Ich habe ein Gefühl

Lexikon der modernen Emotionen – Nummer 14: Grimassenpanik

Wie fühlen wir uns heute? Was spüren wir da eigentlich genau? Und ist das gut so? Eine Forschungsreise durch die Welt der zeitgemäßen Empfindungen.

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Gefühl Nr. 14: Grimassenpanik, oder der unangenehme Verdacht, die eigene Mimik nicht mehr so richtig im Griff zu haben.

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Eine kleine Vorwarnung: Die folgende Geschichte hat ein starkes Ost-West-Gefälle. Wie Wienreisende wissen, verläuft zwischen der Bundeshauptstadt und Restösterreich eine unsichtbare Grenze: der Wendekreis der Maske. Am deutlichsten spürt man diesen bei Stadtgrenzüberschreitungen per Bahn, bei denen, von einer Sekunde auf die andere, der Mund-Nasen-Schutz obligatorisch wird. Ich lebe die meiste Zeit innerhalb dieser Grenze und trage deshalb immer noch recht häufig einen Mund-Nasen-Schutz. Ich habe mich in den vergangenen zweieinhalb Jahren ganz gut daran gewöhnt - und ich habe in dieser Zeit gelernt, mit den Augenbrauen zu reden. Meine leichtesten Übungen: Interesse, Belustigung, Kritik. Schon schwieriger wird es bei: Glaube, Liebe, Hoffnung. Aber ich arbeite daran.

Es handelt sich um die mimische Entsprechung der bangen Frage: Habe ich das gerade laut gesagt?

Während meine Augenpartie also dank Covid sehr eloquent wurde, ist mir das Restgesicht ein bisschen eingeschlafen. Beziehungsweise: aus dem Ruder gelaufen. Mimisch habe ich dank COV-19 und FFP2 das kleine 1x1 verlernt. Unter der Maske kann ich ja so schief grinsen, wie ich will. Ich kann sogar gefahrlos den Mund offen stehen lassen, die Nase rümpfen, Zunge einrollen und was man halt so macht beim Bahnfahren und Leutebeobachten. Aber dann sitze ich einmal nicht in der Bahn, sondern zum Beispiel im Café, also ohne Maske, beobachte die Leute und denke mir nichts Böses, aber mache dabei ein Gesicht wie Jim Carrey beim Lustigsein. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Womöglich habe ich einfach nur, was ich in letzter Zeit häufiger habe: Grimassenpanik. Es handelt sich um die mimische Entsprechung der bangen Frage: Habe ich das gerade laut gesagt? Oder warum schauen die da drüben grad so pikiert?

Und so kommt es vor, das sich mich auch ohne Maske unbemerkt fühle und meinen Gefühlsmuskeln freien Lauf lasse.

Wo keine Maskenpflicht herrscht, beginnt vermientes Gelände. Vermient im Sinne von: falsch dreingeschaut. Man ist mit Maske ja gewiss nicht unsichtbar, aber eben doch einigermaßen inkognito. Diese Semi-Transparenz hat sich bei mir als Grundgefühl verfestigt. Und so kommt es vor, dass ich mich auch ohne Maske immer mal wieder versehentlich unbemerkt fühle und meinen Gefühlsmuskeln freien Lauf lasse. Dass der Jim Carrey in mir den Buster Keaton überholt - und alle können es sehen. Oder? Habe ich gerade wirklich so dreingeschaut? Nun gut, mir bleibt immer noch die U1.

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Wie oft habe ich dieses Gefühl: immer, wenn ich tagträume (also ungefähr täglich)

Mit welchen Gefühlen ist es artverwandt: Wahrnehmungstrübung, Lampenfieber

Wenn ich über dieses Gefühl ein Lied schreibe, trägt es folgenden Titel: Face off

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.