Kampfzone Krankenkassa: "Es scheitert an Strukturen und Personen“

Im profil-Interview erklärt Martin Brunninger, warum das Funktionärsparadies an der Spitze des Gesundheitssystems gar so resistent gegen Reformen ist – und warum er nicht in die Nähe der FPÖ gerückt werden will.

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Ein Job-Einstieg mit jeder Menge PS: Als Martin Brunninger am 1. Juli 2019 seinen Dienst als Chef des Dachverbands der Sozialversicherungsträger antrat, tat er das in der Erwartung, als Reformmotor im Gesundheitssystem wirken zu können. Doch waren an seinem neuen Arbeitsplatz Motoren anderer Art wichtiger? Gleich zwei Limousinen der Marke Audi und zwei Chauffeure seien ihm als Büroleiter zur Verfügung gestanden, erzählt Brunninger im profil-Interview. Unnötiger Luxus, den er sich nicht auf Kosten der Versicherten leisten wollte: Er habe die Chauffeure in die Poststelle versetzt und angeordnet, dass die Autos verkauft werden.

Es war ein symbolischer Bruch mit einem Privilegien- und Funktionärssystem, das die Selbstverwaltung des Sozialversicherungssystems seit Jahrzehnten fest im Griff hält. Brunninger hatte 20 Jahre lang im Ausland gelebt. Der Investmentbanker und studierte Biochemiker sowie Gesundheitsökonom war ein echter Quereinsteiger. Er soll auf einem FPÖ-Ticket zum Top-Job im Dachverband gekommen sein – dazu später mehr. Fest steht jedenfalls: Obwohl er dort leitend tätig war, blieb der gebürtige Oberösterreicher ein Fremdkörper im System. Bis es im Juli 2022 zum endgültigen Bruch und zur Dienstfreistellung kam.

Über Erfolg und Misserfolg der Ära Brunninger im Dachverband – und gegen ihn erhobene Vorwürfe – wird noch Bilanz zu ziehen sein. Durchaus möglich, dass seine Aussagen vom Frust eines gescheiterten Managers geprägt sind. Dennoch: Angesichts der notorischen Reformschwierigkeiten in der Sozialversicherung verdient der Bericht eines Insiders aber jedenfalls schon jetzt Beachtung.  

„Ich war am Anfang vielleicht ein bisschen naiv“, sagt Brunninger heute. Als Chef des Dachverbandes hätte er die Ziele der ÖVP-FPÖ-Kassenreform vorantreiben sollen, das heißt: Sparpotenziale heben. Das Versprechen des türkis-blauen Prestigeprojekts war es, bis 2023 die viel zitierte „Patientenmilliarde“ in der Verwaltung einzusparen. Dafür wurden die neun Gebietskrankenkassen zur Gesundheitskasse (ÖGK) verschmolzen, die Versicherungen der Selbstständigen und der Bauern zur SVS fusioniert und die der Eisenbahner und der Beamten zur BVAEB. Die Unfallversicherung (AUVA) und die Pensionsversicherung (PVA) blieben bestehen. Über den nunmehr fünf statt 21 Playern sollte der Dachverband stehen, der aus dem früheren Hauptverband der Sozialversicherungsträger hervorging.

Doch bald schon musste Brunninger feststellen, dass die fünf Träger lieber ein Eigenleben führen. Er sagt: „Alle fünf waren sich einig: Sie wollen einen schwachen Dachverband und keinen, der kontrolliert.“   

Es wird nichts herauskommen bei der Reform. Nicht, weil nichts drin wäre für die Versicherten. Es scheitert an Strukturen und Personen.

Martin Brunninger, 50

Ex-Büroleiter des Dachverbands der Sozialversicherungsträger

Beispiel Immobilien: Die fünf Sozialversicherungsträger mit ihren 16.000 Mitarbeitern verwalten eine Vielzahl von Gebäuden – allerdings jeder Träger für sich. „Ich wollte ein einheitliches Immobilienmanagement. Laut meiner Schätzung sind da 200 bis 300 Millionen Euro an Einsparungen drinnen, ohne dass man einen Quadratmeter verkauft, sondern einfach nur durch gemeinsame Verwaltung.“ Ergebnis: Die fünf „Entscheider“ in ÖGK und Co. hätten sich ihre Kompetenz nicht wegnehmen lassen wollen, sagt Brunninger. 
Am Eigenleben der fünf Träger übte auch der Rechnungshof in einem Rohbericht zur Kassenreform viel Kritik – profil berichtete vor zwei Monaten ausführlich. Entgegen der türkis-blauen Ankündigung wurden die IT-Systeme der Träger nicht zusammengeführt. Stattdessen sind die Kosten in diesem Bereich seit der Reform um 20 Prozent explodiert. Von einem gemeinsamen Fusionsplan fehlte laut den Prüfern jede Spur. Brunninger bestätigt das und meint: ÖGK, SVS und BVAEB hätten sich gesträubt. Sie orchestrierten ihre Fusionen weitgehend autonom und engagierten jeweils eigene Consultingunternehmen. Mit ein Grund, dass der Rechnungshof statt der versprochenen „Patientenmilliarde“ Mehrkosten von über 200 Millionen Euro bis 2023 erwartet. 

Wer sich ein Bild von der Schrebergarten-Mentalität bei den Sozialversicherungsträgern machen will, braucht nur die Websites des Dachverbandes, der ÖGK und der SVS anzusteuern. Bereits vor der Kassenreform startete das trägerübergreifende Serviceangebot „MeineSV“. Alle Versicherten können sich dort die zukünftige Pension ausrechnen lassen, e-Rezepte abrufen, Wahlarztrechnungen einreichen und mehr. Nach der Reform entwickelten ÖGK und SVS jeweils eigene Portale, die dasselbe können. „Völligen Unfug“ nennt der gefrustete Ex-Dachverbandschef das: „,MeineSV“ ist wirklich eine sehr gute App. Wenn man das jetzt zerstückelt, wird es mehr kosten. Wir haben im Dachverband darum gekämpft, dass es nicht passiert, sondern dass man ‚MeineSV‘ nimmt.“ 

Brunninger fallen immer neue Anekdoten ein, wo der Dachverband von seinen Trägern ausgebremst wurde. Beispiel Vorschaurechnung: Während des Höhepunkts der Coronapandemie hatte das Gesundheitsministerium regelmäßig Kostenprognosen verlangt. Der Dachverband sollte sie von allen Trägern einsammeln, aufbereiten und ans Ministerium mailen. „Am Tag davor haben uns die Träger diese großen Spreadsheets geschickt. Das heißt, wir hatten nur ein paar Stunden, um es zusammenzufügen. Zeit für eine Analyse war nicht. Das war natürlich absichtlich so getimt.“

Brunningers Befund: „Der Rechnungshof wird am Ende aus den falschen Gründen recht haben. Es wird nichts herauskommen bei der Reform. Aber nicht, weil nichts drin wäre für die Versicherten. Es scheitert an Strukturen und Personen.“ 

Wie sorgt das System Sozialversicherung dafür, dass ungeliebte Zentralisierungsbestrebungen verlässlich im Sand verlaufen? Mit „Machtspielchen“, wie Brunninger meint. „Es wird keiner offiziell sagen: Nein, das wollen wir nicht. Sie machen es sehr geschickt.“ Als Büroleiter im Dachverband war Brunninger der sogenannten „Konferenz“ berichtspflichtig; einem Gremium aus Funktionären jener fünf Sozialversicherungsträger, die er gerne auf eine einheitliche Linie bringen wollte. Er sei jedoch „dazu genötigt worden“, mit den – mehrheitlich ÖVP-nahen – Generaldirektoren jener Sozialversicherungsträger informelle Vorgespräche zu führen, erzählt Brunninger. Die Tagesordnungspunkte für die Gremialsitzungen hätten mit diesen abgestimmt werden müssen, obwohl das im Gesetz beziehungsweise der Geschäftsordnung gar nicht vorgesehen sei. Ansinnen wie ein gemeinsames Immobilienmanagement hätten die Kompetenzen der einzelnen Generaldirektoren beschnitten – und seien somit oft gleich im Vorfeld abgewürgt worden. Die übergeordneten politischen Funktionäre – Arbeitgeber- sowie Arbeitnehmervertreter – wiederum seien „fachlich so wenig drin“ in den Themen, dass sie sich „argumentativ nicht exponieren“ hätten wollen, behauptet Brunninger. Und: „Dass die Leute so politisch und unsachlich arbeiten, war mir in der Form nicht bewusst.“ 

Auch die Atmosphäre bei den Gremialsitzungen dürfte inhaltlicher Tätigkeit nicht immer zuträglich gewesen sein. Brunninger erzählt, wie einer Person auf der sozialdemokratischen Funktionärsseite, welche laufend von den anderen Parteien überstimmt wurde, der Kragen platzte: Die Person habe „mit Sachen herumgeschmissen“ und Leute angeschrien. Bis zu einem gewissen Grad kann Brunninger das sogar nachvollziehen: ÖVP und FPÖ hätten die SPÖ-Funktionäre „immer ausrutschen lassen, das hat natürlich zu Hass geführt“. Vor einigen Monaten sei zwischen ÖVP- und SPÖ-Vertretern wieder Konsens angesagt gewesen. Nicht jedoch ihm gegenüber: Brunninger erzählt, dass das Funktionärsgremium ohne sein Wissen neue Abteilungsleiter im Dachverband bestellt habe. Mittel, mit denen der Dachverband normalerweise Vorschläge ausarbeiten hätte sollen, seien ihm immer mehr gekürzt worden. Die eigentliche „Kampfzone“ sei nicht zwischen den politischen Fraktionen, sondern zwischen Politik und pragmatischem Management, fasst der Gesundheitsökonom zusammen. 

Die Dienstautos waren zu diesem Zeitpunkt bereits vollständig abgeschrieben.

Kommunikationsabteilung des Dachverbandes

Fest steht, dass die Arbeitnehmer-Funktionäre von Beginn an keine Freude mit Brunninger hatten. Schon bei der Bestellung hieß es, Brunninger sei auf einem FPÖ-Ticket unterwegs, sein Stellvertreter auf einem der ÖVP. „Vielleicht war ich es auch“, sagt der frühere Dachverbands-Chef: „Aber deswegen bin ich kein Blauer.“ Er habe sich vor seiner Bewerbung mit Vertretern von FPÖ, ÖVP und auch SPÖ getroffen, erzählt Brunninger. Für ÖVP und FPÖ sei dieser – durch die Sozialversicherungsreform deutlich entwertete – Job ein „Nicht-Posten“ gewesen, meint Brunninger. „So, wie die Blauen und die Schwarzen das angelegt haben, war das eine unwesentliche Position.“ Er habe sie dann mit Inhalten wie Datenstrategie und Digitalisierung gefüllt, wodurch der Job plötzlich „ziemlich cool“ geworden sei. 

Wenn es von Funktionärsseite Attacken gegen ihn gegeben habe, sei danach immer gesagt worden: „Das ist nicht persönlich, das ist politisch“, rekapituliert Brunninger. Jemand von der  SPÖ-Seite habe einmal gesagt: „Er hat nicht in die Sozialversicherung gefunden.“ Das habe er als größtes Lob empfunden. Aus Sicht der politischen Funktionäre sei er – mangels Zugehörigkeit – eine „Postenverschwendung“ gewesen. Er sei unpolitisch und somit keine „Deal-Masse“ gewesen. 

Im Juli 2022 kam es freilich zum jähen Abgang Brunningers beim Dachverband: Zunächst wurde er dienstfrei gestellt, als Reaktion darauf legte er seine Funktion zurück. Die Dachverbandsspitze warf dem Manager – kurz gesagt – einen Verstoß gegen interne Leitlinien bei der Veranlagung von Versicherungsgeldern vor. Dass daraus ein Schaden entstanden wäre, wurde allerdings nie behauptet. Brunninger selbst bestreitet, etwas falsch gemacht zu haben. Er hat in der Zwischenzeit den Verdienstentgang aus seinem Vertragsverhältnis, das noch knapp ein Jahr gedauert hätte, eingeklagt. Im November trifft man einander vor Gericht. „Wir gehen davon aus, dass es einen Plan gab, meinen Mandanten loszuwerden“, sagt Brunningers Anwältin Katharina Körber-Risak. „Es war erkennbar, dass brisant klingende Vorwürfe aufgebaut werden sollten, um ihn rauszudrängen und seine Reputation zu beschädigen.“ Der Dachverband wollte sich auf profil-Anfrage nicht näher zu den Vorwürfen gegen den Ex-Büroleiter äußern und verwies auf ein laufendes Verfahren.

Dass Brunningers Untergebene seinen Anweisungen wenig Bedeutung zukommen ließen, zeigt sich letztlich auch an den Dienst-Audis, die der damalige Dachverbandschef eigentlich veräußern lassen wollte. Brunninger: „Die wurden an die ÖGK verschenkt, ohne das mit mir abzusprechen.“

Auf profil-Anfrage betont der Dachverband, die Autos seien „bereits vollständig abgeschrieben“ gewesen. Dem Vernehmen nach soll der potenzielle Verkaufswert allerdings bei etwa 50.000 Euro gelegen haben. Keine Patientenmilliarde zwar, aber auch nicht nichts.

Stefan   Melichar

Stefan Melichar

ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ).

Jakob   Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.