Annemarie Schlack im Büro von SOS Kinderdorf
© Alexandra Unger
Annemarie Schlack im Büro von SOS Kinderdorf
Wie SOS Kinderdorf mit der eigenen Vertuschungsgeschichte umgeht
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Die Art, wie Annemarie Schlack mit Krise umgeht, hat etwas zutiefst Unösterreichisches. Die Geschäftsführerin von SOS Kinderdorf setzt sich ins Fernsehen, stellt sich kritischen Fragen. Sie sagt: „Wir haben Fehler gemacht.“ Vor allem aber sagt sie auch, und das ist ungewöhnlich: „Ich habe Fehler gemacht.“ Dabei spricht Annemarie Schlack nicht nur über eine kleine Krise in ihrem Unternehmen, sie spricht über einen Super-GAU in jeder Hinsicht: Österreichs größte private Kinder- und Jugendhilfeorganisation hat über Jahre glaubhafte Fälle von Kindesmissbrauch vertuscht.
Als profil Annemarie Schlack im Büro von SOS Kinderdorf Österreich trifft, leuchtet ihr Blazer in der Farbe ihrer Organisation. „Grün ist die Farbe der Hoffnung“, sagt Schlack. Aus ihrem Mund klingt das nicht zynisch, sondern überzeugt.
Dabei brach die heile Welt der Kinderdörfer in Österreich Mitte September zusammen.
Annemarie Schlack im Büro von SOS Kinderdorf
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Annemarie Schlack im Büro von SOS Kinderdorf
Der „Falter“ berichtet zuerst über vergangene Missstände in einem Kinderdorf in Moosburg, Kärnten: Nacktfotos von Kindern, rationiertes Essen und Trinken und ein gewalttätiger Leiter. SOS Kinderdorf hatte von den Vorwürfen gewusst und sie in einer Studie aufgearbeitet, die nie breit veröffentlicht wurde. Wenige Tage später werden Missbrauchsvorwürfe aus dem SOS Kinderdorf Seekirchen, Salzburg, aus dem Jahr 2020 bekannt. Auch im Tiroler Imst soll die Leitung des Kinderdorfes Gewalt ausgeübt haben.
Ende Oktober erreicht der Skandal eine neue Dimension: Ein verstorbener Großspender soll Burschen in Kinderdörfern in Nepal missbraucht haben, berichtet der „Falter“. Der frühere Leiter von SOS Kinderdorf, Helmut Kutin, soll dem Spender Zugang gewährt haben. Der zu diesem Zeitpunkt bereits suspendierte SOS-Kinderdorf-Geschäftsführer Christian Moser soll davon gewusst haben.
Wenig später stellt die Organisation ihren eigenen Gründermythos infrage: Der Tiroler Hermann Gmeiner, der das erste Kinderdorf gegründet und die Organisation über Jahrzehnte geleitet hatte, könnte zwischen 1950 und 1980 acht Kinder sexuell missbraucht haben. Gmeiner ist 1986 gestorben, er wurde dafür nie strafrechtlich verfolgt. Doch aus Sicht von SOS Kinderdorf Österreich sind die Vorwürfe glaubhaft. Das erste Opfer hatte sich 2013 an die Organisation gewandt. Und dennoch warb SOS Kinderdorf weiter mit Gmeiner.
Im Auge des Sturms
Schlack selbst hatte bereits 2023, bei ihrem Onboarding-Prozess, von einem Vorwurf gegen Gmeiner erfahren. Dass sie damals nicht an die Öffentlichkeit gegangen ist, bezeichnet sie heute als Fehler. „Man hätte erkennen müssen, dass das nicht Einzelfälle sind“, sagt Schlack: „Das sind Hinweise auf strukturelle Probleme, die bearbeitet werden müssten.“
Auch von Annemarie Schlack. Die gebürtige Grazerin ist seit 1. Jänner 2024 als eine von drei Personen Geschäftsführerin bei SOS Kinderdorf und speziell für Kinderschutz, Qualitäts- und Risikomanagement zuständig. Nun steht sie im Auge des Sturms. „Hier im Büro ist die Krisenkommunikation“, sagt Schlack und deutet auf den kargen Besprechungsraum um sich.
Annemarie Schlack im Büro von SOS Kinderdorf
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Annemarie Schlack im Büro von SOS Kinderdorf
„Man hätte erkennen müssen, dass das nicht Einzelfälle sind. Das sind Hinweise auf strukturelle Probleme, die bearbeitet werden müssten.“
Annemarie Schlack
In der Zentrale von SOS Kinderdorf gilt eine „Clean Desk Policy“. Anders als in den meisten Betrieben scheint sie hier zu funktionieren. Obst liegt in der Obstschale, Zeitschriften und Infomaterial werden auf ausgewählten Stellen fein säuberlich aufgefächert, auf den blitzblanken Schreibtischen würden sie fehl am Platz wirken. Verspielt ist hier nach Wochen der Krise nur die dauerhafte Dekoration: Die Glastüren sind mit bunten Schemen von spielenden Kindern bedruckt, in der Küche stehen übergroße Kinderstühle, und an der Klotür hängt das Bild eines Kindes mit der Aufschrift: „Ich habe meine Hände schon gewaschen – Du auch?“
An wessen Händen Dreck klebt, wollen viele wissen. Annemarie Schlack übernimmt öffentlich Verantwortung, kann auf diese Frage aber noch keine Antwort geben. Eine Reformkommission unter Leitung der früheren Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Irmgard Griss, soll strukturelle Fehler finden und ausbessern. „Ich bin weder Ermittlungsbehörde noch Richterin“, sagt Schlack: „Ich muss nur garantieren, dass die Reformkommission gut und in Ruhe arbeiten kann. Das ist meine Rolle.“
Tatsächlich ist Schlack gelernte Juristin, wurde aber weder Staatsanwältin noch Anwältin, sondern spezialisierte sich stattdessen auf Konfliktmanagement und Organisations- entwicklung. Bereits von 2004 bis 2016 arbeitete sie für SOS Kinderdorf International – vorwiegend als Lobbyistin für Kinderrechte. 2016 wurde sie Geschäftsführerin der Menschenrechts-NGO Amnesty International in Österreich. 2024 wechselte Schlack wieder zu SOS Kinderdorf. „Bei Amnesty ging es vor allem darum, Probleme aufzuzeigen“, sagt Schlack: „SOS Kinderdorf hat Lösungen.“ Jeden Tag würde sie mit dem Gefühl aus dem Büro gehen, konkret etwas beigetragen zu haben: „Ich bin eine pragmatische Idealistin. Dieser Wunsch nach Gerechtigkeit sitzt schon tief.“
Annemarie Schlack im Büro von SOS Kinderdorf
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Annemarie Schlack im Büro von SOS Kinderdorf
„Die Krisen waren intern bekannt. Auch ich kannte die Studien.“
Annemarie Schlack
Ob gerecht oder nicht: Schlack antwortet in der Krise jedenfalls pragmatisch. Etwa auf die große Frage, die derzeit über SOS Kinderdorf schwebt: Wer hat wann was gewusst? „Die Krisen waren intern bekannt“, sagt Schlack mit einer entwaffnenden Offenheit: „Auch ich kannte die Studien.“ 2024 sei sie über die vergangenen Probleme in Imst und Moosburg informiert worden. Sie habe die beiden internen Studien angefordert, gelesen und die Kinderdörfer besucht. „Dort ist es heute nicht mehr so, wie es in den Studien dargestellt wurde. Den Kindern dort geht es gut. Und es ist mein Job, immer wieder hinzuschauen.“
Vergangenheitsbewältigung
Die bekannt gewordenen Missstände mögen in der Vergangenheit liegen. Doch aus ihrer Aufarbeitung will SOS Kinderdorf nun auch für die Zukunft lernen. Aus der Opferschutzkommission sei ihr schon vor der Krise bekannt gewesen, dass sich immer wieder Betroffene aus den vergangenen Jahrzehnten melden würden, sagt die Geschäftsführerin: „Das ist in einer Organisation wie SOS Kinderdorf Standard.“ Doch so sehr jeder einzelne Fall erschüttern würde: „Es sind nicht nur Einzelfälle. Dahinter stecken Dynamiken, patriarchale Systeme und Vertuschungsstrukturen, die wir als Organisation jetzt ganz klar hinter uns lassen müssen.“
Schlack gibt zu: „Die Systematiken waren mir bekannt. In jeder großen Organisation gibt es Machtgefälle. Und die sind überall gefährlich, weil sie menschlich sind.“
„Es sind nicht nur Einzelfälle. Dahinter stecken Dynamiken, patriarchale Systeme und Vertuschungsstrukturen, die wir als Organisation jetzt ganz klar hinter uns lassen müssen.“
Annemarie Schlack
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„Es sind nicht nur Einzelfälle. Dahinter stecken Dynamiken, patriarchale Systeme und Vertuschungsstrukturen, die wir als Organisation jetzt ganz klar hinter uns lassen müssen.“
Annemarie Schlack
„Es sind nicht nur Einzelfälle. Dahinter stecken Dynamiken, patriarchale Systeme und Vertuschungsstrukturen, die wir als Organisation jetzt ganz klar hinter uns lassen müssen.“
Annemarie Schlack
Ein Klima des Misstrauens innerhalb der Belegschaft von SOS Kinderdorf ortet Schlack trotz der schwerwiegenden Vorwürfe nicht, aber: „Es gibt einen unbändigen Wunsch nach Klarheit und nach der Benennung von Fehlern.“ Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter würden auch sich selbst hinterfragen.
Bis die Kommission Antworten gefunden hat, arbeitet SOS Kinderdorf weiter. Drei Viertel der Einnahmen kommen vom Staat für die Betreuung der rund 1800 Kinder. Ein Viertel stammt aus Spenden, die im Zuge der Skandale massiv einbrechen könnten. Auch die Kinder bekommen die Meldungen mit: „An den Standorten wurden Kinder gefragt, ob sie geschlagen werden“, sagt Schlack: „Eine Fünfjährige hat gefragt, was Pädophilie ist.“ Schwere, zusätzliche Arbeit für die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter.
An den Standorten wurden Kinder gefragt, ob sie geschlagen werden. Eine Fünfjährige hat gefragt, was Pädophilie ist.
Annemarie Schlack
Dazu kommt Aggression von außen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden gefragt, ob auch sie pädophil seien. Andere werden gleich auf offener Straße beschimpft und bespuckt. Vereinzelt würden gar ihre Autoreifen aufgeschlitzt, erzählt Schlack. Sackerl mit SOS-Kinderdorf-Logo würden viele nun nicht mehr in der Öffentlichkeit tragen. Eine Kündigungswelle gäbe es dennoch nicht.
Gleichzeitig spürt die Organisation das veränderte gesellschaftliche Bewusstsein: Seit Beginn der Berichte Mitte September sind bis 24. November über das Whistleblower-System und andere Meldewege 84 Hinweise eingegangen. Eine akute Kindeswohlgefährdung war nicht darunter. Viele Meldungen betreffen Menschen, die in der Vergangenheit Gewalt erlebt haben, nicht alle in den Strukturen von SOS Kinderdorf. Manche erzählen ihre Geschichte zum ersten Mal. „Diese Menschen haben sehr belastende Erfahrungen gemacht und führen heute ihr Leben selbstbestimmt“, sagt Schlack: „Unsere Aufgabe ist es, zuzuhören, Verantwortung zu übernehmen und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.“
Max Miller
ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und mag Grafiken. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.