Junge sitzt einsam in Klassenzimmer
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Volksschule: Fast jedes fünfte Kind braucht mehr als vier Jahre

Österreich gehört zu den Ländern, in denen besonders viele Kinder die Volksschule wiederholen. Vor allem Kinder, die zu Hause nicht Deutsch sprechen. Doch die Sinnhaftigkeit des Sitzenbleibens ist umstritten.

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Eigentlich dauert die Volksschule in Österreich vier Jahre. Eigentlich, denn tatsächlich schaffen das nur vier Fünftel aller Kinder in dieser Zeit. Der Rest erfährt im Laufe der Volksschule eine sogenannte  „Laufbahnverzögerung”, wie das im Nationalen Bildungsbericht genannt wird. Das heißt, entweder sie besuchen noch eine Vorschule, wie das  9,5 Prozent machen. Oder sie müssen eine Stufe wiederholen – was wiederum 9,3 Prozent aller Kinder trifft. 

Für die Wiederholung einer Klasse kann es unterschiedliche Gründe geben.  Aber „dass die Kinder wegen der Noten wiederholen, ist die Ausnahme“, erzählt Adi Solly, Direktor der Wiener Volksschule in der Julius-Meinl-Gasse in Wien-Ottakring, aus der Praxis. Meist liege es an den fehlenden Deutschkenntnissen. Die Zahlen aus dem Nationalen Bildungsbericht 2024 geben Solly recht: Nur 55 Prozent der Kinder, die im Alltag nicht Deutsch sprechen, schaffen es innerhalb von vier Jahren durch die Volksschule. Bei den Kindern mit Alltagssprache Deutsch sind es 82 Prozent.

Dass die Kinder wegen der Noten wiederholen, ist die Ausnahme.

Adi Solly, Direktor in Wien-Ottakring

Beim Wiederholen von Klassen gibt es unterschiedliche Regeln für sogenannte ordentliche und außerordentliche Schülerinnen und Schüler. Ordentliche Schüler können nach der ersten Klasse auf jeden Fall aufsteigen, danach ist ein klassisches „Sitzenbleiben” wegen schlechter Noten möglich. Außerdem gibt es noch für alle Kinder die Möglichkeit, „freiwillig” zu wiederholen. Anders ist das bei den außerordentlichen Schülerinnen und Schülern. Diesen Status bekommen Kinder, wenn sie einen standardisierten Deutschtest nicht schaffen. Wer den machen muss, entscheidet die Schulleitung. Wenn diese Kinder dann in eine Deutschförderklasse kommen, dürfen sie in der Regel nur in die nächste Schulstufe, wenn sie den Test beim nächsten Mal bestehen. Sonst müssen sie wiederholen. Solange sie einen außerordentlichen Status haben, können sie auch nicht in die AHS-Unterstufe oder Mittelschule aufsteigen. 

Drei erste Klassen, aber nur mehr zwei zweite

In der Schule von Solly in Ottakring zeigt sich der Unterschied besonders deutlich. Denn ab dem heurigen Schuljahr wurden dort zwei Schulen zusammengeführt, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Bisher teilten sie sich nur den Schulhof, jetzt gehören sie zusammen. In die eine Schule gehen vor allem Kinder mit Erstsprache Deutsch. Hier gibt es auch kaum Kinder, die wiederholen, erzählt der Direktor. In der anderen Schule zeigt sich ein ganz anderes Bild: Es gibt viele Kinder mit anderer Erstsprache und viele Kinder, die wiederholen. 

Das führt zu logistischen Herausforderungen. Wenn sich beispielsweise aus drei ersten Klassen nur zwei zweite Klassen ergeben. Das erzählt nicht nur Solly, sondern auch die Direktorin einer anderen Wiener Volksschule, die anonym bleiben möchte: „Die dritte, vierte Klasse ist dann schon sehr ausgedünnt.” Die Situation habe sich etwas verbessert, seit der Familiennachzug gestoppt wurde, denn „jetzt fallen die Quereinsteiger weg”. Das waren häufig Kinder, die ohne Vorkenntnisse in höhere Klassen eingestiegen sind. Die Bildungswissenschafterin Susanne Schwab beschreibt ein weiteres Problem: „In diesem Alter ist es dramatisch, die Klassenkollegen zu verlieren.” Kinder, die wiederholen, werden aus dem Klassenverband gerissen und verlieren den Bezug zu einer wichtigen Vertrauensperson: ihrer Lehrkaft. Neueste Studien der Bildungsexpertin zeigen: Gerade für Kinder im Volksschulalter sind Änderungen und Übergänge schwierig.

Susanne Schwab ist Bildungsforscherin an der Universität Wien.
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Bildungsexpertin Susanne Schwab

Außerdem: Wenn Kinder verzögert durch die Volksschule kommen, sind sie dann ja auch älter als ihre Klassenkolleginnen und -kollegen. Und das macht in diesem Alter einen großen Unterschied. Wer beispielsweise die Deutsch-Prüfung nicht schafft, ist schon einmal ein Jahr hinten nach. Wenn die nächste Schulstufe dann ebenfalls wiederholt werden muss, kann es sein, dass in der vierten Volksschule bereits Zwölfjährige sitzen, schildert die Direktorin. Auch das Konfliktpotenzial steigt: „Es gibt Situationen, wo die Jüngeren bedroht werden”, erzählt sie. 

Beim Personal entstehe eine Art Ohnmacht. Denn von Unterricht könne man nicht sprechen, wenn die Kinder gar nicht folgen können. Außerdem brauchen viele Kinder Betreuung, die über den klassischen Schulstoff hinausgeht: „Wir müssen den Kindern zeigen, wie sie einen Stift halten, mit der Schere umgehen oder ihre Schultasche packen.”

Österreich ist ein Land der Sitzenbleiber

Auf Anfrage konnte aus den Bundesländern nur die Bildungsdirektion Vorarlberg konkrete Zahlen zu Wiederholenden in den Volksschulen liefern. Sie bestätigen das Bild: 0,8 Prozent der Kinder mit Deutsch als Erstsprache wiederholen eine Schulstufe in der Volksschule. Mit einer anderen Erstsprache sind es mehr als doppelt so viele, nämlich 2,2 Prozent.  In Wien werde die Sprache nicht erhoben, heißt es aus der Bildungsdirektion. Aber 57 Prozent aller, die im Schuljahr 2024/25 eine Pflichtschule wiederholten hatten außerordentlichen Status. Aus der Steiermark gibt es zwar ebenfalls keine konkreten Zahlen, aber die Tendenz aus dem Nationalen Bildungsbericht sei auch hier erkennbar.

Österreich sticht auch im internationalen Vergleich negativ hervor. Das zeigt der OECD-Bericht Bildung auf einen Blick aus dem vergangenem Jahr. Den 3,4 Prozent an Volksschul-Sitzenbleibern in Österreich stehen im OECD-Schnitt gerade einmal 1,5 Prozent gegenüber. Diese 3,4 Prozent beschreiben die Jahresquote, also wie viele Kinder tatsächlich in diesem Jahr wiederholen mussten. Der Nationale Bildungsbericht bezieht sich auf die gesamte Volksschulzeit, deswegen ist die Zahl höher.

Österreich gehört außerdem zu den wenigen Ländern, in denen mehr Kinder in der Volksschule sitzen bleiben als in der Unterstufe und Mittelschule (2,7 Prozent).  Das liegt eben an den Regeln für außerordentliche Schülerinnen und Schüler und deren beträchtlicher Anzahl, heißt es aus dem Bildungsministerium.

Generell wiederholen hierzulande mehr Schülerinnen und Schüler, als im internationalen Vergleich. Laut OECD-Bericht ist es fraglich, wie sinnvoll das Wiederholen von Schulstufen in der Volksschule und Unterstufe überhaupt ist. Kinder und Jugendliche, die eine Klassenstufe wiederholen, schneiden in ihrer weiteren Karriere schulisch schlechter ab, haben eine negative Einstellung zur Schule und brechen häufiger ab, zitiert die OECD diverse Studien.

Bildungsexpertin Schwab bestätigt das. Sie hält Wiederholen generell nicht für den richtigen Ansatz: „Wenn das Kind es einmal nicht geschafft hat, wieso sollte es die Klasse schaffen, wenn es noch einmal das gleiche macht.” Klassenwiederholungen würden nicht zu Fortschritt führen, sondern zu Demotivation. „Das erste, das ich einem Kind vermittle, ist: Du bist nicht gut genug.”

Bildungsdirektion wollen lieber auf Förderung setzen

Das Wiederholen von Klassen kann in Einzelfällen sinnvoll sein, aber wichtiger ist, die Kinder früh genug zu unterstützen, damit das gar nicht notwendig wird, lautet der Tenor aus den Bildungsdirektionen und aus dem Bildungsministerium. Die Wiener Bildungsdirektorin Elisabeth Fuchs fasst das so zusammen: „Ich halte das Sitzenbleiben für eine sinnvolle Möglichkeit, um Lernlücken zu schließen und den Schülerinnen und Schülern die Chance zu geben, sich auf ihrem Lernweg zu stabilisieren. Gleichzeitig ist es wichtig, alternative Modelle der Förderung in Betracht zu ziehen, die stärker auf individuelle Unterstützung und Flexibilität setzen.” Dafür brauche es aber selbstverständlich auch die nötigen Ressourcen. 

Die Bundesländer setzen auf verschiedene Förderpakete. Im Burgenland gibt es etwa seit vergangenen Schuljahr vom Land finanzierte Nachhilfe sowie zahlreiche andere Maßnahmen, die dazu geführt hätten, dass sich die Leistungen der Schülerinnen und Schüler verbessern.

Wir produzieren systematisch Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss.

Susanne Schwab, Bildungsexpertin

Das Wiederholen der Schulstufen in den Volksschulen bringt aber noch ein anderes Problem: Manche Kinder schaffen innerhalb von neun Jahren keinen Pflichtschulabschluss. Sie haben beispielsweise in der zweiten Stufe der Mittelschule ihre neun Schuljahre erledigt und hören danach auf. Damit bleibt ihnen eine höhere Ausbildung verwehrt. „Wie sollen wir die dann am Arbeitsmarkt vermitteln? Mir tun die Kinder leid”, sagt die Wiener Direktorin.  Das sieht Schwab genauso: „Wir produzieren systematisch Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss. Und reproduzieren Ungleichheiten.”