Ich habe ein Gefühl

Lexikon der modernen Emotionen – Nummer 15: Kipppünktlichkeit

Wie fühlen wir uns heute? Was spüren wir da eigentlich genau? Und ist das gut so? Eine Forschungsreise durch die Welt der zeitgemäßen Empfindungen.

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Gefühl Nr. 15: Kipppünktlichkeit, oder der Verdacht, dass man auch die besten Bekannten womöglich gar nicht so genau kennt – und dass die nächste böse Überraschung nur eine falsche Bemerkung entfernt ist.

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Enttäuschte Erwartungen gehören zu den schlimmeren Erfahrungen, die die menschliche Psyche im Lauf eines langen Tages machen kann, und leider betrifft sie nicht nur hoffnungsvolle Fußballfans oder Nobelpreisanwärter*innen, sondern auch Leute wie dich und mich; insbesondere dann, wenn wir miteinander reden. Dann kann es nämlich vorkommen, dass wir – die wir uns seit Jahren kennen, schätzen, mögen – über ein Thema stolpern, über das wir noch nie geredet haben, oder vielleicht auch nicht unter diesen Umständen, in dieser Facette, in solcher Stimmung. Nur zum Beispiel: über den Ukrainekrieg. Und dann stellt sich heraus, dass du, was ich nie für möglich gehalten hätte, ganz anderer Meinung bist als ich. Und wenn wir Pech haben, betrifft diese Meinung einen Punkt, bei dem ich keinen Spaß verstehe. Was ja, zugegeben, in letzter Zeit etwas einfacher geworden ist, mein Spaßverständnis ist nämlich bei so manchen Themen im Schwinden begriffen. Also zum Beispiel beim Ukrainekrieg, bei der Coronapandemie, bei der vermaledeiten Wokenessdebatte.

Was steckt noch in dir, was ich nicht erwartet hätte?

Und auf einmal hat unsere Bekanntschaft, die vielleicht sogar Freundschaft ist, einen Fleck. Und noch dazu einen, der leider nicht mehr blind ist: Wir sehen uns urplötzlich mit ganz anderen Augen, und fragen uns: Ja, kennen wir uns überhaupt? Was steckt noch in dir, was ich nicht erwartet hätte? Habe ich mich in dir getäuscht, und wenn ja: wie stark? Schlummert in dir vielleicht auch noch ganz anderer Bullshit? Ein verborgener Zorn gegen alle, die dir das N-Wort verbieten? Eine mir bislang unbekannte Sympathie für Ken Jebsen oder Alex Jones? Und was hieße das für unsere Bekannt- bis Freundschaft? Besser nicht weiter nachfragen, um des lieben Friedens willen?

Ach, wäre diese Bemerkung doch nie gefallen! Andererseits: Was wäre dann gewesen?

Denn natürlich ließe sich diese Erfahrung vermeiden, indem man nur über Harmloses plaudert, und tatsächlich haben wir das ja auch jahrelang gemacht. Aber je weniger harmlos die Weltlage, desto näher die falsche Bemerkung. Und wenn so eine Bemerkung einmal zwischen uns steht, ist sie da nur mehr schwer wegzubekommen. Dann ist der Kipppunkt schnell erreicht. Wir rufen einander nicht mehr so häufig an, wir ignorieren unsere Statusmeldungen. Wir leben uns auseinander. Ach, wäre diese Bemerkung bloß nie gefallen! Andererseits: Was wäre dann gewesen? Falsche Freundschaft? Auch nichts, was man unbedingt erstreben müsste. Aber selbst die besten Freunde sind halt manchmal Idioten, ja sogar ich selber war schon ein, zwei Mal einer. Was wiegt wie schwer, worüber kann Gras wachsen? Die Wahrheit ist: Es kommt drauf an, und manchmal nur auf ein Wort.

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Wie oft habe ich dieses Gefühl: selten, zum Glück

Mit welchen Gefühlen ist es artverwandt: Liebeskummer

Wenn ich über dieses Gefühl ein Lied schreibe, trägt es folgenden Titel: Es war nur ein Wort.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.