alte oder sterbende Menschen in ihr finden. Oder die Caritas, die auf christlicher Nächstenliebe aufbaut und deswegen nicht so einfach durch staatliche Hilfsprogramme ersetzbar ist. Dass du mir übrigens wenig subtil unterstellst, ich würde widerliche Missbrauchsfälle gutheißen, weil ich in die Kirche gehe, ist die nächste Anmaßung. Justiz, Polizei müssen hart gegen Missbrauch vorgehen. Mein Adressat ist der säkulare Staat. Das Entscheidende ist ja, dass die Kirche ihre politische Machtfülle dank der demokratischen Entwicklung verloren hat.
Franziska
Und von dir ist es zynisch, mir zu unterstellen, ich wolle die Dorfkirche abschaffen. Schau doch lieber an die Spitze der Hierarchie. Der Vatikanstaat in Rom ist die letzte absolutistische Monarchie in Europa. Mit eigenen Münzen, Banken und Gesetzen. Aber ohne Gewaltenteilung. Im 21. Jahrhundert absurd. Laien wie du haben bei der Wahl von Päpsten oder Kardinälen nichts mitzureden. Dein Kirchenbeitrag fließt nicht nur in die Erneuerung deiner Dorfkirche, sondern auch in deren Prunk.
Clemens
Die Kirche ist weder das Hochamt der Demokratie noch eine Partei, die man wählt. Diese Ansprüche stelle ich an den Staat, aber nicht die Kirche. Muss ich erst den Vatikan stürzen, um weiter ohne Gewissensbisse in die Kirche zu gehen?
Franziska
Du kannst sehr wohl eine Wahl treffen, nämlich auszutreten, so wie das 91.000 Menschen allein im letzten Jahr getan haben. Ich ging dafür noch aufs Gemeindeamt und bekam dann einen Brief, auf dem man seine Gründe für den Austritt auflisten konnte. Ich hätte zehn Seiten schreiben können, aber der Zettel war zu klein dafür.
Clemens
Deine Freude darüber, dass in Zeiten der gesellschaftlichen Polarisierung und Fragmentierung ein weiteres verbindendes Element flöten geht, kann ich nicht teilen. Deine Austrittsappelle wären bis in die 1980er-Jahre noch passend gewesen, aber mittlerweile sind sie retro. Du rufst jetzt also auch den Caritas-Präsidenten Landau dazu auf, auszutreten?
Franziska
Ja, warum nicht?  Wer sagt denn, dass man nicht aus Protest austritt und irgendwann, wenn die Kirche glaubwürdig ist und wenn die Kirche ihre Missbrauchsskandale ernsthaft aufgearbeitet hat, wieder eintritt? Ich bin die Erste, die als Pensionistin wieder dabei ist, wenn es eine bessere Kirche gibt, die Frauen und Männer gleichbehandelt und die keine eigenartige Sexualmoral mehr an den Tag legt. Ich rede von einer Kirche, die Frauen nicht mehr vorschreibt, ob sie abzutreiben haben, oder Männern, ob sie Kondome verwenden. Wer sagt denn, dass ich nicht eines Tages wieder eintrete?
Clemens
In dir schlummert also ein Glaubenskern?
Franziska
Also derzeit nicht.
Clemens
Warum solltest du dann wieder eintreten?
Franziska
Weil ich die trostspendende Wirkung der Kirche, die du erwähnt hast, tatsächlich als etwas sehr Schönes empfinde. Deswegen finde ich ja auch, dass man Glauben und Institution voneinander trennen sollte. Derzeit ist es für mich so: Die Institution Kirche hat mir den Glauben verdorben.
Clemens
Du betonst immer wieder, dass sich die Kirche zu langsam verändert. Aber wir haben mittlerweile Kardinäle wie Reinhard Marx aus Köln, der homosexuelle Paare segnen will. Außerdem gibt es Konzile, wo immer wieder Veränderungen möglich sind. Der Papst stellt den Zölibat infrage. Das zeigt doch, wie wendig der Katholizismus im Vergleich zu anderen Religionen ist.
Franziska
Für mich ist die katholische Kirche nicht wendig, sondern ein tonnenschwerer Kahn, der auf den Ozean hinaustuckert und von dem immer mehr Mitglieder mit Rettungsreifen herunterspringen.
Clemens
Und du jubelst vom Ufer aus.
Franziska
Ja, weil ich mich mit ihnen verbunden fühle. Die Menschen flüchten, weil die Kirche nichts mehr mit ihrer Lebensrealität zu tun hat. Weil die Moralvorstellungen keinen Sinn ergeben. Die Priester leben im Zölibat, haben dann aber heimlich Frauen und Kinder und manche Priester wohl auch heimlich Männer. Als Frau hat man in der Kirche prinzipiell weniger zu melden, und als Geschiedene lebt man in einem permanenten Zustand der Sünde. Als lesbische Frau wird man sogar in seiner Existenz infrage gestellt. Ich habe keine Lust, dass mir irgendwelche unverheirateten Kleriker etwas über Fortpflanzung und Familiengründung erzählen. Allein wegen ihrer mangelnden Erfahrung.
Clemens
Du willst offenbar, dass die Kirche so wendig ist wie eine grüne Partei, die immer neue Buchstaben hinter LGBTQ diskutiert. All das sind Fortentwicklungen der Gesellschaft. Aber diesen Anspruch kann man nicht an die Kirche stellen. Die Kirche ist kein Staat mit Verfassung und Wahlen, sondern eine Gemeinschaft von Gläubigen, bei der Menschen in Österreich freiwillig dabei sind oder eben nicht. Und diese Glaubensfreiheit ist ein demokratisches Recht. Deine Austrittsappelle sind so gesehen ein bisschen undemokratisch, ja dogmatisch.
Franziska
Ich bin dogmatisch? Es ist umgekehrt. Die Kirchengeschichte ist voller religiöser Dogmen, die sich wissenschaftlich nicht erklären lassen und die man trotzdem hinnimmt.
Clemens
Reden wir nicht nur über die katholische Kirche. Im Islam sind Frauen mit Kopftuch in der Moschee durch eigene Eingänge und Gebetszonen von den Männern getrennt. Imame sind Männer. Es kam international auch schon zu Missbrauchsfällen. Vom religiös legitimierten Horror, den Frauen und Homosexuelle gerade in Afghanistan oder im Iran erleben, ganz zu schweigen. Warum forderst du die bald 800.000 Muslime in Österreich nicht auf, deswegen auszutreten?
Franziska
Deine Kritik am Frauenbild im Islam teile ich natürlich. Aus dem Islam kann man nicht austreten. Muslimische Freunde von mir hätten gerne die Chance dazu. Und ich finde, sie sollten sie haben.
Clemens
Die orthodoxe Kirche stellt sich in Russland ganz offen hinter Putin. Da könnte ich jetzt nach deiner Logik sagen: Jeder, der da noch dabei ist, duldet den Angriffskrieg auf die Ukraine.
Franziska
Putins Russland ist eine Diktatur. Also sind wir froh, dass wir in einem Land leben, wo man die Kirche ganz offen infrage stellen kann. Aber auch mit dem Christentum wird aktiv Politik gemacht. Schau doch mal in die USA, wo das Recht auf Abtreibung an der Kippe steht oder nach Polen, wo die katholische Kirche wie in keinem anderen Staat in Europa Politik betreibt.
Clemens
Ich finde den starken Einfluss der Evangelikalen in den USA furchtbar. Aber dann fällt mir wieder meine Kirche in Wien ein, wo der nigerianische Pfarrer von lauter Frauen umgeben ist. Von Ministrantinnen und weiblichen Chormitgliedern. Die Frauen schupfen den Laden.
Franziska
Den Messwein holen und für den Pfarrer kochen dürfen sie. Priesterinnen werden dürfen sie nicht. Sehr feministisch!
Clemens
Ein Punkt für die protestantische Kirche mit ihren Priesterinnen. Aber auch in meiner Kirche wirken die Frauen selbstbewusster, als du es darstellst.
Franziska
Wir sollten endlich ein Tabu ansprechen. Kann es sein, dass die Kirche eine gewisse Anziehungskraft für pädophile Straftäter ausübt? Weil man dort jahrelang unentdeckt bleibt?
Clemens
Ich schließe es nicht aus.
Franziska
Und wo siehst du diese Debatte? Beim Fall Florian Teichtmeister (der Schauspieler ist wegen des Besitzes von Kinderpornografie angeklagt, Anm.) diskutiert ganz Österreich wochenlang über die Verantwortung des Burgtheaters. Der ORF nimmt ihn aus dem Programm. Die katholische Kirche tat das Gegenteil: Sie hat den Missbrauch zu vertuschen versucht und in manchen Fällen Sexualstraftäter sogar weiter in der Seelsorge eingesetzt.
Clemens
Über die Groër-Affäre hat ganz Österreich diskutiert. profil hat 1995 aufgedeckt, wie der damalige Wiener Erzbischof Kinder missbrauchte.
Franziska
Dann bleib doch dabei. Aber dann geh nicht nur ein Mal im Jahr in die Kirche …
Clemens
… ich geh öfter …
Franziska
…und schalte während der Predigt nicht ab. Hör genau zu, was da gesagt wird. Und wenn du nicht einverstanden bist, dann geh zum Priester und sag es ihm. Du hast recht: Die Kirche ist keine Partei, aber sie sollte ein demokratisches Forum sein. Und wenn du dabeibleibst, dann versuch sie doch von innen zu verändern. Und ich versuch es von außen.
Clemens
Amen und frohe Ostern.

Fotos: Alexandra Unger

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.