Doch das ist nicht alles, was die seit 2018 in Europa zugelassenen Medikamente können. Nach und nach kommen Wirkungsweisen zum Vorschein, von denen Forschende nicht zu träumen gewagt hätten. Vor welchen Krankheiten die Abnehmspritzen neben Adipositas noch schützen könnten – und gegen welche Leiden man sie in Zukunft noch einsetzen will.
Weniger Herzinfarkte, weniger Krebs
Der deutsche Herzspezialist Robert Schwinger jubelte, als er die Ergebnisse der sogenannten Select-Studie sah. „Eine Zeitenwende in der kardiovaskulären Therapie“, schrieb er 2024 in dem renommierten Fachblatt „CardioVasc“. Selbst nicht an der Studie beteiligt, berichtete er begeistert, was seine Kolleginnen und Kollegen herausgefunden hatten. Sie hatten 17.604 Menschen über drei Jahre hinweg beobachtet, die jeweils sowohl unter Adipositas als auch unter Herz-Kreislauf-Erkrankungen litten. Die eine Hälfte bekam Semaglutid, die andere ein Placebo. Ergebnis: Das Medikament reduzierte das Risiko, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu erleiden oder gar daran zu sterben, um 20 Prozent. „Das ist großartig, solche Zahlen haben wir noch nie zuvor gesehen“, sagt auch die Wiener Medizinerin Johanna Brix.
Ebenfalls für Aufsehen sorgte vergangene Woche eine Langzeitstudie aus Israel. Sie widmete sich Tumoren – denn wer an Übergewicht und Diabetes leidet, hat ein signifikant höheres Risiko, an Krebs zu erkranken. Yael Wolff Sagy vom Clalit Health Service in Tel Aviv untersuchte mit ihrem Team 6300 Patientinnen und Patienten, die vor acht Jahren wegen Übergewichts und Diabetes behandelt worden waren. Eine Hälfte hatte eine Magenoperation erhalten, die andere Hälfte Abnehmpräparate, die als die Vorgängermodelle von Ozempic und Mounjaro gelten. In beiden Gruppen waren inzwischen knapp 150 Personen an Krebsarten erkrankt, die mit Adipositas und Diabetes in Zusammenhang stehen, die häufigsten waren Brust-, Darm- und Gebärmutterkrebs.
Dass es in beiden Gruppen gleich viele Krebsfälle gab, machte Studienautorin Wolff Sagy allerdings stutzig. Denn die erste Generation der Spritzen war bei Weitem weniger effektiv als die aktuellen – die Magenverkleinerungsgruppe hatte viel mehr Gewicht verloren. Es musste also einen Effekt abseits der Gewichtsreduktion geben. „Dieser beträgt laut unseren Modellrechnungen 41 Prozent“, sagte Wolff Sagy vergangene Woche beim europaweiten Adiopositas-Kongress in Malaga. Kann die neue, viel wirksamere Generation der Abnehmspritzen das Krebsrisiko sogar noch weiter senken? Es wäre durchaus möglich, so Yael Wolff Sagy.
Reduzierte Suchtgefahr
Semaglutid wurde ursprünglich als Diabetesmedikament entwickelt, und gegen die Zuckerkrankheit wirkt es auch sehr gut. Der danach entwickelte Wirkstoff Tirzepatid dürfte sogar noch besser wirken: Laut Studien reduziert er das Risiko für Menschen mit Prädiabetes, also mit grenzwertig erhöhten Zuckerwerten, um 90 Prozent, tatsächlich Typ-2-Diabetes zu entwickeln.
Heißt weniger Essen auch weniger Alkohol? Viele Anwenderinnen der Spritzen hatten über weniger Lust auf den Feier-abenddrink berichtet, weshalb sich der finnische Mediziner Markku Lähteenvuo dem Thema widmete. Er analysierte die Daten von 227.000 Landsleuten, denen seit 2006 eine Alkoholsucht diagnostiziert worden war. Dann prüfte er, welche Medikamente sie eingenommen hatten und wie oft sie zwischen 2006 und 2023 wegen der Folgen des Alkoholkonsums im Krankenhaus gelandet waren.
Das Ergebnis überraschte nicht nur ihn. 4300 Menschen hatten wegen Diabetes oder Adipositas den Wirkstoff Semaglutid bekommen. 2500 Menschen verwendeten den Wirkstoff Liraglutid (Handelsnamen Victoza und Saxenda). Semaglutid hatte das Risiko, ins Spital zu müssen, um 36 Prozent reduziert, Liraglutid um 28 Prozent. Ein veritabler Durchbruch, denn damit lagen beide Medikamente weit über dem Schnitt von Naltrexon, dem bisher wirksamsten Medikament gegen Alkoholsucht. Es senkt das Risiko eines Krankenhausaufenthalts nur um 14 Prozent. Nun will Lähteenvuo sich auch die Sucht nach anderen Drogen ansehen.
Atemaussetzer im Schlaf können gefährlich werden: Menschen mit obstruktivem Schlafapnoe-Syndrom haben ein zwei- bis dreifach erhöhtes Schlaganfallrisiko, auch ihr Mortalitätsrisiko ist erhöht. Hier hilft die Abnehmspritze mit dem Wirkstoff Tirzepatid ebenfalls, wie zwei Studien nahelegen. Mit dem Gewicht reduzierten sich auch die Atemaussetzer signifikant. Die US-Arzneimittelbehörde FDA reagierte bereits und ließ das Mittel als neue Therapie für Schlafapnoe zu.
Die unerwünschten Nebenwirkungen
Sind die Abnehmspritzen tatsächlich eine Wunderwaffe? Woher kommen die positiven Nebeneffekte? Das weiß bislang niemand genau. „Ein wichtiger Grund dürfte die entzündungshemmende Wirkung der Medikamente sein“, sagt Johanna Brix. Deshalb laufen Studien mit Parkinson- und Alzheimerpatienten, in die Forschende große Hoffnungen setzen.
Und was ist mit den negativen Nebenwirkungen? „Abnehmspritzen sind keine Bachblüten, also ist immer damit zu rechnen. Am häufigsten sind Beschwerden des Magen-Darm-Trakts, also Übelkeit, Erbrechen, Reflux, Durchfall und Verstopfung“, sagt Bianca-Karla Itariu von der Medizinischen Universität Wien (genauer nachzulesen hier). Sie verschwinden in der Regel nach mehreren Wochen. Seltener kommen Bauchspeicheldrüsenentzündungen vor, weshalb eine medizinische Begleitung der Therapie unbedingt ratsam ist. Könnten zudem noch negative Langzeitfolgen auftauchen? „Die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering, weil Sättigungshormone in der Diabetestherapie bereits seit Ende der 2000er-Jahre im Einsatz sind, wenn auch in geringerer Dosierung“, sagt Itariu. Grundsätzlich gelte allerdings: Adipositas und Diabetes unbehandelt zu lassen, ist viel gefährlicher als die Nebenwirkungen.
Medizin für die Reichen
Doch die Medikamente sind teuer, Betroffene müssen monatlich mit 140 bis 541 Euro (je nach Präparat und Dosis) rechnen. Die Pharmakonzerne rechtfertigen den hohen Preis stets mit den Kosten für die Entwicklung der Medikamente. Das allein ist allerdings zu kurz gegriffen; man will auch möglichst viel herausschlagen, bevor die Patente auslaufen oder die Konkurrenz nachzieht. So avancierte der dänische Ozempic-Hersteller Novo Nordisk Anfang 2024 mit mehr als 600 Milliarden Euro Börsenwert zum wertvollsten Unternehmen Europas, um zuletzt auf die Hälfte abzustürzen, weil Mounjaro, die Spritze des US-Herstellers Eli Lilly, noch mehr Kilos purzeln lässt. Aktuell gehört Mounjaro zu den teuersten Abnehm-medikamenten.
Noch sind die Spritzen eine Medizin für die Reichen. Während Ozempic in Österreich für an Diabetes Erkrankte von den Kassen bezahlt wird, werden Menschen mit Adipositas großteils im Stich gelassen. Dabei wächst ihre Zahl stetig. Laut Statistik Austria sind aktuell knapp 35 Prozent der Österreicher über 15 Jahren übergewichtig, 17 Prozent leiden an Adipositas. Wie das Institut für Höhere Studien (IHS) kürzlich berechnete, sind bereits fünf Prozent der Gesundheitsausgaben und eine halbe Million Krankenhaustage auf Folgeerkrankungen von Adipositas zurückzuführen. „Angesichts der Zahlen sehen wir dringenden Handlungsbedarf“, sagt Thomas Czypionka vom IHS. „Die Adipositas-Epidemie darf nicht als Nebensächlichkeit abgetan werden.“