In Österreich strebt die Omikron-Welle ihrem „Peak“ erst entgegen. Statt gelockert wird verschärft.

Omikron: Das große Durchrauschen – warum noch vorsichtig sein?

Maske, Abstand, Quarantäne: Nach bald zweijähriger Corona-Ausnahmesituation propagieren Virologen die „natürliche“ Omikron-Durchseuchung als Weg aus der Pandemie.

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Manchester zu Jahreswechsel. Im Omikron-Hotspot Großbritannien infizieren sich bis zu 200.000 Menschen – pro Tag. Die Einkaufsstraßen sind voll. Gefühlt nur jeder Dritte hält die Maskenpflicht im Bus oder Shoppingcenter ein. Vor den Pubs grölen sich maskenlose Fußballfans für die Feiertagsspiele in Stimmung. Regierungschef Boris Johnson zündet ein Feuerwerk an Booster-Appellen – und lässt Silvesterpartys steigen. Das Virus rauscht durch. Covid oder „Common Cold“? Viele Engländer wollen – oder können – es nicht mehr so genau wissen.

Das Gratis-Testsystem ist kollabiert. Das Gesundheitssystem ächzt unter vielen infizierten Mitarbeitern, knickt aber nicht ein. Am 6. Jänner bricht die Welle. Die Infektionskurve zeigt nach unten. Diese Woche fällt die Maskenpflicht im Land, im März die Quarantäne nach einer Ansteckung. „Wir zwingen die Menschen auch nicht dazu, sich zu isolieren, wenn sie die Grippe haben“, fasst Johnson den Paradigmenwechsel im Umgang mit dem Virus zusammen. Wie die Österreicher mit einer drohenden Ansteckung durch Omikron umgehen haben wir in unserer aktuellen Umfrage erhoben.

In Österreich strebt die Omikron-Welle ihrem „Peak“ erst entgegen. Statt gelockert wird verschärft: Maskenpflicht im Freien ohne Abstand, Impfpflicht plus Impflotterie, Lockdown für Ungeimpfte, Aktion scharf. Eine Après-Ski-Bar in Kitzbühel schließt nach einem Shitstorm. Geimpfte hatten gefeiert, als wäre Silvester in England. Der seit März 2020 geltende Krisenmodus ist wieder aktiv – auch rhetorisch. Der Bundeskanzler spricht von „erschreckend hohen Zahlen“, Boulevard-Headlines über die „Omikron-Explosion“ schocken. Wie sich noch schützen, wenn Omikron selbst durch den „Kamineffekt“ der Klospülung eindringen kann, wie der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach warnt? Wie die Kleinsten schützen, wenn der Kindergarten zum Seuchenherd mutiert ist? 

Keine Panik vor Durchseuchung

Doch etwas ist diesmal anders. Fundamental anders. Die „natürliche“ Durchseuchung, die gerade stattfindet, löst in der Fachwelt keine Panik aus, sondern wird mitunter gar begrüßt. Von keinem Geringeren als dem deutschen Corona-Star Christian Drosten: „Wir können nicht auf Dauer alle paar Monate über eine Booster-Impfung den Immunschutz der ganzen Bevölkerung erhalten. Das muss das Virus machen“, sagt er. Die „abgeschwächte Infektion auf dem Boden der Impfung“ sei wie ein „fahrender Zug“, auf den wir früher oder später aufspringen müssten. „Es gibt keine Alternative“, sagt Drosten apodiktisch. Man reibt sich die Augen und überlegt, ob es nun gesund oder ungesund war, davor keine Hand zu schütteln. 

Drosten argumentiert – wie immer – auf Basis von Fakten. Und die sehen so aus: Das Risiko, im Krankenhaus zu landen, sinkt mit Omikron um 50 bis 80 Prozent im Vergleich zur Delta-Variante; das Risiko, beatmet zu werden, um 85 bis 100 Prozent; die Sterbewahrscheinlichkeit um 70 bis 90 Prozent, so eine Zusammenschau von elf Studien aus acht Ländern. Omikron macht die Perspektive Durchseuchung zumutbar, psychologisch bleibt sie eine Zumutung.

Zwischen Booster und Infektionen

Seit bald zwei Jahren schützen wir uns vor dem Virus, distanzieren, isolieren, desinfizieren, registrieren, maskieren uns mit dem Ziel, Ansteckung und Weiterverbreitung zu vermeiden – und nun soll die Ansteckung alternativlos sein? „Ich hab Husten, Halsweh, Fieber, Schüttelfrost, Gelenkschmerzen – und lauter negative Tests. Ärgert mich fast ein bisschen. Hätt’ es gern hinter mir“, schreibt eine Kollegin auf Twitter und trifft einen Nerv. 

Die sozialen Medien gleichen derzeit einer „Omi-Chronik“. Infizierte teilen Krankheitsverläufe freimütiger als früher. Zum einen, weil man sich angesichts weiterer 500.000 Menschen in Quarantäne weniger geniert, in die Virenfalle getappt zu sein. Zum anderen, weil man weniger Angst hat, auf der Intensivstation zu landen. „Jetzt hat es mich doch noch erwischt, das Drecksvirus“, lautet ein Eintrag auf Facebook. Bedauern. Genesungswünsche. „Oh, Gott!“ „Du Armer!“ „Wie ist das passiert?!“, „Milden Verlauf wünsche ich!“ Man spricht persönlich mit Betroffenen und hört, was nicht geschrieben wurde: „Eigentlich der ideale Zeitpunkt, weil ich erst im Dezember boostern war“, „gerissen hab ich mich nicht drum, jetzt kann ich aber wenigstens meinen Urlaub planen“, „zu den nächsten Treffen geh ich sicher entspannter“. 

Vielleicht die größte Zumutung am Übergang von der Pandemie zur Endemie: die Genugtuung, die Impfgegner über das große Durchrauschen empfinden. Corona verglichen sie von Beginn an gerne mit der Grippe und stellten sich damit als Verharmloser selbst ins Eck. Nun verteidigen Regierungschefs wie Johnson oder der Spanier Pedro Sánchez mit genau diesem Vergleich ihre Öffnungsschritte. Der politische Kopf der Impfgegner, FPÖ-Chef Herbert Kickl, suhlt sich förmlich im wachsenden Widerspruch zwischen härteren Maßnahmen bei milderem Pandemieverlauf. In England fällt die Maske in Klasse und Bus, und er soll eine Strafe ausfassen, weil er sich auf einer Outdoor-Demo nicht maskierte? 

Sich durch eine Infektion zu immunisieren, zogen Impfgegner stets vor. Nun scheinen sie am Ziel und bereiten sich auf ihr Rendezvous mit Omikron vor – sofern sie es nicht schon hatten. Als Genesene sind sie dann 180 Tage von der Impfpflicht befreit. 

Ein gefährliches Spiel, unverantwortlich, nach wie vor. Ohne Impfung und frischem Booster steigt die Wahrscheinlichkeit, im Krankenhaus zu landen, deutlich. Außerdem verschwindet die gefährlichere Delta-Variante nicht. Gegen diese bleiben Ungeimpfte selbst nach einer Omikron-Infektion kaum geschützt. Dennoch: Bis hierher haben es die Durchseuchungsfans der ersten Stunde geschafft. Und bald können sie im Zweifelsfall  zum Totimpfstoff von Valneva greifen, dem sie mehr vertrauen als den neuartigen mRNA-Vakzinen. Der Impfstoff von Valneva soll, an Omikron angepasst, im Frühjahr auf den Markt kommen.

Weg aus der Pandemie

Hatten Kritiker doch ein Gespür? Haben wir übertrieben? Waren wir zu ängstlich? Gegen das nagende Gefühl der Ungerechtigkeit hilft die Erinnerung. Es tat gut, gegen Delta & Co. bestmöglich geschützt zu sein. So wie es heute guttut, gegen grippeartige Omikron-Attacken geboostert zu sein. Es tat gut, sich als Geimpfter am solidarischen Schutzschirm über Spitälern, Älteren, Immunsupprimierten zu beteiligen. So wie es heute guttut, die Durchseuchung in Bahnen zu halten. Es tat gut, in einer Zeit solidarisch zu sein, in der man nicht wusste, wann die Zeit für eine mildere Ausstiegsvariante gekommen sein würde.

„Der Weg in diese Richtung ist evolutionsbiologisch vorgezeichnet. Nur weiß man am Beginn einer Pandemie nicht, wie lange es dauert. Ob zwei Jahre oder vier Jahre, das ist unmöglich zu prognostizieren. Besonders, wenn ein Virus derart mutationsfreudig ist“, sagt Umweltmediziner und Epidemiologe Hans-Peter Hutter von der MedUni Wien. Die Gefährlichkeit von Omikron hätte man selbst vor sechs Wochen noch nicht einschätzen können. Nun macht er Hoffnung: „Anfang Mai ist es vorbei.“ Nach dem Höhepunkt in dieser Woche sinke die Inzidenz nach längerer Abklingphase dann auf unter 50, ergeben seine Berechnungen. Zuletzt steckten sich im 7-Tages-Schnitt rund 1700 Personen pro 100.000 Einwohner an. Die Wahrscheinlichkeit einer Infektion sei derzeit hoch, sagt Hutter, absichtlich würde er sich aber nie anstecken, „egal um welche Viren oder Mutationen es sich handelt“.

Der Psychotherapeut und Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Uni Wien, Christian Korunka, sagt: „Maske und Impfung sollte man nicht vorschnell über Bord werfen.“ Beides sei entscheidend für das Ziel des „abgebremsten Durchlaufens“, was von zahlreichen Expertinnen und Experten empfohlen wird. Besonders herausfordernd sei die Omikron-Entwicklung für ängstliche Menschen.

„Die Botschaft, dass möglicherweise niemand einer Ansteckung entkommt, erschüttert ihren eingeübten Mechanismus zur Angstbewältigung, etwa maximale Vorsicht“, sagt Korunka. Weniger ängstliche Personen hätten die Situation am Beginn oft falsch eingeschätzt. „Covid-19 war damals eindeutig gefährlicher als die Grippe.“ 

Wenn sich das nun ändern sollte, könnte man einen Begriff sanft entsorgen, der auch Omikron noch so richtig pestig wirken lässt: „Durchseuchung“. 

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.