Arzt und Influencer Gynaekollege: „Nicht in Romantisierung der ‚Hormonfreiheit‘ kippen“
Herr Usluer, auf Social Media reagieren Sie auf Videos, die Fake News verbreiten. Eine Falschbehauptung lautete, dass die Pille dem Körper hormonell schaden würde. Haben Sie den Eindruck, dass mit dem zunehmenden Einfluss von Social Media auch Desinformationen rund um Sexualität und Verhütung bei Patientinnen steigt?
Mertcan Usluer
Social Media ist das neue Wartezimmer – nur ohne Qualitätskontrolle. Da stehen zwischen echten Aufklärungsaccounts plötzlich Menschen mit Reichweite, aber ohne Fachwissen. Das ist gefährlich, aber auch eine Chance. Denn ich merke, dass viele junge Menschen durch Social Media überhaupt erst anfangen, Fragen zu stellen, die sie sich in der Praxis nie trauen würden. Mein Ziel ist die Lautstärke der Desinformation mit besserer Information zu übertönen – aber auf Augenhöhe, nicht von oben herab.
Klassische Verhütungsmittel wie die Pille werden 65 Jahre nach ihrer Einführung immer unbeliebter – oft ist von einer „Pillenmüdigkeit“ die Rede. Beobachten Sie diesen Trend auch bei Ihren Patientinnen?
Usluer
Ja, definitiv. Viele sind frustriert, weil sie Nebenwirkungen erlebt haben oder sich von der Medizin nicht ernst genommen fühlen. Die Pille ist für viele das Symbol eines Systems, das über Körper hinweg entscheidet. Das Misstrauen richtet sich weniger gegen das Präparat selbst, sondern gegen die Art, wie wir darüber reden: selten ehrlich, nie ganz transparent.
Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Usluer
Ich sehe sie ambivalent. Einerseits ist es großartig, dass Menschen Verantwortung für ihre Körper übernehmen und kritisch hinterfragen, was sie schlucken. Andererseits dürfen wir nicht in eine Romantisierung der „Hormonfreiheit“ kippen – als wäre alles Natürliche automatisch besser. Ich wünsche mir, dass Aufklärung nicht moralisiert, sondern informiert. Dass wir sagen: Du darfst hormonell verhüten, du darfst es lassen – aber bitte, tu’s mit Wissen, nicht mit Angst.
Lässt sich die „Pillenmüdigkeit“ auch mit dem aktuellen feministischen Backlash und dem gesellschaftlichen Rechtsruck in Verbindung bringen?
Usluer
Ja, auf jeden Fall. Ich glaube, viele vergessen, dass die Pille ursprünglich ein feministisches Werkzeug war – ein Symbol für Kontrolle über den eigenen Körper. Heute wird sie von manchen als Unterdrückungsinstrument gelesen. Beide Perspektiven sind verständlich, aber gefährlich wird es, wenn rechte Bewegungen diesen Diskurs kapern. Wenn plötzlich aus „Hormonfreiheit“ ein konservativer Rückschritt wird, der Frauen wieder in alte Rollen drängt. Das ist kein Zufall, das ist Strategie.
Man wirft jungen Menschen häufig vor, sie wären rechter, antifeministischer und schlechter aufgeklärt als die Generation vor ihnen. Stimmen Sie zu?
Usluer
Nein, das halte ich für eine bequeme Erzählung. Junge Menschen sind nicht „dümmer“, sie wachsen nur in einer lauteren, widersprüchlicheren Welt auf. Und sie müssen navigieren zwischen Reizüberflutung, Algorithmus und Unsicherheit. Ich sehe bei ihnen viel Mut und Neugier. Sie wollen es wissen – aber sie wollen es ehrlich wissen. Wenn sie Misstrauen zeigen, ist das oft ein Symptom eines Systems, das zu lange gepredigt statt erklärt hat.
Auf Social Media sind smarte Verhütungstools wie Temperaturmessringe oder -sensoren – etwa von „Trackle“ oder „Oura Ring“ – zunehmend präsent. Glauben Sie, dass die Temperaturmethode gerade ihr Comeback erlebt?
Usluer
Ja, aber mit Sternchen. Ich finde es großartig, dass Tech-Unternehmen sich endlich mit Körperwissen beschäftigen – aber das Marketing verkauft manchmal mehr als das Produkt wirklich ist. Die Temperaturmethode kann super sein, auch ohne fancy high-tech Device mit monatlichem Abo. Sondern mit stinknormalen Thermometern. Diese Tools werden gerade als Lifestyle-Produkt verkauft, nicht als medizinische Methode. Das ist ein Problem.
Werden diese Tools durch ihr „smartes Rebranding“ zu Unrecht gefeiert?
Usluer
Es ist ein bisschen wie mit Detox-Tees in Apple-Verpackung. Nur weil etwas schick aussieht und “künstliche Intelligenz” hat, ist es nicht automatisch nützlich oder sicher. Ich wünsche mir, dass wir über diese Tools genauso kritisch sprechen wie über hormonelle Verhütung – ohne Hype, aber auch ohne Dogma.
„Ich glaube, viele vergessen, dass die Pille ursprünglich ein feministisches Werkzeug war – ein Symbol für Kontrolle über den eigenen Körper. Heute wird sie von manchen als Unterdrückungsinstrument gelesen.“
Mertcan Usluer alias Gynaekollege
Sie arbeiten hauptberuflich als Arzt in der Gynäkologie, produzieren nebenbei aufklärerischen Content auf Social Media und schreiben Artikel als freier Journalist. Wie bringen Sie das zeitlich alles unter einen Hut?
Usluer
Gar nicht. Ich glaube, man „bringt“ das gar nicht unter einen Hut – man jongliert. Ich versuche gerade auch aufzuhören, so zu tun, als ginge das gut. Ich bin Arzt mit Depressionen und Burnout-Tendenz. Ich bin Journalist mit lähmendem Weltschmerz. Und ich bin Content-Creator, dessen Therapie für Selbstzweifel, externe Validierung ist. Da fällt beim Jonglieren auch mal was runter. Daher möchte ich mich in Zukunft selbst mehr priorisieren. Obwohl jeder meiner Berufe und Rollen ein Stück derselben Mission sind – Medizin zugänglicher und gerechter zu machen, möchte ich mich gerade hauptsächlich selber heilen.
In Ihren Videos kritisieren Sie auch die Medizinbranche und das Studiensystem, vor allem für mangelnde Diversität. Hatten Sie aufgrund Ihrer Social Media-Inhalte schon einmal berufliche Nachteile im echten Leben?
Usluer
Ja – und zwar deutlich. Ich wurde in der Vergangenheit gemobbt, es gab Kolleg:innen, die fanden es „gäbe keine Ungerechtigkeit im Gesundheitssystem“ und meine Inhalte als Angriff interpretierten. Ich verstehe meine Arbeit nicht als Angriff, sondern als Diagnose. Ich benenne Symptome eines Systems, das selbst krank ist.
Sollte der Zugang zum Medizinstudium erleichtert werden?
Usluer
Ich fände es schön, wenn wir Bildung nicht mehr als Privileg, sondern als Menschenrecht denken würden. Natürlich braucht’s gewisse Grundlagen, aber das jetzige System misst Intelligenz zu oft an Privilegien. Ich kenne so viele brillante Menschen, die wegen dem Numerus Clausus in Deutschland oder wegen Geld nie studieren konnten – und wahrscheinlich bessere Ärzt:innen wären als manch eine Person mit einem Notenschnitt von 1,0.