„Shrinkflation“: Die versteckte Teuerung im Einkaufswagen
Weniger Chips in der Tüte, weniger Waschpulver im Karton oder, wie zuletzt, weniger Schokolade in der Tafel: In Zeiten hoher Inflation kämpfen Hersteller mit ihren Kosten. Doch weil Preiserhöhungen am Regal unpopulär sind, wird oft die Füllmenge reduziert. Für Konsumentinnen und Konsumenten bleibt das trotzdem ein Ärgernis.
Schon seit Generationen ziert die lila Kuh die Verpackung der Milka-Schokolade. Traditionell wog eine Tafel 100 Gramm. Nun ändert sich das: Die Verpackung bleibt, die Tafel ist dünner und wiegt nur mehr 90 Gramm. In Deutschland rief das die Verbraucherschützer auf den Plan, vor dem Landgericht Bremen klagten sie gegen den Schokoladenhersteller Mondelez. Der Vorwurf: unlauterer Wettbewerb.
Es ist ein weiteres Kapitel im Streit um die sogenannte „Shrinkflation“. Seit Jahren bringt die Lebensmittelindustrie Produkte mit weniger Inhalt, aber nahezu unveränderter Verpackung in die Regale. Häufig geschieht die Umstellung des Produkts still und leise. Für Konsumentenschützer zu still und intransparent. Diese sehen darin eine versteckte Preiserhöhung – und damit eine gezielte Irreführung der Konsumenten.
Was ist „Shrinkflation“?
Der Begriff setzt sich aus den englischen Wörtern shrink (schrumpfen) und inflation zusammen. Unter Shrinkflation versteht man das Phänomen, dass Produkte zwar gleich verpackt bleiben, die enthaltene Menge jedoch reduziert wird – bei gleichbleibendem oder sogar steigendem Preis. Für Konsumentinnen und Konsumenten bedeutet das: weniger Inhalt zum gleichen Geld.
Die Klage der Verbraucherzentrale Hamburg gegen den Süßigkeitenkonzern Mondelez bringt nun auch die Konsumentenschützer in Österreich auf Ideen. Wie profil erfuhr, führt der Verein für Konsumenteninformation (VKI) in Wien ein ähnliches Verfahren gegen einen namhaften Hersteller. Gegen wen die Organisation klagt, wollte der VKI auf profil-Anfrage nicht kommentieren. Doch das Muster sei dasselbe: gleiche Verpackung bei weniger Inhalt. Durch den Gang vor Gericht erwarten sich die Verbraucherschutzorganisationen eine Signalwirkung für ganz Europa, meint VKI-Juristin Barbara Bauer zu profil, „natürlich müssten Hersteller dann befürchten, dass wir oder eine andere Organisation ebenso klagsseitig vorgehen.“
Dass solche Verbraucherklagen Wirkung entfalten können, zeigte sich im Vorjahr. Der VKI hatte gegen den Wiener Waffelproduzenten Manner geklagt, der die Zahl der Schnitten pro Tüte reduzierte. Das Oberlandesgericht Wien bestätigte die Irreführung. Manner reagierte und passte die Verpackung an die kleinere Füllmenge an.
Unübersichtlicher Markt
Dass der VKI überhaupt solche Erfolge einfahren kann, lag an der akribischen Marktbeobachtung über Monate hinweg – heute ist das allerdings schwieriger als früher. Denn bis 2009 galt eine EU-Verordnung, die einheitliche Abfüllmengen für Lebensmittel vorschrieb. Um den Herstellern mehr Flexibilität zu geben, wurde diese Regelung aufgeweicht. Schon damals zeigten sich Verbraucherschützer skeptisch. „Es wäre konsumentenfreundlicher, wenn es bei bestimmten Produkten, vorgegebene Größe gibt”, sagt Teresa Bauer, die regelmäßig Lebensmittel für den VKI untersucht. Seit der neuen Regelung finden sich in den Supermarktregalen Produkte in allen möglichen Formen und Größen.
Von der Shrinkflation sind laut VKI besonders Süßwaren und Knabberartikel betroffen. 100-Gramm-Einheiten sind längst kein Standard mehr. Produzenten können frei zwischen 90, 85 oder auch 75 Gramm wählen – zum Leidwesen der Konsumentenschützer. „Der Markt ist extrem unübersichtlich geworden. Es gibt unglaublich viele Größen und Varianten. Das zu vergleichen, ist sehr schwer“, sagt VKI-Expertin Teresa Bauer. Ihr Tipp, um sich Klarheit bei Lebensmittelpreisen zu verschaffen: auf den Grundpreis pro Kilo oder Liter achten.
Drei Handelskonzerne machen knapp 90 Prozent des täglichen Einkaufs der österreichischen Haushalte aus.
Geschäftsführer, Markenartikelverband Österreich
Ob eine Irreführung für Verbraucher vorliegt, kann nur im Einzelfall von Gerichten entschieden werden. Dass Produzenten ihre Verpackungsgrößen ändern, ist per se nicht illegal. Hohe Energiepreise und Lohnabschlüsse spiegeln sich auch in der Kostenrechnung der Lebensmittelindustrie wider, meint Günter Thumser vom Markenartikelverband Österreich. Hierzulande kommt dazu: „Drei Handelskonzerne machen knapp 90 Prozent des täglichen Einkaufs der österreichischen Haushalte aus“, kritisiert der Branchenvertreter. Die Marktkonzentration im Lebensmittelhandel schwäche die Verhandlungsposition der Hersteller. Wird sich der Handel mit seinen Lieferanten nicht über den Preis einig, müssen Letztere sich über die Füllmenge dem vorgegebenen Preis anpassen.
„Wenn Sie verschiedene Fruchtjoghurts im Regal sehen – und wir wissen, dass manche Früchte deutlich teurer sind als andere, kosten sie dennoch gleich viel“, erklärt Thumser. Dahinter steckt das Prinzip der Mischkalkulation: günstiger zu produzierende Sorten mit höheren Margen gleichen die teureren Varianten aus. Kalkulationen, die vom Supermarktregal aus nur schwer zu durchblicken sind. Doch seit Beginn der Teuerungswelle funktioniere dieses Modell im Handel nur mehr bedingt, denn laut dem Branchvertreter steigen die Kosten an allen Stellen. Die Konsequenz: Hersteller sehen sich gezwungen, die Füllmenge oder die Rezeptur anzupassen – oder nehmen Produkte ganz vom Markt. Denn, so Thumser: „Jede Veränderung bei den Inhalten bedeutet für den Produzenten automatisch mehr Kosten.“
Hersteller versus Handel
Es ist ein alter Konflikt, der regelmäßig neu aufflammt: Während die Hersteller die straffen Handelspreise beklagen, wirft der Lebensmittelhandel den Produzenten überhöhte Einkaufspreise vor – Stichwort: territoriale Lieferbeschränkungen. Günter Thumser, Geschäftsführer des Markenartikelverbands, verweist dabei auf die EU-Regelung, die den österreichischen Standort schützen soll. Auch internationale Marken wie Coca-Cola oder Haribo produzieren hierzulande – allerdings zu österreichischen Herstellungskosten. Fielen die territorialen Beschränkungen, könnte der Handel identische Produkte aus anderen EU-Ländern mit niedrigeren Produktionskosten importieren. Die Folge wäre eine Abwanderung der Lebensmittelindustrie aus Österreich, warnt Thumser.
Einig sind sich der Branchenvertreter und Konsumentenschutzverbände in einer Sache: Änderungen in der Füllmenge müssen für die Kundinnen und Kunden klar ersichtlich sein. Der VKI empfiehlt Firmen, die ihre Produkte verkleinern, entsprechend die Verpackung zu verkleinern. „Wenn man weniger einfüllt, dann sollte man auch die Verpackung mitverkleinern“, sagt VKI-Expertin Bauer. Branchenriesen wie Tiefkühlhersteller Dr. Oetker oder Frosta zeigen vor, dass das im Einklang mit Konsumentenschutz möglich ist.
Und wie steht es um die Milka-Schokolade? Mondelez betont indes, man bemühe sich um Transparenz. Preissteigerungen seien immer das letzte Mittel, heißt es vom Unternehmen. Im Fall von Milka kommt ein besonderer Faktor hinzu: Der Kakaopreis hat sich seit 2022 nach massiven Kursschwankungen, mehr als verdoppelt. Grund dafür sind eine steigende globale Nachfrage, Ernteausfälle in Westafrika durch Pilzbefall und der Klimawandel. Die Folge: weniger Angebot und damit höhere Einkaufspreise für den Schokoladenhersteller.
Um wettbewerbsfähig zu bleiben, habe man deshalb das Gewicht der Tafeln reduziert. Die neue Füllmenge sei klar kommuniziert worden – auf der Website, in sozialen Medien und auf den Verpackungen selbst, betont eine Sprecherin von Mondelez Deutschland: „Deshalb geben wir das neue Gewicht jeder Tafel deutlich auf der Verpackung an.“
Aber genau das reicht den Konsumentenschützern nicht. Zwar sei es Herstellern freigestellt, ihre Füllmengen zu bestimmen, sagt VKI-Juristin Bauer. Doch gerade bei etablierten Markenprodukten sei der Konsument an eine bestimmte Größe gewöhnt. „Ich gehe nicht davon aus, dass es für Verbraucher augenscheinlich ist, wenn sich die Verpackung geringfügig verändert, die Füllmenge aber sinkt“, so Bauer.
Fest steht: Auf die Verpackung selbst ist wenig Verlass. Klarheit bringt oft erst das Kleingedruckte.