Ernährungssicherheit

EU-Naturschutz in Gefahr: Kann die Landwirtschaft auf Pestizide verzichten?

Mit dem Europäischen Green Deal hat die EU-Kommission einen ambitionierten Vorschlag für mehr Umweltschutz auf den Tisch gelegt. Doch Europas Konservative legen sich quer: Mit ihnen wird es keine Halbierung des Pestizideinsatzes geben, auch die Wiederherstellung von Ökosystemen geht ihnen zu weit.

Drucken

Schriftgröße

Lorenz Mayr gibt dieser Tage ein reichlich skurriles Bild ab. Mit einem Staubsauger auf dem Rücken geht der niederösterreichische Landwirt seine Felder ab. In regelmäßigen Abständen bleibt er stehen und schaltet das Gerät ein. Mayrs Gegner ist nicht Staub, sondern der Rübenderbrüssler. Ende März setzte der Bauer Zuckerrübensamen in die Erde ein, Ende April war das Feld von den Käfern kahl gefressen. Die 600 mit Pheromon-Lockstoffen bestückten Kübel, die Mayr eingegraben hatte, brachten nicht den gewünschten Erfolg. Regelmäßig saugte er die darin gefangenen Schädlinge ab, letztlich entkamen aber zu viele der Falle. Mayr startete einen zweiten Versuch – und bangt jetzt wieder um seine Kulturen. „Der Rübenderbrüssler zieht eine Spur der Verwüstung, und wir haben keine Mittel mehr, um ihn hintanzuhalten“, klagt der Landwirt. Bis vergangenes Jahr konnten mit Neonicotinoiden gebeizte Samen gesät werden. Wenn die Käfer die Blätter der Pflanze fressen, nehmen sie die Wirkstoffe auf und sterben. Diese Methode ist nicht mehr erlaubt.

Die Neonicotinoide sind nicht das erste Pestizid, dem es an den Kragen geht – und es wird auch nicht das letzte sein: Die EU-Kommission will den Einsatz von Pestiziden deutlich einschränken. Und erfährt nun erbitterten Widerstand. Der Streit um das Naturschutzpaket des europäischen „Green Deal“ dreht sich um wichtige Fragen, die alle Menschen in Europa betreffen. Welche Lebensmittel kommen auf unseren Tisch? Welche Art von Landwirtschaft wollen wir? Und wie sollen wir unsere Umwelt gestalten?

Tatsächlich hat sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen viel vorgenommen. Mit dem Green Deal soll die EU bis 2050 klimaneutral werden – durch umweltfreundliche Finanzpolitik, Kreislaufwirtschaft, saubere Industrie, Naturschutz und nachhaltige Landwirtschaft. Was nun mit dem Green Deal auf dem Tisch liegt, kann getrost als ambitioniert bezeichnet werden. Doch ein zentraler Teil des Vorhabens wird torpediert – ausgerechnet durch von der Leyens eigene Fraktion, die Europäische Volkspartei (EVP). Die Konservativen wollen das Naturschutzpaket aus dem Green Deal herausverhandeln. Es geht dabei um eine Reduktion des Pestizidverbrauchs um EU-weit 50 Prozent bis 2030 sowie die Renaturierung von Ökosystemen.

Und so kam es, dass „Mr. Green Deal“, EU-Umweltkommissar Frans Timmermans, Ende Mai im Agrarausschuss des Europaparlaments für die Zustimmung für sein Vorhaben betteln muss. „Bitte schlagt uns nicht die Tür vor der Nase zu“, ruft der niederländische Sozialdemokrat den Abgeordneten zu, „bitte, bitte lasst uns versuchen, einen Konsens zu finden.“ Timmermans warnt davor, kurzfristige politische Erfolge vor die Lösung von Problemen zu stellen, die er als die wichtigsten der Menschheit beschreibt: Klimakrise und Artensterben.

Geholfen hat es nicht. Unmittelbar nach Timmermans Auftritt im Europaparlament stimmt der Agrarausschuss mehrheitlich gegen die Verordnung zur Renaturierung. Mitte Juni folgt eine Abstimmung darüber im Umweltausschuss, danach geht der Vorschlag ins Plenum. Auch die Verhandlungen über die Pestizidverordnung sollen bis September abgeschlossen sein. Ohne die Zustimmung der Konservativen haben die Vorhaben der EU-Kommission keine Chance.

Sorge um Bauernsterben

Der Streit über das Naturschutzpaket ist zum größten Zankapfel in Brüssel geworden. Auf der einen Seite stehen die EU-Kommission, Grüne, ein Großteil der Sozialdemokraten und Umweltverbände. Auf der anderen haben sich Europas Konservative mit Rechtsextremen und Rechtspopulisten zusammengetan. Die Liberalen sind gespalten. Zuletzt forderte auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eine „Regulierungspause“, Belgien und Finnland zogen nach, und auch die Niederlande zeigen sich nun skeptisch.

In ihrem Kampf gegen das Naturschutzpaket zieht die EVP mit zwei Hauptargumenten ins Rennen: Gefährdung der Ernährungssicherheit und Bauernsterben.

„Die Wiederherstellung der Natur und die Pestizidverordnung führen in die falsche Richtung“, sagt die ÖVP-Europaabgeordnete Simone Schmiedtbauer. Weniger Pflanzenschutzmittel ohne wirksame Alternativen würden zu weniger Erträgen führen, die EU müsste mehr importieren, was wiederum mehr CO2-Ausstoß bedeute. Österreichs Rübenbauern, sagt Schmiedtbauer, seien bereits an der Belastungsgrenze angelangt. Durch die Pestizidverordnung sei auch die Kartoffel- und Rapsproduktion gefährdet.

Tatsächlich geht die Zahl der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe seit Jahrzehnten zurück. 154.593 gab es 2020 laut Statistik Austria in Österreich. Das bedeutete gegenüber 2010 ein Minus von fast 19.000 oder elf Prozent. „Wir sehen zwar einen Strukturwandel, aber im EU-Vergleich sind die Rückgänge erstaunlich gering“, sagt WIFO-Agrarökonom Franz Sinabell. Warum einige Bauern dennoch das Handtuch werfen, habe im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen würden viele in andere Branchen wechseln, wo die Einkünfte stabiler sind. Zum anderen komme hier der technologische Wandel zum Tragen: „Während man früher für die Bewirtschaftung von einem Hektar 20 Stunden und mehr benötigte, sind es heute nur noch acht. Dadurch ging auch die Zahl der Beschäftigten zurück“, so Sinabell.

Dass die geplante Pestizidverordnung zu einem Bauernsterben führen werde, wie oft behauptet, dafür gebe es keine Evidenz, so der Experte. „Was jedoch schon eintreten wird, ist, dass bestimmte Arten nicht mehr in dem Umfang wie bisher produziert werden können“, sagt Sinabell.

Laut dem Vorschlag der EU-Kommission muss nicht jedes Land den Pestizidverbrauch halbieren. Vorgesehen ist eine Reduktion um mindestens 35 Prozent. Landwirte müssen es bei der Schädlingsbekämpfung zuerst mit umweltfreundlichen Alternativen versuchen, chemische Pestizide dürfen nur im Notfall eingesetzt werden.

In Niederösterreich habe der Rübenderbrüssler mittlerweile 5000 von rund 38.000 Hektar Zuckerrübenflächen kahl gefressen, klagt Lorenz Mayr. Damit hätte man die Bevölkerung Wiens ein Jahr lang mit Zucker versorgen können. „Eigentlich wäre das ein Spitzenrübenjahr geworden. Im April gab es genug Regen für die Keimung der Saat, und die Käferpopulation war so gering wie seit Jahren nicht mehr“, so der Landwirt.

Sein Kollege, Bio-Bauer Walter Klingenbrunner, ist mit der Entwicklung seiner Zuckerrübenpflanzen indes recht zufrieden. 3,5 Hektar hat er im Tullnerfeld angebaut: „Sie wachsen sehr schön, ich erwarte einen guten Ertrag.“ Mit dem Käfer habe er heuer kaum zu kämpfen gehabt. „Das Auftreten ist regional sehr unterschiedlich. Die Bio-Bauern in den besonders

betroffenen Regionen haben dieses Jahr vorsorglich gar keine Zuckerrüben angebaut“, erzählt Klingenbrunner. Dass die Erträge in der ökologischen Landwirtschaft oft geringer sind, muss aber auch er

einräumen. „Ich habe bei den Zuckerrüben zehn bis 15 Prozent weniger Ertrag als meine Nachbarn, die konventionell bewirtschaften.“ In anderen Regionen betrage der Unterschied bis zu 30 Prozent, auch beim Getreide habe die Bio-Version das Nachsehen. Bei biologisch produziertem Mais und Sojabohnen erziele man meist ebenbürtige Erträge.

Technologie als Lösung?

Laut Norbert Lins, dem christdemokratischen Vorsitzenden des Agrarausschusses, gefährden eine Halbierung des Pestizidverbrauchs in der EU und das Verbot von Pflanzenschutzmitteln in Schutzgebieten sogar die Lebensmittelsicherheit in Afrika: „Wer das verneint, der gibt seine Zustimmung zur Abhängigkeit dieser Länder von Russland“, sagt der CDU-Politiker.

Umweltverbände laufen gegen diese Behauptung Sturm, sprechen von Zynismus und davon, dass Agrar-Lobbyisten humanitäre Argumente nützen, um ihre Interessen durchzusetzen.

Für Mohammed Chahim, Vize-Vorsitzender der Sozialdemokraten im Europaparlament, sind Lins’ Aussagen „lächerlich“: „Der Grund für die Abhängigkeit afrikanischer Staaten ist, dass sie ihre Produkte nicht in die EU exportieren können.“ Das billige Getreide aus der Ukraine schade afrikanischen Bauern. Klüger wäre es, Technologie mit ihnen zu teilen und dafür zu sorgen, dass mehr Nahrungsmittel lokal erzeugt werden.

Geht es nach der EVP, dann liegt die Lösung des Problems woanders: „Wir müssen die gleichen Mengen produzieren wie bisher“, sagt Lins, „neue Technologien, neue Zuchttechniken, bessere Maschinen – das sind die richtigen Instrumente.“

Mit der Pestizidverordnung sei die Lebensmittelsicherheit nicht gegeben, behaupten die einen. Ohne sie sei das Artensterben nicht aufhaltbar, meinen die anderen.

Zu Letzteren gehört Bio-Bauer Hannes Wiesmayer. Am vergangenen Pfingstmontag steht er breitbeinig auf seinem Kartoffelfeld in Hennersdorf bei Wien und führt vor, wie er die Schädlinge von seinen Pflanzen entfernt: händisch, Stück für Stück, Trieb für Trieb. Drohnen oder anderes Hightech-Gerät braucht Wiesmayer nicht, sein Traktor, ein Oldtimer aus den 1970er-Jahren, hat klarerweise nicht einmal GPS.

Wiesmayers Felder umfassen gerade einmal 15 Hektar, das Kartoffelfeld misst einen halben Hektar, in einer Stunde macht er den Kartoffelkäfern hier den Garaus.

Wiesmayer erntet händisch, vermarktet seine Produkte direkt – Wildfleisch, Geflügel und Eier, Kartoffeln, Topinambur und Hafer – und bezog bisher keine Fördermittel aus Brüssel. „Ein landwirtschaftlicher Betrieb ist ein Unternehmen, das funktionieren muss“, sagt er. Außerdem sei ihm der bürokratische Aufwand zu hoch.

Der 51-Jährige war der erste Bio-Bauer im Ort. Sein Vater sei skeptisch gewesen, sehe aber mittlerweile ein, dass es funktioniert. In den vergangenen zehn Jahren hat Wiesmayer nach und nach Felder gepachtet und den Betrieb vergrößert. Schädlinge händisch von den Pflanzen zu zupfen, ist für konventionelle Bauern oft keine Option. „Wenn die Preise für die Produkte niedrig sind, die Prozesse aber immer arbeitsintensiver werden, dann lohnt sich das nicht“, sagt WIFO-Agrarökonom Sinabell.

Wiesmayer ist überzeugt, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hat. Zuletzt waren Bio-Produkte deutlich weniger von der Teuerung betroffen als konventionelle Ware – eine Folge des Preisanstiegs bei Kunstdünger und hoher Energiekosten.

Schockwellen in der EVP

Kritiker werfen der EVP vor, Ängste zu schüren und Europas Bauern weiter zu verunsichern. Die Argumente gegen die Pestizidreduktion hielten einem Faktencheck nicht stand, heißt es vonseiten der NGO „Global 2000“. „Die Ernährungssicherheit ist mit dem Naturschutzpaket nicht in Gefahr“, sagt auch der Agrarökonom Klaus Salhofer von der Universität für Bodenkultur. Einen Anstieg der Lebensmittelpreise könnte es allerdings schon geben. Die EVP habe demnach ein bisschen recht: „Man muss den Bauern alternative Instrumente des Pflanzenschutzes bieten und ihnen mehr Zeit für die Umstellung einräumen.“

Mit konkreten Vorschlägen für Alternativen zu den geplanten Gesetzen ist die EVP bisher nicht aufgefallen.

„Ihr Verhalten nimmt den Bauern die Planungssicherheit“, sagt die grüne Europaabgeordnete Sarah Wiener. „Die Konservativen malen ein Horrorszenario an die Wand, ihre Behauptungen sind längst wissenschaftlich widerlegt.“ Die EVP wolle verhindern, dass wichtige Gesetzesvorhaben aus dem Green Deal noch in dieser Legislaturperiode abgeschlossen werden.

Das Europäische Parlament und der Rat der Staats- und Regierungschefs haben im Dezember 2021 ihren politischen Willen zum Green Deal erklärt. Wichtige Punkte, darunter die Reduktion von CO2, sind bereits beschlossen.

Vor einem Jahr hätten sich Europas Konservative vorgenommen, alle vor dem Krieg beschlossenen Gesetzesvorhaben noch einmal durchzusehen, heißt es aus der Fraktion. Man sorge sich um die Ernährungssicherheit, immerhin bedeute die geplante Renaturierung weniger Fläche für die Landwirtschaft. Die EU-Kommission wiederum betont, dass die Flächen nach wie vor wirtschaftlich genutzt werden dürfen – „im Einklang mit der Natur“.

Der Widerstand der EVP gegen das Naturschutzpaket hat den Wahlkampf eingeläutet. Vor den Europawahlen im Juni 2024 zittern die Konservativen um die Stimmen der Bauern. „Es gibt fraktionsintern keine Debatte über den Green Deal, in dem die Bauern nicht vorkommen“, heißt es aus EVP-Kreisen.

Wenn der Green Deal so, wie er jetzt auf dem Tisch liegt, durchgeht, dann wäre das ein Schritt in die richtige Richtung.

Klaus Salhofer

Agrarökonom

Für Schockwellen bei den Konservativen sorgte auch der Erfolg der „Bauern-Bürger-Bewegung“ (BBB) in den Niederlanden. Die Rechtspopulisten wurden bei den Provinzwahlen im März auf Anhieb stärkste Kraft; ausschlaggebend für den Erfolg war die Wut der Bauern über neue Umweltauflagen und eine geplante Reduktion der Nutztierbestände.

Die Angst der EVP vor Stimmverlusten und die Macht der Agrarlobby erklären den Widerstand der Konservativen gegen den Green Deal von der Leyens. Zwar deutet vieles darauf hin, dass die EVP die CDU-Politikerin zur Spitzenkandidatin küren will. Zur Kommissionspräsidentin gewählt wurde sie 2019 aber auch mit den Stimmen der Grünen, die sie anschließend auch in ihr Kabinett holte. In den vergangenen Jahren verfolgte von der Leyen eine außergewöhnlich grüne Politik – zu grün, heißt es aus ihrer Fraktion. Weil Konservative sich schwertun, eine Kommissionschefin aus den eigenen Reihen zu kritisieren, habe die EVP die Zähne zusammengebissen und überall mitgestimmt – bis jetzt.

Ein Jahr vor den Wahlen sind die Nervenkostüme dünner geworden. Man wolle in den laufenden Verhandlungen Änderungen durchbringen, hieß es noch vor Kurzem. Doch vergangene Woche stieg die EVP aus den Verhandlungen über das Gesetz zur Renaturierung aus. Es sei schlicht nicht gut genug, hieß es. Die EU-Kommission solle schnellstmöglich einen neuen Vorschlag machen.

„Wenn der Green Deal so, wie er jetzt auf dem Tisch liegt, durchgeht, dann wäre das ein Schritt in die richtige Richtung“, sagt Agrarökonom Salhofer. Was die Natur betrifft, sei das Vorhaben der EU-Kommission „das ambitionierteste, was wir je im Bereich der Landwirtschaft gesehen haben“.

„Wenn die Pestizidverordnung so durchgeht, ist das eine Katastrophe“, sagt hingegen Lorenz Mayr. „Gott sei Dank ist die EVP dagegen.“ Der Rübenbauer kann beruhigt sein: Ohne Europas Konservative wird es die Umsetzung des Naturschutzpakets nicht geben.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.

Christina   Hiptmayr

Christina Hiptmayr

ist Wirtschaftsredakteurin und Moderatorin von "Vorsicht, heiß!", dem profil-Klimapodcast (@profil_Klima).