Doskozil, Nehammer, Rendi-Wagner, Kickl, Mikl-Leitner

Wahlkampf! Österreichs Politlandschaft im Umbruch

Die ÖVP biegt scharf nach rechts ab und koaliert in Niederösterreich mit der FPÖ. Die SPÖ verliert im Führungsstreit zwischen Pamela Rendi-Wagner und Hans Peter Doskozil die Orientierung.

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Wie soll das fünf Jahre lang halten? Am Freitag präsentierten Niederösterreichs ÖVP-Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner und FPÖ-Landesparteiobmann Udo Landbauer im Ostarrichisaal des Landhauses in St. Pölten ihr gemeinsames Regierungsprogramm. Mikl-Leitner wirkte übernächtig, schwer angeschlagen, mehr noch, nachgerade konfus und sprach zu Beginn offen über „die Streitereien“ mit der FPÖ und ihr schwieriges Verhältnis zu Landbauer. Dass sie gewissermaßen zu einem Bündnis mit der FPÖ gezwungen wurde, sei die Schuld der SPÖ, die aus den Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP „eine Zirkusshow“ gemacht habe. Udo Landbauer stand ungerührt daneben. Es sei „keine Liebesheirat“, meinte er. Bei der konstituierenden Sitzung des Landtags am 23. März werden seine FPÖ-Mandatare ungültig abstimmen, um so Mikl-Leitners Wahl zu ermöglichen. Im Gegenzug werden wohl auch nicht alle ÖVP-Abgeordneten aktiv für Landbauer stimmen. Stabilität und konstruktive Partnerschaft sieht anders aus.

Schwarz-Blau in Niederösterreich erinnert an den Tabubruch der ÖVP-FPÖ-Bundesregierung im Februar 2000 – und macht plötzlich auch ein Bündnis zwischen Karl Nehammer und Herbert Kickl vorstellbar. Der umstrittene Pakt von St. Pölten überschattet sogar den Führungsstreit in der SPÖ zwischen Pamela Rendi-Wagner und Hans Peter Doskozil – und könnte diesen mitentscheiden. Denn bei der Mitgliederbefragung wird auch die Frage eine Rolle spielen, welcher SPÖ-Spitzenkandidat bei der kommenden Nationalratswahl Herbert Kickl eher Paroli bieten kann. Gewählt wird regulär im Herbst 2024, doch der Wahlkampf hat schon begonnen.

Nach dem Abschluss des Koalitionspakts mit der FPÖ zog ein Sturm der Entrüstung über die ÖVP. „Wer auf die Idee kommt, mit Klimaleugnern, Wissenschaftsverweigerern, Kunstfeinden und Hetzern einen Pakt einzugehen, der hat die Liebe zum Land verloren“, sagte die grüne Landesparteichefin Helga Krismer. In der Landesregierung werden die Freiheitlichen unter anderem die Bereiche Asyl und Integration, Verkehr, Sport sowie Arbeitsmarkt verantworten.

Wenn rassistische Aussagen aus der FPÖ die ÖVP in Niederösterreich nicht von einer Koalition abhalten – warum sollten sie es im Bund tun?

Bei der Landtagswahl am 29. Jänner hatte die ÖVP knapp zehn Prozentpunkte und die absolute Mandatsmehrheit eingebüßt. An den Machtverlust muss sich die jahrzehntelang omnipotente Partei erst gewöhnen. Nach sechswöchigen Koalitionsgesprächen mit der SPÖ wurden die Verhandlungen abgebrochen. Am Ende war es wohl nur ein Punkt, bei dem Schwarz und Rot keinen Kompromiss fanden: die Ausweitung eines Langzeitarbeitslosen-Projekts. Die SPÖ kürte es zur Fahnenfrage, die ÖVP hielt es für unfinanzierbar. Nun werfen sie sich gegenseitig vor, es von Anfang an auf ein Scheitern angelegt zu haben.

Mikl-Leitner, Landbauer

Die schwarz-blaue Koalition in Niederösterreich hat auch Signalcharakter für den Bund. Wenn die verfeindeten Mikl-Leitner und Landbauer ihre politischen und persönlichen Differenzen überwinden können, sollte dies auch für Karl Nehammer und Herbert Kickl möglich sein. Und wenn rassistische Aussagen aus FPÖ-Reihen die ÖVP in Niederösterreich nicht von einer Koalition abhalten – warum sollten sie es dann im Bund tun?
Der Wirbel um Schwarz-Blau in St. Pölten verschaffte der SPÖ eine kurze Aufmerksamkeits- und Verschnaufpause. Die Tage zuvor hatte das rote Drama auf offener Bühne für Entsetzen in SPÖ-Reihen und Erstaunen beim breiten Publikum gesorgt. Zumindest herrscht nun Klarheit in der Sozialdemokratie: In einer Mitgliederbefragung sollen die 140.000 Genossinnen und Genossen darüber entscheiden, ob Pamela Rendi-Wagner oder Hans Peter Doskozil die Partei führen soll.

Rote Machtkämpfe

Am Mittwoch tagte zunächst das Präsidium, das auch dem Wut-Abbau diente. Die Zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures leitete die Sitzung in den SPÖ-Klubräumlichkeiten im Parlament. Eineinhalb Stunden lang sprachen die Anwesenden über das, was in den vergangenen Jahren passierte, und es war nichts Gutes. Rendi-Wagner zählte 70 Angriffe aus dem Burgenland auf, Doskozil erinnerte sich an Verletzungen aus Wien – und ein Taferl, das ihm beim Parteitag 2018 in Tirol entgegengehalten wurde: „Rot-blaue Sau“ stand darauf.

Dann gab Doskozil seine ersten beiden Wahlversprechen: Sollte er Spitzenkandidat der SPÖ werden, würde er sein Amt als Landeshauptmann im Intensivwahlkampf zurücklegen. Und sollte er in Regierungsverantwortung kommen, wäre er für eine Koalition mit Grünen und NEOS – und gegen eine Zusammenarbeit mit Herbert Kickls FPÖ. Doskozil, der Ampel-Mann. So will sein Team Vorwürfe entkräften, Doskozils betreibe rechte Politik.
Nach der Deklaration des Landeshauptmanns wurde eineinhalb Stunden über die Zukunft diskutiert, und man war sich erstaunlich einig: Alle Parteimitglieder, nicht nur ein Sonderparteitag, sollen darüber entscheiden, wer die SPÖ anführen soll.

Der Vorstand war dann für die Bilder und den Beschluss da: Das zweite Gremium tagte einen Stock tiefer, Frauenchefin Eva-Maria Holzleitner moderierte, Rendi-Wagner und Doskozil sollten danach nebeneinander an den Kameras vorbeigehen. Zumindest jetzt sollte etwas Gemeinsamkeit simuliert werden.

Der Konflikt war jahrelang ein lästiger und treuer Begleiter – und eskalierte dennoch abrupt. Beide Seiten schienen von der Entscheidung zum Showdown überrumpelt und sind erst dabei, sich zu sortieren. Wer nach fixen Plänen und klaren Vorgaben fragt, hört vor allem Unverbindliches: Doskozil kündigt ein breites Team an. Wer dazugehört, ist nicht restlos geklärt.  Ex-Bundesgeschäftsführer Max Lercher ist im Dosko-Team. Auch den Gewerkschafter Roman Hebenstreit haben viele auf dem Zettel. SPÖ-Umweltsprecherin Julia Herr ist offenbar nicht dabei. Als frühere Vorsitzende der Sozialistischen Jugend wäre sie ein wichtiges Testimonial.

Kommende Woche werden die ersten organisatorischen Dinge geklärt, das Präsidium kommt dafür wieder zusammen. Fad sind diese Formalitäten nicht. Die Frage, wer die Wahlkommission leiten soll, ist hochpolitisch. Das Doskozil-Team präferiert Peter Kaiser aus Kärnten oder Michael Lindner aus Oberösterreich als Schiedsrichter. Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch traut man es nicht zu. Er ist   –  erstens – eindeutig Team Rendi-Wagner und war – zweitens – für die Mitgliederbefragung im Jahr 2020 verantwortlich. Noch immer deuten einige Genossen verschwörerisch an, dort sei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen.

Der Riss in der SPÖ verläuft quer durch alle Bundesländer, ja sogar durchs rote Klubbüro und die Parteizentrale. Einer, der schon für mehrere Parteichefs gearbeitet hat, sagt: „Entweder wir stellen Hans Peter Doskozil auf oder wir werden wieder eine schwarz-blaue Regierung kriegen – im Worst Case mit Kickl als Kanzler.“

Die Sozialdemokraten in Wien dagegen fürchten, dass Doskozil mehr liberale Wähler verschreckt, als er von ÖVP und FPÖ gewinnt. Zum Beweis wird eine Umfrage verschickt. Darin wurden die Chancen von Rendi-Wagner und Doskozil bei einer Nationalratswahl in Wien verglichen, jenem Bundesland, in dem die SPÖ 2019 die meisten Stimmen holte. Wäre Doskozil Spitzenkandidat, könnte die SPÖ nur 56 Prozent ihrer Wiener Wähler halten. Zehn Prozent würden zu den NEOS abwandern, weitere acht Prozent zu den Grünen. Der Rest würde ins Lager der Nichtwähler wechseln. Doskozil hingegen könnte von der FPÖ unter den Wiener Wählern sechs Prozent auf seine Seite ziehen, von den ÖVP-Wählern vier. Ergibt in Summe ein schwächeres rotes Gesamtergebnis für Doskozil in der Bundeshauptstadt.

Doskozil kultiviert sein Macher-Image, es kümmert ihn nicht, wem er damit in die Parade fährt. „Ich warte nicht auf die Gewerkschaft“, lautet ein typisches Zitat. „Zwei von meinen vier Magengeschwüren gehen auf dein Konto, Hans Peter.“ Derart direkt geißelte Gewerkschafts-Urgestein Rainer Wimmer im SPÖ-Vorstand die Illoyalität seines Parteifreunds Doskozil. Ein Paradebeispiel, wie verschlungen die Konfliktlinien derzeit in der SPÖ verlaufen.

Denn Wimmer ist das Gegenteil eines städtischen Bobos, urbaner Schick oder geschliffene Rhetorik sind ihm fremd. Die Kernkompetenzen des bodenständigen Manns aus dem Salzkammergut sind Basisnähe im breiten Dialekt, als gelernter Elektriker und Bergmann steht der Langzeit-Abgeordnete für den klassischen Arbeiterflügel in der SPÖ. Vom Auftreten und Papierform her würde er eigentlich ins Doskozil-Camp passen. Steht aber, wie viele in der Gewerkschaft, zentralen Doskozil-Themen überaus skeptisch gegenüber: Verhandlungen über Kollektivverträge und Lohnerhöhungen sind Gewerkschaftern traditionell heilig – Doskozils Mindestlohn-Politik nimmt der Gewerkschaft diese Hoheit und stößt ihr daher sauer auf.

Noch übler nehmen Gewerkschafter von ÖGB-Chef Wolfgang Katzian abwärts Doskozil, dass er das System der selbstverwalteten Krankenkassen (eine Uralt-Domäne der Arbeitnehmer-Vertreter) auflösen und Gesundheitsagenden an Bund und Bundesländer übertragen will.

Symptom Orientierungslosigkeit

Die breite Masse der Wählerschaft werden derartige Detail-Richtungsdebatten nicht elektrisieren. Sie zeigen aber symptomatisch, wie orientierungslos die SPÖ agiert. Im Grunde weiß sie seit Jahren nicht recht, wen sie vertreten, für wen sie Politik machen soll. Klischeehaft überspitzt formuliert: urbane Radfahrer oder kleinstädtische Kleinfamilien-Kutschenfahrer? Gender-Diskus-geschulte Akademikerinnen oder Niedrigverdiener mit Existenzsorgen? Progressive Ein-Personen-Unternehmerinnen oder wertkonservative Senioren? Polyglotte Aufsteiger oder biedere Mindestpensionisten?

Die SPÖ ist in ihrer Orientierungslosigkeit nicht allein, Sozialdemokratien quer durch Europa laborieren daran, dass die traditionelle Kernklientel – die Arbeiterschaft – erodiert. Als 1970 mit Bruno Kreisky erstmals die SPÖ den Kanzler stellte, waren 60 Prozent der unselbstständig Beschäftigten Arbeiter, die mehrheitlich SPÖ wählten. Heute hat sich der Anteil der Arbeiter an den Beschäftigten auf rund 30 Prozent halbiert – und jeder dritte Arbeiter ist Migrant ohne Staatsbürgerschaft und Wahlrecht. Die geschrumpfte Schar der Arbeiter hat teils seit dem Lehrlingsalter Jörg Haider und FPÖ gewählt und gar keine Verbindung mehr zur SPÖ. „Die SPÖ kann schon deshalb keine Arbeiterpartei mehr sein, weil in Wien nur mehr neun Prozent der Beschäftigten Arbeiter sind“, sinnierte Wiens Alt-Bürgermeister Michael Häupl schon vor Jahren.

Welche Partei die SPÖ aber sein will, weiß sie nicht – und verliert an beide Seiten, an Grüne und FPÖ. Am schonungslosesten tritt dieses Schlingern in der Asyl- und Migrationspolitik zutage, da ringt die SPÖ seit Jahrzehnten um einen konsequenten Kurs und schwankt zwischen Humanität und Härte. Ende der 1990er-Jahre, als der FPÖ-Höhenflug kaum zu bremsen zu sein schien und die Freiheitlichen am Weg zur Regierungspartei waren, debattierte die SPÖ monatelang über die richtige Linie und einigte sich auf den neuen Wunder-Slogan, den Innenminister Karl Schlögl 1997 stolz präsentierte: „Integration vor Zuzug“. Zwei Jahrzehnte später, Türkis-Blau regierte, erstellten Peter Kaiser und Hans Peter Doskozil ein Migrationspapier, das die Debatten in der SPÖ beenden sollte. Die Zauberformel im Doskozil-Kaiser-Papier 2018: „Integration vor Zuzug“. Weiter kam die SPÖ in zwei Jahrzehnten Debatte nicht.

Auch deshalb spitzt sich die inhaltliche Orientierungslosigkeit immer wieder an Personen zu: Im Jahr 2000, als die SPÖ hart auf der Oppositionsbank landete, ritterten Law-and-Border-Fan Karl Schlögl und der intellektuelle Ex-Sozialarbeiter Caspar Einem um den Parteivorsitz, den letztlich Alfred Gusenbauer als Kandidat für beide Parteiflügel errang. Dass ein Dritter oder eine Dritte auch heuer die SPÖ wieder vereint, ist möglich, aber nicht wahrscheinlich. In der Wiener SPÖ spitzte sich die Klientelsuche – lieber hippe Innenstädter oder retro-charmante Flächenbezirke – im Duell von Andreas Schieder gegen Michael Ludwig zu.

Hans Peter Doskozil blinkt mal links, mal nach rechts, je nachdem, was er für populärer hält. Das Rendi-Wagner-Lager beschwört die jüngere Geschichte: Doskozil, der im Burgenland mit den Freiheitlichen koalierte, wollte im SPÖ-Vorstand nur eine Koalition mit der Kickl-FPÖ ausschließen. Rendi-Wagner glaubt, hier einen Unterschied herausarbeiten zu können: Sie lehnt eine Zusammenarbeit mit den Freiheitlichen grundsätzlich ab.

In der ÖVP hatte man mit einem SPÖ-Machtkampf gerechnet, mit dem Zeitpunkt weniger.

Ein Kanzlerkandidat Doskozil wäre für Karl Nehammer ein unangenehmerer Gegner als Pamela Rendi-Wagner. Genau genommen haben der Kanzler und sein möglicher Herausforderer einiges gemein. Sie sind in etwa gleich alt, Nehammer ist Jahrgang 1972, Doskozil wurde 1970 geboren. Beide stehen für Sicherheit. Nehammer diente als Offizier im Bundesheer, Doskozil ist Polizist und brachte es bis zum Landespolizeidirektor im Burgenland. Beide kennen Politik auch aus der zweiten Reihe. Nehammer war ÖVP-Generalsekretär, Doskozil Büroleiter seines Vorgängers als Landeshauptmann im Burgenland, Hans Niessl.

In einem Wahlkampf würden beide um dieselbe Wählergruppe buhlen: jene Bürgerinnen und Bürger, die 2017 und 2019 für Sebastian Kurz stimmten, weil er einen rigiden Kurs bei Zuzug und Integration versprochen hatte. Die ÖVP muss fürchten, dass ihr Doskozil direkt Stimmen abknöpft und sie – wie zuletzt 1999 – bei der nächsten Wahl nur Dritter wird. Derzeit beruhigt man sich mit einer einfachen Kalkulation: FPÖ, SPÖ und ÖVP würden in den Umfragen nicht so weit auseinander, teils innerhalb von Schwankungsbreiten, liegen. Für jeder der Parteien sei von Platz eins bis drei alles drinnen. Entscheidend sei der Wahlkampf – und da könnte Karl Nehammer seine Stärken ausspielen: Authentizität und Ehrlichkeit.

Seinen ersten Wahlkampfauftritt absolvierte Nehammer bereits, allerdings tarnte er ihn als „Rede zur Zukunft der Nation“, die er im 35. Stock der Twin Towers am Wienerberg in Favoriten hielt. Es war eine Botschaft an die Wähler der ÖVP und solche, die es wieder werden könnten. Nehammers Programm im Schnelldurchlauf: für Autos, Fleischkonsum und Eigentum; gegen Untergangsapokalypsen von Klimaaktivisten, Sozialleistungen in voller Höhe für Zuwanderer, Gendern und zu viel Einmischungen aus Brüssel. Diese Rede hätte auch von Ex-ÖVP-Chef Sebastian Kurz stammen können. Der Koalitionssegen hängt derzeit schief. Der Kanzler bewirbt den Verbrennungsmotor, die Grünen plakatieren „Klimaglück“. Es versichern zwar alle Grünen von Parteichef Werner Kogler abwärts, dass die Regierung mit der ÖVP halten werde, doch die inhaltlichen Differenzen kann das nicht übertünchen. Bei der Mietpreisbremse stockt es, Nehammers Ideen zu Kürzungen von Sozialleistungen für Zuwanderer wiesen die Grünen bereits zurück. Intern geben Pragmatiker die Devise aus: „Die Regierung mit der ÖVP wird diese Legislaturperiode halten, aber nicht fortgesetzt werden. Da schadet es nicht, wenn sich beide Parteien inhaltlich profilieren.“

Rechtsschwenk

Der Schwenk der ÖVP von der Mitte nach rechts trägt deutlich die Handschrift des neuen ÖVP-Kommunikationschefs und früheren Kurz-Vertrauten Gerald Fleischmann. Für die kommenden Monate ist wieder mit mehr Disziplin unter ÖVP-Ministern und kontrollierten politischen Botschaften zu rechnen. Zuletzt waren einzelne Minister vorgeprescht: Etwa Wirtschaftsminister Martin Kocher, als er darüber räsonierte, Teilzeitbeschäftigten Sozialleistungen zu kürzen. Kocher wurde flugs von Nehammer korrigiert. Nichts braucht die ÖVP weniger als den Ruf einer kaltherzigen Partei.

Auch Nehammers Corona-Versöhnungsprojekt kann als verdeckte Wahlkampfinitiative interpretiert werden. Eine Kommission soll die Maßnahmen der Regierung zur Pandemiebekämpfung aufarbeiten. Ein klares Signal an jene Bürgerinnen und Bürger, die der ÖVP das Corona-Regime nachtragen.

Die Wut dieser Gruppe hat die ÖVP unterschätzt, vor allem in Niederösterreich. Schwarz-Blau in St. Pölten dürfte kein Einzelfall bleiben. Denn auch in Salzburg ist aus heutiger Sicht eine Koalition aus ÖVP und FPÖ denkbar. Das Bundesland wählt am 23. April, der Wahlkampf hat begonnen. ÖVP-Landeshauptmann Wilfried Haslauer muss – wie Johanna Mikl-Leitner – mit schmerzhaften Einbußen rechnen. 2018 erreichte die ÖVP 37,8 Prozent. Die FPÖ unter der im Vergleich zu Niederösterreich bürgerlich-zivilisierten Landesparteichefin Marlene Svazek wird zulegen und dabei nicht nur Stimmen von der ÖVP lukrieren. Zur Verteilung stehen auch jene 4,5 Prozent, die der frühere FPÖ-Salzburg Chef Karl Schnell 2018 mit einer eigenen Liste erreichte. Die FPÖ dürfte die SPÖ überholen. Die bisherige schwarz-grün-pinke Koalition aus ÖVP, Grünen und NEOS wird ihre Mandatsmehrheit nicht halten und steht vor dem Aus. Den NEOS wird damit nur Wien als einziges Bundesland bleiben, in dem sie mitregieren.

In den Koalitionsverhandlungen in Niederösterreich spielten NEOS von Beginn an keine Rolle. Bei den Landtagswahlen im Jänner hatten sie von fünf auf knapp sieben Prozent zugelegt. Für einen Sitz in der Proporz-Landesregierung und eine Partnerschaft mit der ÖVP war das zu wenig.

Pinke Vorbereitungen

Im Bund hingegen soll nach den nächsten Nationalratswahlen niemand an NEOS vorbeikommen, gibt Partei-Chefin Beate Meinl-Reisinger im profil-Interview als Losung aus. „Wenn sich alle die Schädel einschlagen“, will sie als Mittepartei eine Brücke zu links oder rechts schlagen. Dass ihre Partei längst im Wahlkampf ist, zeigt eine Personalie. Der frühere Generalsekretär (2016 bis 2021) Nikola Donig kehrt als Kommunikationschef zurück. Der 52-Jährige soll helfen, NEOS stark genug zu machen, damit sie als Partner einer ÖVP-NEOS-Grün-Regierung („Dirndl“) oder SPÖ-NEOS-Grün-Regierung („Ampel“) infrage kommen. Als Mehrheitsbeschaffer gegen eine ÖVP-FPÖ-Koalition wären die NEOS plötzlich wichtiger, als es ihrer Größe entspräche.

Wenn sie groß genug sind: In der profil-Umfrage sank die Partei zuletzt von zehn auf neun Prozent und profitiert nicht von der Schwäche der ÖVP. Das könnte auch am fehlenden Profil liegen. Grüne stehen für Umweltschutz. ÖVP für ihre Klientel aus Gewerbetreibenden und Landwirten. Und die NEOS? Die Anti-Establishment-Karte zieht zehn Jahre nach Gründung nicht mehr. Und für klassischen Wirtschaftsliberalismus ist in Zeiten von milliardenschweren Antiteuerungspaketen die Luft zu dünn.

Klarer – und schärfer – positionieren sich die NEOS in der Zuwanderungsfrage. „Ich will als Schwuler angstfrei durch Migrantenviertel gehen“, sagt Integrationssprecher Yannick Shetty. Zuwanderer mit schlechten Deutschkenntnissen sollten am Nachmittag verpflichtend in den Zusatzunterricht; Flüchtlinge, die Integrationsangebote ignorieren, sollten Verwaltungsstrafen ausfassen; radikale Moscheen geschlossen werden. Mit diesem Versuch eines Mittelweges zwischen links und rechts wird es in einem polarisierten Wahlkampf nicht leicht sein, Aufmerksamkeit zu generieren.
Dass es nach der Entscheidung über die SPÖ-Führung und nach der Salzburger Landtagswahl wieder ruhiger wird im Land, ist auszuschließen. Ab sofort befinden sich alle Parteien im Wahlkampf. Und alle werden aufpassen müssen, keine Magengeschwüre zu bekommen.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.

Iris Bonavida

Iris Bonavida

ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.

Jakob   Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.