Krankheit und Hunger
Es ist Samstag, 28. Juni 2014, in Hallein, als Susanne G., Marias Mutter, gerade eine Grillfeier vorbereitet. Maria G. stammt aus einer österreichischen Idylle: Unternehmerfamilie, Einfamilienhaussiedlung, gestutzte Hecken, Himbeersträucher, Hortensien, Apfelbäume, Alpenblick. Die Familienfeier lässt die jüngste von drei Töchtern an diesem Frühjahrswochenende sausen. Der Mutter erzählt die damalige Teenagerin, dass sie im 20 Kilometer entfernten Salzburg eine Freundin trifft. Tatsächlich hat Maria G. andere Pläne: Sie folgt dem Ruf eines Islamisten, mit dem sie zuvor per Skype nach der IS-Lesart der Scharia in einer Mehrehe vermählt wurde. Sie reist über die Türkei aus und schlüpft durch ein Loch im Grenzzaun ins benachbarte Syrien. Einen Tag nach ihrem Verschwinden aus Österreich ruft der damalige IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi in Syrien das IS-Kalifat aus. In den Jahren in Syrien erlebt Maria G. den Aufstieg und die Zerschlagung des Islamischen Staates am eigenen Leib.
Mit ihrem zweiten Mann, einem IS-Kämpfer, der nach seiner Verwundung als Koch arbeitet, bekommt sie zwei Söhne, mittlerweile sieben und neun Jahre alt. Ihre Wohnorte ändern sich mit dem Frontverlauf des IS, zuletzt ist sie in Deir ez-Zor, der letzten Bastion des IS. Nach dem Fall des IS kommt sie mit ihren Kindern in die kurdischen Internierungslager Al-Hol und Roj und ist dort insgesamt sechs Jahre lang. Die Lager sind Hochburgen des IS, in denen fanatisierte Islamistinnen weiterhin an den Ideen des Kalifats festhalten und junge Burschen vergewaltigen, um Nachwuchs für eine Auferstehung des Islamischen Staates zu zeugen. Im Gewirr der Internierungslager sind Maria und ihre Kinder zunächst nicht ausfindig zu machen. Erst mithilfe des Politologen Thomas Schmidinger, der gute Kontakte zu den Kurden pflegt, können ihre Eltern sie überhaupt finden.
Susanne und Markus G., die Eltern von Maria, dürfen ihre Tochter nur wenige Male für einige Stunden besuchen. Ansonsten halten sie – so gut es geht – telefonisch Kontakt. Maria berichtet immer wieder von Krankheit und Hunger, die sie und ihre Kinder plagen. Einmal meldete sie sich verzweifelt bei ihrer Mutter mit der Frage, ob sie wüsste, was die geschwollenen Arme und Beine bei ihren Kindern zu bedeuten hätten. Ihre Mutter googelte die Symptome: Es waren Anzeichen von Unterernährung.
Seit Jahren wollte Maria G. zurück nach Österreich und sich hier, wie an diesem Mittwoch, vor einem österreichischen Gericht für ihre Taten zu verantworten. Doch das Außenministerium weigert sich. Es stellte Pässe für die beiden Söhne bereit, Maria G. jedoch sollte nicht ausreisen dürfen. Jahrelang hielt das Außenministerium die Familie von Maria G. hin. Erst mehr als zehn Jahre später entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass Maria zurückzuholen ist.
Lange erlebt Maria G. die Republik als unnachgiebig und gnadenlos. An diesem Mittwoch jedoch bekommt sie die Gelegenheit, zu verstehen, was Rechtsstaatlichkeit bedeutet. Denn im Gegensatz zum IS-Staat unter der Scharia agiert der Rechtsstaat demokratischer Länder nicht nach dem Prinzip „Aug um Aug“ und „Zahn um Zahn“ und beruht auch nicht auf dem gönnerhaften Standpunkt „Gnade vor Recht“ – sondern auf Gnade und Fairness als Recht. Auch für jene, die ihn abgelehnt haben. Auch im Fall von Maria G.
Zwei Jahre Haft
Maria G. ist vollumfänglich geständig, sie absolviert Psychotherapie und ein Deradikalisierungsprogramm. Sie macht alles, was nötig ist – und die Behörden würdigen es. Selbst der Staatsanwalt erkennt Maria G.s Bemühungen an. In seinem Plädoyer formuliert er den Kern dessen, was ein Strafverfahren ausmacht: Es geht nicht um Rache, sagt der Staatsanwalt, es geht um Resozialisierung. Es geht darum, dass Maria G. sich wieder in die Gesellschaft eingliedern soll. Maria G.s Rechtsanwältin Doris Hawelka schließt sich den Worten des Staatsanwalts vollumfänglich an. Der Grund für die verlorenen Jahre waren politische Erwägungen des Außenministeriums und nicht unbedingt rechtliche, führt Marias Rechtsanwältin Hawelka weiter aus.
Auch das Gericht würdigt schließlich Maria G.s Kooperationsbereitschaft, ihr Geständnis und auch ihre Aussagen, in denen sie in insgesamt 20 Stunden über das Leben im IS berichtet hat. Die Strafverfolgungsbehörden haben Datenbanken nach Maria G.s Leben in Syrien durchforstet, auch ausländische, etwa die des FBI, und: „Es wurde nichts gefunden“, so der Staatsanwalt.
Maria G. wird schuldig gesprochen und zu zwei Jahren Haft verurteilt,
allerdings bedingt, mit einer dreijährigen Probezeit. Dasselbe Urteil bekam zuvor schon Evelyn T., die zweite IS-Anhängerin, die gemeinsam mit Maria G. und ihren Kindern am 1. März 2025 aus dem Internierungslager Roj nach Österreich zurückgeholt und am 9. April 2025 am Wiener Landesgericht verurteilt wurde.
Im Fall von Evelyn T. griffen die Behörden zu strengeren Maßnahmen. Nach ihrer Rückkehr kam sie zuerst in Untersuchungshaft, ihr Sohn wurde in die Obhut der Kinder- und Jugendhilfe überstellt. Vor ihrer Verhandlung führten sie schwer bewaffnete Polizisten an den Kameras vorbei in den Gerichtssaal, wo sie sich einer einstündigen Einvernahme stellte. Bei Maria G. unterblieben solche Schritte. Sie trat ihr Verfahren von Anfang an auf freiem Fuß an. Am Ende aber fiel in beiden Fällen das gleiche Urteil.
Das Gericht ist bereit, Maria eine zweite Chance zu geben. Leichtgläubig und naiv ist es deshalb aber nicht, denn es weiß auch um die Mechanismen der Radikalisierung. Diese sei schnell erfolgt – Deradikalisierung aber brauche ihre Zeit. Das Gericht lässt dies auch Maria wissen, eine junge Frau, die weitestgehend still ist und bei Fragen mit brüchiger Stimme antwortet. Sie sagt, sie könne sich selbst nicht erklären, wie sie damals diesen Schritt machen konnte.
Was in Maria G. tatsächlich vorgeht, kann niemand sagen. Wie sehr sie noch im Gedankengut des IS verfangen ist, was all die Jahre im islamistischen Faschismus mit ihr gemacht haben, welche Spuren die Gewalt in den Gefängnissen bei ihr hinterlassen hat, das kann heute niemand genau sagen. Genau deshalb gibt es die drei Jahre Probezeit. Das Gericht wird Maria G. an ihren Taten messen.